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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.1998

Dem Kaiser war nicht wohl
Eine "kollektive Biographie"

Peter Fritzsche: Germans into Nazis. Harvard University Press. Cambridge (Massachusetts) and London, 1998. 269 Seiten, 16,50 Pfund.

Ein Foto zeigt Adolf Hitler mitten in einer Menge begeisterter Menschen vor der Münchner Feldherrnhalle. Er ist kaum zu sehen. Erst in der Vergrößerung erkennt man den damals Fünfundzwanzigjährigen, den Mund halb geöffnet, mit leuchtenden Augen. Es ist der 2. August 1914, die Kriegserklärung wird öffentlich verlesen. Später schreibt Hitler, diese Stunden seien ihm wie eine Erlösung vorgekommen. Er habe Gott dafür gedankt, daß es ihm vergönnt gewesen sei, in diesen Zeiten zu leben. Der von der Kamera eingefangene Moment in jenen Augusttagen ist Ausgangspunkt einer "kollektiven Biographie", mit der Peter Fritzsche zu erklären sucht, wie aus Deutschen "Nazis" wurden.

Die Kriegsbegeisterung im Juli und August 1914 ist oft beschrieben worden. Hurra-Patriotismus allerorten, begeisterte Gesänge, das Wort des Kaisers, er kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Aber war es tatsächlich so? Am 28. Juli versammelten sich auch Zehntausende von Arbeitern, die singend durch die Straßen Berlins zogen. Sie sangen nicht "Die Wacht am Rhein" und "Heil, dir im Siegerkranz", sondern die "Marseillaise". Der liberale Reichstagsabgeordnete Eugen Schiffer bemerkte den Ernst der Passanten, der sozialistische "Vorwärts" notierte eine Trauerstimmung. Es waren nicht nur Kriegsbegeisterte, die im Juli und August 1914 zusammenströmten, sondern auch Neugierige, Kriegsgegner, ängstliche Mütter.

Aber nicht die Zusammensetzung der Massen, die Menschenansammlungen selbst sind das, was für Fritzsche zählt. Besonders in Berlin sei damals eine nationale Öffentlichkeit mit politischem Willen und Gewicht entstanden. Die Begeisterung sei nicht gesteuert gewesen. Bei früheren Kundgebungen des "offiziellen Patriotismus", wie Fritzsche ihn nennt, dominierten der Kaiser und das Protokoll; die Straßen waren anläßlich der Paraden strikt abgeriegelt. Entsprechend überrascht reagierte die Berliner Polizei angesichts der neuen spontanen Zusammenkünfte. Am 28. Juli wurden Demonstrationen in der Stadtmitte Berlins verboten. Der Kaiser selbst schien sich angesichts der Menschenmenge unwohl zu fühlen. Dabei stand sie keineswegs im Gegensatz zum Herrscher.

Freilich wird die ursprüngliche Begeisterung der Menschen, die es auch während der Wilhelminischen Epoche insbesondere aus Anlaß des Sedantages gab, von Fritzsche unterschätzt. Und es ist fraglich, ob man das "Hin und Her" der Deutschen vor dem Berliner Schloß als erste Schritte auf dem Weg des Volkes zu politischer Souveränität ansehen kann. Allerdings verfestigte sich im Angesicht des Krieges eine nationale Identität. Das gilt erst recht für die vier Kriegsjahre. Es gab keine uniforme Haltung der Deutschen zum Krieg. Aber der Krieg war der nationale Rahmen, "in welchem sie ihre Erfahrungen begriffen und ihren Hoffnungen Stimme verliehen". Bauern, Arbeiter und Angestellte, die Schützengraben und Massensterben erlebt hatten, kamen verändert aus dem Krieg zurück, organisierten sich in Veteranenvereinigungen, in Freikorps, im Stahlhelm.

Die Mobilisierung des öffentlichen Interesses dauerte an. Vor dem Krieg waren die Parteien und das zivile Leben vor allem in der Hand von Honoratioren. Nun beteiligte sich das Volk. Mochten Demokraten, Liberale und Nationale über Deutschlands Zukunft uneinig sein, sie begrüßten es einhellig, das politische Leben nicht nur dem Namen ihrer Partei nach (Deutsche Volkspartei, Deutsch-Nationale Volkspartei) mitgestalten zu können. In keinem anderen Jahr der deutschen Geschichte traten so viele Menschen Organisationen und Interessenvertretungen bei wie in den zwölf Monaten nach der Novemberrevolution. Allein zwischen Anfang Oktober und Ende Dezember verdoppelte sich die Mitgliederzahl der Gewerkschaften auf fast 2,9 Millionen, Ende 1919 waren es bereits 7,3 Millionen.

Fritzsche weist darauf hin, daß die Anziehungskraft des Nationalsozialismus sich nicht nur durch deutschen Militarismus, Nationalismus oder Antisemitismus oder als das Ergebnis wirtschaftlicher Not erklären läßt. Er lehnt historische Kontinuitätsthesen wie "von Bismarck zu Hitler" ab. Sein Ansatz, die Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus nicht in Versailles, sondern in jenen berühmten Augusttagen zu suchen, ist originell. Doch die Kausalität zwischen dieser Aufbruchstimmung und Mobilisierung der Öffentlichkeit und dem Aufstieg des Nationalsozialismus wirkt etwas bemüht, etwa wenn anläßlich des Fackelzuges durch das Brandenburger Tor am 30. Januar 1933 der "Völkische Beobachter" zitiert wird: "Damals wie heute, ein Zeichen nationaler Erhebung."

Warum gerade Hitlers Bewegung von dem neuen Bewußtsein der Massen profitierte, kann Fritzsche nur mit bekannten Antworten erklären: Die Nationalsozialisten seien ideologische Erneuerer gewesen, die auf die Wünsche des Volkes nach politischer Souveränität und sozialer Anerkennung wirksam reagiert hätten.

REINHARD MÜLLER

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