Kurt Gerron war einmal ein Star und ist jetzt nur noch ein Häftling unter Tausenden. Der Nationalsozialismus hat den bekannten Schauspieler von den Berliner Filmateliers ins Ghetto von Theresienstadt getrieben, wo er ein letztes Mal seine Fähigkeiten beweisen soll: Als er den Auftrag bekommt, einen Film zu drehen, der das erniedrigende Dasein der Juden als Paradies schildern soll, sieht er sich vor einer Gewissensentscheidung, bei der sein Leben auf dem Spiel steht. In dieser Lage lässt Gerron sein Leben noch einmal Revue passieren. Charles Lewinsky erzählt die faktenreiche und doch erfundene Biographie des Schauspielers Kurt Gerron, der dem Holocaust zum Opfer fiel - ein literarisch brillanter und berührender Roman.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.11.2011Das diktierte Drehbuch
Charles Lewinsky verwandelt den Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron in eine Romanfigur
„Die Freitzeitgestaltung ist jedem Einzelnen überlassen“ ist einer der unglaublichsten Kommentar-Sätze aus dem Film, der unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt ist. Richtig heißt er nach neueren Erkenntnissen schlicht „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ – kaum weniger zynisch. Dokumentiert wurde in diesem Streifen aus dem Vorzeige-Ghetto, der an elf Tagen im August/September 1944 gedreht wurde, nicht viel. Er war, nach dem gelungenen Propagandaauftritt für das Rote Kreuz vom 23. Juni, ein weiterer Versuch, den halbaufgeklärten neutralen Staaten glückliches Ghettoleben mit Fußball, Swimmingpool und Töpferei vorzuspiegeln. Schilder wie „zum Spielplatz“ und „zur Bibliothek“ konnten weiter verwendet werden.
Regisseur des Films war ein Jude: Kurt Gerron, ein beliebter Unterhaltungskünstler der Berliner zwanziger Jahre, der Mackie Messers Lied in der „Dreigroschenoper“ sang wie kein anderer und als Magier im „Blauen Engel“ Marlene Dietrich zurechtweisen durfte. Als gewichtige Persönlichkeit mit gefräßigen Augen im fleischigen Gesicht, war er für seine zigarrenbewehrten Gangster und Banker berühmt. Aber man darf annehmen, dass es Gerrons umstrittenster Regie-Film war, der Charles Lewinsky dazu brachte, aus seinem Leben einen Roman zu machen. Wenig ist interessanter als der Pakt mit dem Teufel, auch wenn Gerron ihn nicht suchte und schließlich nichts davon hatte: Als die Dreharbeiten zu Ende gingen, kam der Regisseur mit Frau Olga nach Auschwitz, wo beide sofort umgebracht wurden.
Mit „Melnitz“, der autobiographisch getönten, so spannend wie einprägsam über vier Generationen hinweg erzählten Geschichte einer jüdischen Familie in der Schweiz, hatte Lewinsky vor sechs Jahren großen Erfolg. Nach „kleineren“ Büchern will er jetzt mit „Gerron“ offensichtlich an „Melnitz“ anschließen: wieder eine jüdische Geschichte, aber nun mit einer historischen Person im Mittelpunkt, mit der den Autor vergleichsweise wenig verbindet, von der er aber dennoch aus der Ich-Perspektive erzählt.
Im Blick auf Kurt Gerron lassen sich Fragen nach der Möglichkeit richtigen jüdischen Lebens im falschen stellen. Sind die Opfer, historischer Gerechtigkeit entsprechend, sonst tendenziell sakrosankt, ist die Sache hier etwas komplexer. Gerron war, das merkt, wer in Filmen zum Thema Zeitzeugen sprechen hört, schon in Theresienstadt umstritten. Das Engagement, mit dem er sich der Arbeit widmete, gefiel nicht allen.
Klug beginnt Lewinsky mit dem „Auftrag“ des Teufels und Lagerleiters Karl Rahm, den Film zu machen, stellt seinen Gerron damit sofort in die Zwickmühle „ja oder nein“ – die, das ist ein Problem des ersten Teils dieses Buchs, eigentlich keine ist. Es gibt, wie Olga immer wieder sagt, keine Möglichkeit, sich zu wehren. Dass Gerron dennoch über Auswege sinniert, ist verstehbar. Doch die Überlegungen ziehen sich hin, drehen sich naturgemäß im Kreis, ohne dass neue Aspekte der Figur sichtbar würden.
Daneben erzählt Lewinsky Gerrons Lebensgeschichte bis zur Emigration. Überzeugend gelingt ihm das Elternhaus: der assimilierte Vater, den sein Textilhandel mehr interessiert als Religion, sowie eine kalte, auf die Affektkontrolle des gehobenen Bürgertums viel Wert legende Mutter. Im Ersten Weltkrieg verliert der Medizinstudent Gerron durch Granatsplitter die Hoden, was ihn sein Leben lang plagt, es bleibt das Eiserne Kreuz erster Klasse.
Gerrons Star-Dasein in der Weimarer Republik überzeugt wenig. In der ruhigen Memoirenhaftigkeit, in der es erzählt ist, wirkt es kaum glaubwürdig. Kann sich Gerron wegen Rahms Auftrag zerfleischen und gleichzeitig beiläufig über Prominente sinnieren? Und Gerrons späte Selbstgeißelung angesichts seines lange apolitischen Schauspielerlebens wird etwas zu oft wiederholt.
Wirklich interessant wird dieser Teil der Revue von Gerrons Leben, wenn Lewinsky seinen Helden von Promis nicht nur nett erzählen lässt, sondern sie durch ihn in Bedrängnis bringt. Zweimal erlaubt sich Lewinsky einen Trick, der zweimal gelingt: bei Magda Schneider wie bei Heinz Rühmann wird eine Geschichte erzählt, die man gern glaubt, bevor die zweite folgt, die stimmt.
Je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher gewinnt der Roman an Intensität. Vor allem, als sich Gerron entschlossen hat, den Film zu machen, ohne seine Selbstzweifel aufzugeben. Ständig schwankt er zwischen dem im niederländischen Übergangslager Westerbork unter dem „kultivierten“ KZ-Leiter Gemmeker begonnenen, irrwitzigen Versuch, sein Leben nicht zu ändern und Unterhaltung zu bieten – und der Verzweiflung darüber, dass das nicht geht. Gerron kann die Augen seiner Statisten, alles Ghettobewohner, nicht glücklicher machen, als sie sind. Das sieht man dem Film heute noch an. Bekannte werden nach Auschwitz geschickt, was auch Gerron peinigt, obwohl er nur ahnen kann, was mit ihnen geschieht.
Bekanntlich war ja Theresienstadt nicht mit Auschwitz vergleichbar. Man trug dort zivil. Anschaulich gelingt Lewinsky das Prominentenleben im Ghetto. Manche im weitesten Sinn bürgerlichen Wohnungen mussten für den Film gar nicht gestellt werden. Gerron lebte mit Olga, einer in ihrer unanfechtbaren Liebe sehr eindrücklichen Figur, allein in einem ehemaligen Bordellzimmer. Doch je interessanter, aufgewühlter und verwirrter Lewinsky Gerron darstellt, fragt man sich auch, ob die Kombination aus Ich-Perspektive und historischer Figur dem Buch guttut. Man merkt, dass Lewinsky alle Meinungen zu Gerron in seiner Figur zusammenführen will. Aber hat der reale Gerron es wirklich verdient, dass Lewinsky ihm öfter niederträchtige Gedanken in den Mund legt? „Es ist wirklich nicht richtig, dass sie Frau Olitzky auf Transport geschickt haben. Ohne Sekretärin kann man eine solche Arbeit gar nicht richtig machen.“
Woher nimmt Lewinsky den Mut, solche Innenansichten einer Person namentlich zuzuschreiben, die sich nicht mehr wehren kann? Der Klappentext meint, „Gerron“ sei eine „erfundene Lebensgeschichte“, aber um das zu beglaubigen, hätte es vielleicht der Abkürzung G. bedurft – oder eines anderen, deutlicheren Signals der Distanzierung.
Dass Lewinsky ein guter Erzähler ist, wird davon nicht berührt. Es sind diesmal eher die Randgeschichten, die sich einprägen. Etwa die des Prager Universitäts-Philosophen Turkavka, dem Gerron, als er von seinem Beruf erfährt, sofort anbietet, sich für ihn einzusetzen. „Sie könnten Vorträge halten, für die Freitzeitgestaltung. Ich lege gerne bei Dr. Henschel ein Wort für sie ein.“ Doch Turkavka besteht darauf, seinen Toiletten-Job weiterzumachen. Er habe um diese Beschäftigung gebeten. Wie Gerron selbst sei er nicht mehr, was er war.
HANS-PETER KUNISCH
CHARLES LEWINSKY: Gerron. Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011. 540 Seiten, 24,90 Euro.
Keiner sang wie er den
Mackie Messer, als Magier im
„Blauen Engel“ ist er unvergesslich
Die Kombination von
Ich-Erzählung und historischer
Figur hat etwas Fragwürdiges
Ein Meister der heimlichen und unheimlichen Gemütlichkeit und grenzenlosen Jovialität: Kurt Gerron, hier als Bankier Binder in der Wirtschaftskrisen-Komödie „Man braucht kein Geld“ (1931) unter der Regie von Carl Boese Foto: Scherl
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Charles Lewinsky verwandelt den Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron in eine Romanfigur
„Die Freitzeitgestaltung ist jedem Einzelnen überlassen“ ist einer der unglaublichsten Kommentar-Sätze aus dem Film, der unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt ist. Richtig heißt er nach neueren Erkenntnissen schlicht „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ – kaum weniger zynisch. Dokumentiert wurde in diesem Streifen aus dem Vorzeige-Ghetto, der an elf Tagen im August/September 1944 gedreht wurde, nicht viel. Er war, nach dem gelungenen Propagandaauftritt für das Rote Kreuz vom 23. Juni, ein weiterer Versuch, den halbaufgeklärten neutralen Staaten glückliches Ghettoleben mit Fußball, Swimmingpool und Töpferei vorzuspiegeln. Schilder wie „zum Spielplatz“ und „zur Bibliothek“ konnten weiter verwendet werden.
Regisseur des Films war ein Jude: Kurt Gerron, ein beliebter Unterhaltungskünstler der Berliner zwanziger Jahre, der Mackie Messers Lied in der „Dreigroschenoper“ sang wie kein anderer und als Magier im „Blauen Engel“ Marlene Dietrich zurechtweisen durfte. Als gewichtige Persönlichkeit mit gefräßigen Augen im fleischigen Gesicht, war er für seine zigarrenbewehrten Gangster und Banker berühmt. Aber man darf annehmen, dass es Gerrons umstrittenster Regie-Film war, der Charles Lewinsky dazu brachte, aus seinem Leben einen Roman zu machen. Wenig ist interessanter als der Pakt mit dem Teufel, auch wenn Gerron ihn nicht suchte und schließlich nichts davon hatte: Als die Dreharbeiten zu Ende gingen, kam der Regisseur mit Frau Olga nach Auschwitz, wo beide sofort umgebracht wurden.
Mit „Melnitz“, der autobiographisch getönten, so spannend wie einprägsam über vier Generationen hinweg erzählten Geschichte einer jüdischen Familie in der Schweiz, hatte Lewinsky vor sechs Jahren großen Erfolg. Nach „kleineren“ Büchern will er jetzt mit „Gerron“ offensichtlich an „Melnitz“ anschließen: wieder eine jüdische Geschichte, aber nun mit einer historischen Person im Mittelpunkt, mit der den Autor vergleichsweise wenig verbindet, von der er aber dennoch aus der Ich-Perspektive erzählt.
Im Blick auf Kurt Gerron lassen sich Fragen nach der Möglichkeit richtigen jüdischen Lebens im falschen stellen. Sind die Opfer, historischer Gerechtigkeit entsprechend, sonst tendenziell sakrosankt, ist die Sache hier etwas komplexer. Gerron war, das merkt, wer in Filmen zum Thema Zeitzeugen sprechen hört, schon in Theresienstadt umstritten. Das Engagement, mit dem er sich der Arbeit widmete, gefiel nicht allen.
Klug beginnt Lewinsky mit dem „Auftrag“ des Teufels und Lagerleiters Karl Rahm, den Film zu machen, stellt seinen Gerron damit sofort in die Zwickmühle „ja oder nein“ – die, das ist ein Problem des ersten Teils dieses Buchs, eigentlich keine ist. Es gibt, wie Olga immer wieder sagt, keine Möglichkeit, sich zu wehren. Dass Gerron dennoch über Auswege sinniert, ist verstehbar. Doch die Überlegungen ziehen sich hin, drehen sich naturgemäß im Kreis, ohne dass neue Aspekte der Figur sichtbar würden.
Daneben erzählt Lewinsky Gerrons Lebensgeschichte bis zur Emigration. Überzeugend gelingt ihm das Elternhaus: der assimilierte Vater, den sein Textilhandel mehr interessiert als Religion, sowie eine kalte, auf die Affektkontrolle des gehobenen Bürgertums viel Wert legende Mutter. Im Ersten Weltkrieg verliert der Medizinstudent Gerron durch Granatsplitter die Hoden, was ihn sein Leben lang plagt, es bleibt das Eiserne Kreuz erster Klasse.
Gerrons Star-Dasein in der Weimarer Republik überzeugt wenig. In der ruhigen Memoirenhaftigkeit, in der es erzählt ist, wirkt es kaum glaubwürdig. Kann sich Gerron wegen Rahms Auftrag zerfleischen und gleichzeitig beiläufig über Prominente sinnieren? Und Gerrons späte Selbstgeißelung angesichts seines lange apolitischen Schauspielerlebens wird etwas zu oft wiederholt.
Wirklich interessant wird dieser Teil der Revue von Gerrons Leben, wenn Lewinsky seinen Helden von Promis nicht nur nett erzählen lässt, sondern sie durch ihn in Bedrängnis bringt. Zweimal erlaubt sich Lewinsky einen Trick, der zweimal gelingt: bei Magda Schneider wie bei Heinz Rühmann wird eine Geschichte erzählt, die man gern glaubt, bevor die zweite folgt, die stimmt.
Je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher gewinnt der Roman an Intensität. Vor allem, als sich Gerron entschlossen hat, den Film zu machen, ohne seine Selbstzweifel aufzugeben. Ständig schwankt er zwischen dem im niederländischen Übergangslager Westerbork unter dem „kultivierten“ KZ-Leiter Gemmeker begonnenen, irrwitzigen Versuch, sein Leben nicht zu ändern und Unterhaltung zu bieten – und der Verzweiflung darüber, dass das nicht geht. Gerron kann die Augen seiner Statisten, alles Ghettobewohner, nicht glücklicher machen, als sie sind. Das sieht man dem Film heute noch an. Bekannte werden nach Auschwitz geschickt, was auch Gerron peinigt, obwohl er nur ahnen kann, was mit ihnen geschieht.
Bekanntlich war ja Theresienstadt nicht mit Auschwitz vergleichbar. Man trug dort zivil. Anschaulich gelingt Lewinsky das Prominentenleben im Ghetto. Manche im weitesten Sinn bürgerlichen Wohnungen mussten für den Film gar nicht gestellt werden. Gerron lebte mit Olga, einer in ihrer unanfechtbaren Liebe sehr eindrücklichen Figur, allein in einem ehemaligen Bordellzimmer. Doch je interessanter, aufgewühlter und verwirrter Lewinsky Gerron darstellt, fragt man sich auch, ob die Kombination aus Ich-Perspektive und historischer Figur dem Buch guttut. Man merkt, dass Lewinsky alle Meinungen zu Gerron in seiner Figur zusammenführen will. Aber hat der reale Gerron es wirklich verdient, dass Lewinsky ihm öfter niederträchtige Gedanken in den Mund legt? „Es ist wirklich nicht richtig, dass sie Frau Olitzky auf Transport geschickt haben. Ohne Sekretärin kann man eine solche Arbeit gar nicht richtig machen.“
Woher nimmt Lewinsky den Mut, solche Innenansichten einer Person namentlich zuzuschreiben, die sich nicht mehr wehren kann? Der Klappentext meint, „Gerron“ sei eine „erfundene Lebensgeschichte“, aber um das zu beglaubigen, hätte es vielleicht der Abkürzung G. bedurft – oder eines anderen, deutlicheren Signals der Distanzierung.
Dass Lewinsky ein guter Erzähler ist, wird davon nicht berührt. Es sind diesmal eher die Randgeschichten, die sich einprägen. Etwa die des Prager Universitäts-Philosophen Turkavka, dem Gerron, als er von seinem Beruf erfährt, sofort anbietet, sich für ihn einzusetzen. „Sie könnten Vorträge halten, für die Freitzeitgestaltung. Ich lege gerne bei Dr. Henschel ein Wort für sie ein.“ Doch Turkavka besteht darauf, seinen Toiletten-Job weiterzumachen. Er habe um diese Beschäftigung gebeten. Wie Gerron selbst sei er nicht mehr, was er war.
HANS-PETER KUNISCH
CHARLES LEWINSKY: Gerron. Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011. 540 Seiten, 24,90 Euro.
Keiner sang wie er den
Mackie Messer, als Magier im
„Blauen Engel“ ist er unvergesslich
Die Kombination von
Ich-Erzählung und historischer
Figur hat etwas Fragwürdiges
Ein Meister der heimlichen und unheimlichen Gemütlichkeit und grenzenlosen Jovialität: Kurt Gerron, hier als Bankier Binder in der Wirtschaftskrisen-Komödie „Man braucht kein Geld“ (1931) unter der Regie von Carl Boese Foto: Scherl
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011Ein toter Held ist auch nur eine Leiche
Großes Kino: Charles Lewinskys Roman über den jüdischen Ufa-Star Kurt Gerron.
Von Sandra Richter
Kurt Gerron ist kein guter Mensch, kein Heinz Rühmann, sondern bloß eine "Rampensau mit Talent". Er lebt in der Welt der Revuen und Kabaretts, spielt unter Max Reinhardt. Als Moritatensänger in Brechts "Dreigroschenoper" von 1928, und als Zauberkünstler Kiepert in "Der blaue Engel" des Jahres 1930 feiert er seine größten Erfolge. Mit seinem "Kumpel" Rühmann steht er in der Filmoperette "Die drei von der Trankstelle" vor der Kamera und begleitet ihn fortan als Regisseur. Gleich ob vor oder hinter der Kamera - Gerron liefert gute Unterhaltung.
Sein Sujet sind große Phantasien. Davon hat er reichlich. Schon als Kind stellte er sich selbst als Held vor, der den älteren Knaben, die ihn als "Judski" verspotten, die Polizei auf den Hals hetzt. Doch der kleine Kurt rannte nach Hause. Gerrons Phantasieerzählungen stimmen nie; er erzählt kontrafaktisch. Charles Lewinsky nutzt diese kontrafaktischen Erzählungen als Technik, um das dramatische Schicksal Gerrons zu schildern.
Er wird als Sohn der jüdischen Kaufmannsfamilie Gerson in Berlin geboren, will Arzt werden, wird jedoch im Ersten Weltkrieg verletzt und leidet fortan unter einer Drüsenfunktionsstörung, die zu erheblichem Übergewicht führte. Er verlegt sich auf Bühne und Film. Wegen seines Äußeren muss er regelmäßig die Rolle des Bösewichts spielen. Gerron und die übrige Ufa-Schickeria halten die NSDAP, die "echten Bösewichter", für einen "Trachtenverein" und vertrauen auf Besserung der Verhältnisse. Nur wenige Kollegen, Marlene Dietrich, Brecht und Peter Lorre, der wie Gerron auf undurchsichtige Rollen abonniert ist, wagen den Sprung nach Hollywood. Rühmann reüssiert im nationalsozialistischen Deutschland. Gerron hingegen wird von der NS-Propaganda als Prototyp des hinterhältigen Juden präsentiert.
Er flieht zunächst mit seiner Familie nach Paris und Amsterdam, wo er an der "Schouwbourg" spielt, bis das Ensemble mit Familienangehörigen zunächst in das niederländische Lager Westerbork und dann nach Theresienstadt (und schließlich Auschwitz) deportiert wird. Peter Lorre hatte erfolglos versucht, Gerron nach Amerika zu locken. Auf Heinz Rühmanns Hilfe hingegen hoffte Gerron vergeblich. Rühmann war eben kein guter Mensch, sondern ein NS-Opportunist gewesen, der in einer Rettung des jüdischen "Kumpels" Gefahr für seine Karriere witterte.
Paradoxerweise entpuppt sich in Lewinskys Roman ausgerechnet Gerron als guter Mensch: als die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Er folgt einem Motto mit Bonmot-Qualität: "Ein toter Held ist auch nur eine Leiche." Im Lager stärkt er sein Selbstwertgefühl durch Branchenklatsch: Brecht, der "Luxusproletarier" gilt ihm als karrieresüchtiger Weichling, der die besten Passagen seiner "Dreigroschenoper" von Klabund geklaut hat. Auch der "blaue Engel", Gerrons Freundin Marlene, tat alles für den Ruhm, kaschierte ein Bäuchlein, gab sich lesbisch.
Sein Leben meint Gerron durch ein propagandistisches Filmprojekt zu schützen, das unter dem Titel "Theresienstadt" (oder euphemistisch: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt") in die Geschichte eingegangen ist. Lagerkommandant Karl Rahm betraut Gerron mit der Regie - unter strikter SS-Kontrolle. Gerron liefert. Herauskommt eine Pseudodokumentation über das Leben der jüdischen Insassen in Theresienstadt. Sie ist an die Adresse neutraler Staaten, des Vatikans und des Roten Kreuzes gerichtet und soll die Judenvernichtung verschleiern.
Gerron ging durch den Film als NS-Kollaborateur in die Geschichte ein. Lewinskys Buch nimmt sein moralisches Dilemma zum Anlass, über ihn zu erzählen. Er überdeckt das Dilemma jedoch durch Faszination für den Antihelden Gerron. So stellt sich der Filmdreh perfiderweise als kurzzeitiges Glück der Schauspieler heraus: als eine Chance, dem tristen Lageralltag zu entfliehen. Hier kehrt sich die wirkliche Welt um. Das Gelächter junger Mädchen, das den professionellen Ufa-Regisseur Gerron beim Dreh gestört hätte, erscheint ihm nun als reine Freude. Das Lagerglück aber ist nur von kurzer Dauer: Im Jahr 1944 wurden Gerron und seine Frau Olga in Auschwitz ermordet. Gerrons Theresienstadt-Geschichte ist wichtig, ein Störfaktor für allzu einlinige Opfer-und-Täter-Geschichten. Doch schreibt Lewinsky diesen Störfaktor einfach weg. Gerrons Dilemma wird zur Nebensache einer schillernden Biographie. Ihre Quellen bleiben ebenso im Dunkeln wie die sarkastische, düstere Kultur Theresienstadts. Der Mitinsasse Leo Baeck kommt vor, aber was ist mit H. G. Adler und seinem "Theresienstadt"-Buch?
Bei einem so belasteten Thema wie diesem fällt es schwer, allein auf die Erzählung des später Geborenen Lewinsky zu vertrauen, die scheinbar einnehmend aus der fiktiven Ich-Perspektive Gerrons verfasst ist. "Gerron" erweist sich deshalb als spannender, aber bisweilen seichter und historisch intransparenter Roman. Lewinsky hat großes Kino im Sinn: Hollywood, nicht Theresienstadt.
Charles Lewinsky: "Gerron". Roman.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011. 540 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großes Kino: Charles Lewinskys Roman über den jüdischen Ufa-Star Kurt Gerron.
Von Sandra Richter
Kurt Gerron ist kein guter Mensch, kein Heinz Rühmann, sondern bloß eine "Rampensau mit Talent". Er lebt in der Welt der Revuen und Kabaretts, spielt unter Max Reinhardt. Als Moritatensänger in Brechts "Dreigroschenoper" von 1928, und als Zauberkünstler Kiepert in "Der blaue Engel" des Jahres 1930 feiert er seine größten Erfolge. Mit seinem "Kumpel" Rühmann steht er in der Filmoperette "Die drei von der Trankstelle" vor der Kamera und begleitet ihn fortan als Regisseur. Gleich ob vor oder hinter der Kamera - Gerron liefert gute Unterhaltung.
Sein Sujet sind große Phantasien. Davon hat er reichlich. Schon als Kind stellte er sich selbst als Held vor, der den älteren Knaben, die ihn als "Judski" verspotten, die Polizei auf den Hals hetzt. Doch der kleine Kurt rannte nach Hause. Gerrons Phantasieerzählungen stimmen nie; er erzählt kontrafaktisch. Charles Lewinsky nutzt diese kontrafaktischen Erzählungen als Technik, um das dramatische Schicksal Gerrons zu schildern.
Er wird als Sohn der jüdischen Kaufmannsfamilie Gerson in Berlin geboren, will Arzt werden, wird jedoch im Ersten Weltkrieg verletzt und leidet fortan unter einer Drüsenfunktionsstörung, die zu erheblichem Übergewicht führte. Er verlegt sich auf Bühne und Film. Wegen seines Äußeren muss er regelmäßig die Rolle des Bösewichts spielen. Gerron und die übrige Ufa-Schickeria halten die NSDAP, die "echten Bösewichter", für einen "Trachtenverein" und vertrauen auf Besserung der Verhältnisse. Nur wenige Kollegen, Marlene Dietrich, Brecht und Peter Lorre, der wie Gerron auf undurchsichtige Rollen abonniert ist, wagen den Sprung nach Hollywood. Rühmann reüssiert im nationalsozialistischen Deutschland. Gerron hingegen wird von der NS-Propaganda als Prototyp des hinterhältigen Juden präsentiert.
Er flieht zunächst mit seiner Familie nach Paris und Amsterdam, wo er an der "Schouwbourg" spielt, bis das Ensemble mit Familienangehörigen zunächst in das niederländische Lager Westerbork und dann nach Theresienstadt (und schließlich Auschwitz) deportiert wird. Peter Lorre hatte erfolglos versucht, Gerron nach Amerika zu locken. Auf Heinz Rühmanns Hilfe hingegen hoffte Gerron vergeblich. Rühmann war eben kein guter Mensch, sondern ein NS-Opportunist gewesen, der in einer Rettung des jüdischen "Kumpels" Gefahr für seine Karriere witterte.
Paradoxerweise entpuppt sich in Lewinskys Roman ausgerechnet Gerron als guter Mensch: als die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Er folgt einem Motto mit Bonmot-Qualität: "Ein toter Held ist auch nur eine Leiche." Im Lager stärkt er sein Selbstwertgefühl durch Branchenklatsch: Brecht, der "Luxusproletarier" gilt ihm als karrieresüchtiger Weichling, der die besten Passagen seiner "Dreigroschenoper" von Klabund geklaut hat. Auch der "blaue Engel", Gerrons Freundin Marlene, tat alles für den Ruhm, kaschierte ein Bäuchlein, gab sich lesbisch.
Sein Leben meint Gerron durch ein propagandistisches Filmprojekt zu schützen, das unter dem Titel "Theresienstadt" (oder euphemistisch: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt") in die Geschichte eingegangen ist. Lagerkommandant Karl Rahm betraut Gerron mit der Regie - unter strikter SS-Kontrolle. Gerron liefert. Herauskommt eine Pseudodokumentation über das Leben der jüdischen Insassen in Theresienstadt. Sie ist an die Adresse neutraler Staaten, des Vatikans und des Roten Kreuzes gerichtet und soll die Judenvernichtung verschleiern.
Gerron ging durch den Film als NS-Kollaborateur in die Geschichte ein. Lewinskys Buch nimmt sein moralisches Dilemma zum Anlass, über ihn zu erzählen. Er überdeckt das Dilemma jedoch durch Faszination für den Antihelden Gerron. So stellt sich der Filmdreh perfiderweise als kurzzeitiges Glück der Schauspieler heraus: als eine Chance, dem tristen Lageralltag zu entfliehen. Hier kehrt sich die wirkliche Welt um. Das Gelächter junger Mädchen, das den professionellen Ufa-Regisseur Gerron beim Dreh gestört hätte, erscheint ihm nun als reine Freude. Das Lagerglück aber ist nur von kurzer Dauer: Im Jahr 1944 wurden Gerron und seine Frau Olga in Auschwitz ermordet. Gerrons Theresienstadt-Geschichte ist wichtig, ein Störfaktor für allzu einlinige Opfer-und-Täter-Geschichten. Doch schreibt Lewinsky diesen Störfaktor einfach weg. Gerrons Dilemma wird zur Nebensache einer schillernden Biographie. Ihre Quellen bleiben ebenso im Dunkeln wie die sarkastische, düstere Kultur Theresienstadts. Der Mitinsasse Leo Baeck kommt vor, aber was ist mit H. G. Adler und seinem "Theresienstadt"-Buch?
Bei einem so belasteten Thema wie diesem fällt es schwer, allein auf die Erzählung des später Geborenen Lewinsky zu vertrauen, die scheinbar einnehmend aus der fiktiven Ich-Perspektive Gerrons verfasst ist. "Gerron" erweist sich deshalb als spannender, aber bisweilen seichter und historisch intransparenter Roman. Lewinsky hat großes Kino im Sinn: Hollywood, nicht Theresienstadt.
Charles Lewinsky: "Gerron". Roman.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2011. 540 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Kurt Gerron war ein jüdischer Schauspieler, der in Auschwitz ermordet wurde. Selbstverständlich kann man über diesen Mann einen Roman schreiben, egal, wer man ist und wie alt man ist. Aber dann sollte die Sache doch einen echten literarischen Anspruch haben. Und den sieht Rezensent Tobias Lehmkuhl hier nirgends. Die Sprache sei voller Klischees und der Aufbau des Romans erinnere ihn an die Technik der Fernsehserien. Lewinsky hat Gerrons Schicksal nur benutzt, um seinen Trivialroman mit Bedeutung zu parfümieren. Die "eigene Dürftigkeit", so der abgestoßene Rezensent, konnte er nicht kaschieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Zweimal erlaubt sich Lewinsky einen Trick, der zweimal gelingt: bei Magda Schneider wie bei Heinz Rühmann wird eine Geschichte erzählt, die man gern glaubt, bevor die zweite folgt, die stimmt.Je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher gewinnt der Roman an Intensität. Vor allem, als sich Gerron entschlossen hat, den Film zu machen, ohne seine Selbstzweifel aufzugeben. Gerron kann die Augen seiner Statisten, alles Ghettobewohner, nicht glücklicher machen, als sie sind." Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 07.11.11 "Lewinsky gelingt es einmal mehr, einem die historischen Ereignisse so nahezubringen, dass man meint, wirklich verstehen zu können." Johanna Lier, Wochenzeitung WOZ, 22.09.11 "Ein wahres literarisches Wunder. Lewinskys Erzählung ist von seltenem sprachlichem Glanz, von lebendigstem Reichtum und von verblüffender erzähltechnischer Virtuosität. Lewinsky hat sich und seinen Melnitz mit dem Gerron übertroffen." Andreas Isenschmid, NZZ am Sonntag, 21.08.11 "Ergreifend und gut recherchiert - und da, wo es nichts zu recherchieren gab, glaubhaft erfunden." Felicitas von Twickel, ZDF Aspekte, 13.08.11 "Eine Liebesgeschichte. Ohne Frage. Von Charles Lewinsky meisterhaft erzählt, als sei er Kurt Gerron persönlich, jener Komiker der Banalität, der kurz vor dem Abgrund steht, dann aber über sich hinauswächst." Ilja Richter, Die Welt, 27.08.11 "Ein fesselnder Roman. Voll kessem Witz und lässiger Schnoddrigkeit, voll Berliner Schnauze und melancholischer Klugheit." Alexander Sury, Tages Anzeiger, 12.09.11 "Dieser fantastische Roman ist ein Erlebnis." Buddy Elias, DRS 1, 26.08.11 "Ein ganz direkter Ton, der einen sofort in Bann zieht." Hans-Ulrich Probst, DRS 2, 04.09.11 ""Gerron" ist ein Geschichtenschatz." Astrid Reinberger, NDR Fernsehen, Kulturjournal, 14.11.11. "Lewinsky hat die wenigen nicht verloren gegangenen Fakten über viele Jahre zusammengesucht und dann eine kluge, weil radikale poetische Lösung gewählt: Er erfindet Kurt Gerron, indem er die ganze Geschichte in seinen Kopf verlagert... Gerron dreht den Film im August/September 1944. Warum? Das war die Frage, die Lewinsky umgetrieben hat. Sein Roman ist seine Antwort, und das Erschütterndste an ihr ist gerade die unsentimentale Leichtfüßigkeit, mit der er sie aufgeschrieben hat." Pieke Biermann, Deutschlandradio, 04.11.11 "Ein wunderbares, berührendes, kluges Buch." Katja Weise, Norddeutscher Rundfunk, 04.11.11