"Ein zeitloser Liebesroman und ein hinreißend schöner." (Elke Heidenreich im WDR)
Die Vorgeschichte zu Shakespeares Hamlet: Gertrude, Tochter König Roriks, will den Mann nicht heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hat. Doch die Staatsräson siegt. Der Schwager umwirbt sie, und in einer der schönsten Verführungsszenen, die Updike je geschrieben hat, erliegt sie seinem Begehren. Als der König Verdacht schöpft, bringen sie ihn gemeinsam ums Leben. Gertrude und Claudius feiern Hochzeit in Moll.
Die Vorgeschichte zu Shakespeares Hamlet: Gertrude, Tochter König Roriks, will den Mann nicht heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hat. Doch die Staatsräson siegt. Der Schwager umwirbt sie, und in einer der schönsten Verführungsszenen, die Updike je geschrieben hat, erliegt sie seinem Begehren. Als der König Verdacht schöpft, bringen sie ihn gemeinsam ums Leben. Gertrude und Claudius feiern Hochzeit in Moll.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001So scheint die Liebe Liebenden das Heil
An diesem Tage lesen wir nicht weiter: John Updike verführt dazu, Hamlet aus der Weltliteratur wegzudenken / Von Patrick Bahners
Vor zwölf Jahren rezensierte John Updike den Roman "Höchste Zeit" von Harry Mulisch. Der Held ist ein Schauspieler, der die Hauptrolle in einem zeitgenössischen Stück spielt, das von einer Aufführung von Shakespeares "Sturm" handelt. Zu deutliche Anspielungen auf Prosperos zu berühmtes Wort, wir seien der Stoff, aus dem die Träume sind, bemängelte der kritische Kollege. Für einen europäischen Schriftsteller sei es gewiß ein Abenteuer, sich auf eine Bearbeitung des "Sturms" einzulassen, aber im englischen Wortlaut klängen die bekannten Zitate leider abgedroschen. Ein Abenteurer, der sich alles zutraut, muß der englischsprachige Schriftsteller sein, der den Stoff seiner Träume dem Shakespeare-Drama entnimmt, aus dem so viele Perlen in den Zitatenschatz eingegangen sind, als wär's ein Stück der Bibel.
"Gertrude und Claudius", der neunzehnte Roman von John Updike, erzählt die Geschichte von Hamlet. Auf dem Papier nur die Vorgeschichte. Der Roman endet mit dem Befehl des Claudius, die Kanonen möchten dem Himmel davon Nachricht geben, daß Hamlet, des Königs Neffe, Stiefsohn und soeben designierter Nachfolger, Gehorsam gelobt habe und nicht zum Studium nach Wittenberg zurückkehren werde. Bei Shakespeare, in der zweiten Szene des ersten Aktes, folgt der erste Monolog des Prinzen. Updike ergänzt Shakespeares Erzählung, geht auf die Quellen zurück, auf die dänischen Geschichten des Saxo Grammaticus, verfaßt am Ende des zwölften Jahrhunderts, und auf die tragischen Historien des François de Belleforest, gedruckt 1576.
Der neue Chronist nimmt sich die dichterische Freiheit, das eine oder andere Rätsel zu lösen, das der Forschung Anlaß für ewiges Grübeln ist, weil die Hypothese, es könnte ein Versehen des Autors vorliegen, der Prämisse der organischen Einheit des Kunstwerks widerspricht. So hat man es seit jeher als seltsam empfunden, daß Hamlet nach seinem ersten Monolog seinen Freund Horatio willkommen heißt, obwohl dieser sich schon seit der Beerdigung von Hamlets Vater vor zwei Monaten am Hof aufhält. Updikes Lösung: So spät nahm Hamlet seinen Platz in der Trauergemeinde ein und so früh reiste er wieder nach Wittenberg ab, daß sein alter Freund nicht einmal Gelegenheit hatte, ihn zu begrüßen.
In jeder Vorgeschichte wird die Geschichte schon miterzählt: Hamlet ist noch nicht da und steht deshalb im Zentrum des Interesses. Der Klage von Hamlets Vater, der in diesem Punkt nicht anders denkt als später sein Bruder, Mörder und Nachfolger, der Prinz sei "skandalös abwesend", läßt sich ein metafiktionaler Sinn abgewinnen, ein Selbstkommentar des Textes. Es ist eigentlich unerhört, daß uns Updike einen Hamletroman vorsetzt, in dem Hamlet nicht vorkommt: "Hamlet ohne den Prinzen", das ist im Englischen doch eine sprichwörtliche Wendung für "Thema verfehlt".
Im Stück stellt Hamlet seinem Onkel eine Falle: Der Mörder soll sich zu erkennen geben, indem er mit dem lebenden Bild seiner Tat konfrontiert wird. Hamlet schlägt der reisenden Schauspieltruppe das passende Stück vor. Die Schauspieler haben es im Repertoire, müssen es nicht erst einstudieren. Die Pantomime, die der Aufführung vorausgeht, bietet noch einmal eine Kurzfassung desselben Stoffes - als erschöpfte sich die dramatische Literatur in Präfigurationen der Geschichte von Gertrude und Claudius. Das Spiel im Spiel geht restlos auf: Alles ist Verweis. Das Spiel vor dem Spiel, das Updike sich ausgedacht hat, reizt den detektivischen Sinn des Lesers: Er kennt die Geschichte, also findet er überall Vorausdeutungen. Und doch verschwinden die Personen nicht in ihren Rollen.
Von Gertrude heißt es einmal, es bereite ihr Mühe, sich auf einen gewissen "Strang des Komplotts" zu konzentrieren. Sie hört nicht zu, als Polonius Zweifel daran äußert, ob Gertrudes Sohn seine Tochter liebe; ihr genügt, daß die Aussicht auf die Verbindung von Hamlet und Ophelia den Kämmerer dazu bewegt, der Königin seinen Turm im Wald als Liebesnest zu überlassen. Das ist dramatische Ironie von witziger Überdeutlichkeit, die man Ironie der Ironie nennen könnte: Der "plot", dessen "thread" der Ehebrecherin aus den Fingern gleitet, ist nicht bloß die Verschwörung, sondern zugleich die Handlung selbst, in deren weiterem Verlauf sie Blumen auf Ophelias Grab streuen wird. Aber während der Leser noch den Kunstverstand des Autors bewundert, der alle Fäden in der Hand behält, hat er sich schon verstricken lassen in eine Handlung, deren Sinn nicht ausgeschöpft wird von ihrem bösen Ausgang jenseits der Grenzen des Romans.
Der Skandal der Abwesenheit Hamlets liegt darin, daß sie den Leser auf den Gedanken bringen könnte, die Geschichte von Gertrude und Claudius sei mehr als eine Vorgeschichte. Aber wie soll der Leser seinen horror vacui besänftigen? Wie bringt er den Tick unter Kontrolle, den vertrauten Helden zu beschwören, den Geist des Abwesenden herbeizuzitieren? Hat er nicht selbst in Claudius, dem Grübler und Wanderer, einen Schattenmann vor sich, den Updike nach Hamlets Bild modelliert hat? Der doppelte Doppelgänger vertritt den alten Hamlet im Bett der Königin und besetzt den Platz des jungen Hamlet auf dem Thron des Königs. Das Gegenmodell zu dieser vom Tauschprinzip regierten Hermeneutik, die an die Stelle des realen Charakters die ideale Gestalt setzt, verkörpert Gertrude. Zu ihren Kindheitserfahrungen gehört, wie schwer es ist, in Gegenwart eines Mannes, des Vaters oder des Gatten, an einen anderen Mann zu denken, den Verlobten oder den Geliebten. Es ist ein skandalträchtiger Zug des Romans, daß seine Heldin, die man gerne emanzipiert nennen würde, ihre Freiheit verwirklicht, indem sie sich der natürlichen Autorität fügt, sich buchstäblich übermannen läßt.
Daß ihr Leben im Einklang mit den Rhythmen der Natur seinen Lauf nimmt, unterscheidet sie von ihrem Sohn, und zwar von Anfang, vom Moment der Empfängnis, an. "Beim ersten Tauwetter im Frühling blieb ihr monatlicher Blutfluß aus." Hamlets erstes Wort im ersten Monolog ist der Wunsch, sein allzu festes Fleisch möge schmelzen, zergehen und in einen Tau sich auflösen, der Traum von der Wiedergeburt als Geistwesen. Die Mutter, in deren Leib sein Leib einmal herangewachsen ist, kann und will nicht aus ihrer Haut.
Der Haß auf die Mutter artikuliert sich im Drama in der Gleichsetzung von Weiblichkeit und Leiblichkeit: Die Schwachheit des Fleisches malt der Sohn in abstoßendem Detailreichtum aus. T. S. Eliot hat Hamlet für unglaubwürdig erklärt: Er werde "beherrscht von einem Gefühl, das sich nicht ausdrücken läßt, weil es in keinem Verhältnis steht zu den Tatsachen, wie sie am Tage liegen". Updike hatte einen brillanten Einfall: Er rechtfertigt Gertrude und Claudius, indem er Wort für Wort beweist, daß Hamlets Anklagen den Tatsachen entsprechen. Die Liebenden leben, wie Hamlet der Mutter in ihrem Schlafzimmer ins Gesicht schleudert, "im Schweiß und Brodem eines eklen Betts", paaren sich "over the nasty sty", über dem garstigen Koben. Der Roman berichtet, Gertrude hätte sich für Claudius "in warmen Morast gelegt, selbst in den Morast des Schweinekobens, um in die Ekstase zu geraten, die sie in seiner animalischen Liebe fand".
Die meisten Romane Updikes erörtern im Licht der Paarungssitten die Frage, welche Moral nach dem Christentum kommt. Sein historischer Roman versetzt uns nun in eine Gesellschaft am Rande Europas, die gerade erst christianisiert worden ist und sich schon wieder der Säkularisation ausgesetzt sieht. Durch versprengte anachronistische Vokabeln führt Updike eine Epochenüberblendung herbei: Die Pointe ist, daß die neue Religion sofort "konventionell" geworden ist, so äußerlich wie der amerikanische Spätprotestantismus. Gertrudes Vater ist getauft und bedauert dennoch wie ein sentimentaler Ethnologe, daß die Bauern nicht mehr wissen, was die heidnischen Altarsteine bedeuten: Sie verwenden sie für die Mauern der Schweinekoben.
Ist der Liebesakt, den Gertrude und Claudius im Schweiße nicht nur ihres Angesichts vollziehen, demnach ein heidnischer Gottesdienst? Dafür spricht, daß die nietzscheanische Charakterisierung des Christentums als der Religion der Bauern und Sklaven auf den Monolog in der zweiten Szene des zweiten Aktes verweist, in dem Hamlet sich als "bäurischen Sklaven" bezeichnet. Claudius aber bemüht theologische Gründe für den Gesetzesbruch, beruft sich auf byzantinische Sekten und provenzalische Dichter, die lehren, in der Geliebten begegne dem Mann die eigene Seele, die er im Himmel zurückgelassen habe. Hier zitiert Updike sich selbst, jene gnostische Liebesmetaphysik, die er in den sechziger Jahren den Tristan-Studien Denis de Rougemonts entnahm und für die Versuchsanordnung seines Romans "Ehepaare" benutzte.
Dem Spiritualismus des Claudius antwortet Gertrude, der er den gnostischen Kosenamen der heiligen Weisheit verleiht, nicht als Theologin: Sie enthüllt sich ihm und offenbart das skandalöse Zentrum des Romans, in dem Blasphemie und Orthodoxie sich kreuzen, das Mysterium der Inkarnation. Als sie erfährt, was in Wittenberg gelehrt wird, an jenem Ort, der der postpuritanischen Heimat der meisten anderen Updike-Helden das Gesetz gegeben hat, scherzt sie, Gott hätte besser ein Theorem schicken sollen und nicht seinen Sohn. Sie heuchelt nicht, wenn sie sich in ihrem Versteck im Wald Meditationen über das Credo hinzugeben behauptet. Denn wenn die nicht mehr junge Frau sich ihrem alten, fetten und stinkenden Liebhaber so zeigen kann, wie sie am Tag der Auferstehung aus dem Grab steigen wird, dann muß Gott wirklich Mensch geworden sein.
Beglaubigt wird die Fleischwerdung des Wortes von jener sexuellen Übung, die Zeugungsorgan und Zeugnisorgan zusammenbringt. Dieser Parodie der Eucharistie überläßt sich Gertrude in dem Gedanken, daß alle Gedanken sich erübrigen: "Let be." Updike legt ihr genau jene zwei Wörter in den Kopf, mit denen sich Hamlet im fünften Akt vor dem Duell in die Unausweichlichkeit des Todes schickt. Schlegel übersetzt: "Mags sein." Maria Carlsson hat leider davon abgesehen, sich in der Wiedergabe der verdeckten Zitate an Schlegel zu orientieren. Die Echo-Effekte in den weitläufigen Korridoren von Schloß Helsingör werden damit unhörbar.
Unter Updikes Lehrern in Harvard war Harry Levin, der 1959 eine Monographie über "The Question of Hamlet" publizierte. Der strengen Textanalyse von Levins Shakespeare-Vorlesungen verdankt Updike die Entdeckung, daß ein literarisches Werk ein "Doppelleben" führt, daß neben Handlung und Charakteren auch die Bildlichkeit zu betrachten, die "dominante Metapher" zu suchen ist. Wie sieht die Bilderwelt des Romans aus? Die emblematische Figur ist der Vogel. Claudius ist ein Falkner, feurig, forsch und furchtlos. Die wonnigen Laller vor dem Fenster, die von ihrem Tod nichts ahnen, verschaffen Gertrude ein gutes Gewissen. Caroline Spurgeon hat 1935 in ihrer Untersuchung über "Shakespeare's Imagery" nachgewiesen, daß das Vogelbild Shakespeares liebste Tiermetapher ist. Bemerkenswert sei das Mitleid mit dem gefangenen Vogel: So beschreibt Claudius in dem Monolog, in dem er sich zur Reue nicht aufschwingen kann, seine Seele als angeleimt.
Im Roman läßt Gertrude die beiden Hänflinge, das Brautgeschenk des alten Hamlet, im ersten Frühling nach der Hochzeit fliegen. Das Weibchen findet als erstes den Weg ins Freie: Das ist nur das vordergründigste der Vogelbilder, in seiner Schlichtheit rührend, als hätte die Königin es sich selbst ausgedacht, wie überhaupt die Poesie der Bilder dieses erfundenen Mittelalters in einer zarten Wucht liegt, einer Kombination von Sinnlichkeit und Abstraktion, die der Roman selbst an den Buchmalereien hervorhebt, die Gertrude in ihrem Turm betrachtet.
Der prominenteste Vogel der Tragödie ist der unscheinbarste, der Sperling, über dessen Fall, wie Hamlet feststellt, bevor er in den Tod geht, eine besondere Vorsehung waltet. Im Roman ist es ein "sparrow hawk", ein Sperber, der sich beherzt auf eine lahme Maus stürzt. Aber während der Fall des Sperlings Hamlet nur vor Augen führt, daß am Ende die Todesbereitschaft alles sei, wird das Gleiten des Sperbers für Gertrude und Claudius zum Bild eines Lebens in der Natur, das sich von einem Gott getragen weiß, der außerweltlich nicht zu denken ist. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
In einem Essay über den Evangelisten Matthäus hat Updike erzählt, wie ihn in der lutherischen Sonntagsschule der Vers vom Sperling, den Hamlet zitiert (Mt 10, 29), beeindruckte: "Unsere Welt wird überall, zu allen Zeiten, in jedem Detail, von Gott beobachtet." Der Irrtum der Exegeten war es nach Updike, den Beobachter in ein Jenseits zu versetzen, das als Gegenteil der Welt gedacht wird. Vitalität sei die erste Tugend des Neuen Testaments. Ein Lobgesang auf die Lebenskraft ist der so straffe wie reiche Roman. Die Abwesenheit Hamlets, der mit den Gedanken immer ganz woanders ist, als hätte er in Wittenberg schon Karl Barth gelesen, markiert zuletzt deshalb einen Skandal, weil wir uns im Paradies von Gertrude und Claudius auch den Sündenfall im prächtigen Bild des Vogelflugs vorstellen müssen.
Der Vitalität Shakespeares zollt Updike durch das Wissen Tribut, daß unsterbliche Zitate keiner Wiederbelebung bedürfen. Den Gedanken an Selbstmord weisen die Liebenden in wortloser Seligkeit ab. Sein oder Nichtsein, das ist hier keine Frage.
John Updike: "Gertrude und Claudius". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 240 S., geb., 38,92 DM.
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An diesem Tage lesen wir nicht weiter: John Updike verführt dazu, Hamlet aus der Weltliteratur wegzudenken / Von Patrick Bahners
Vor zwölf Jahren rezensierte John Updike den Roman "Höchste Zeit" von Harry Mulisch. Der Held ist ein Schauspieler, der die Hauptrolle in einem zeitgenössischen Stück spielt, das von einer Aufführung von Shakespeares "Sturm" handelt. Zu deutliche Anspielungen auf Prosperos zu berühmtes Wort, wir seien der Stoff, aus dem die Träume sind, bemängelte der kritische Kollege. Für einen europäischen Schriftsteller sei es gewiß ein Abenteuer, sich auf eine Bearbeitung des "Sturms" einzulassen, aber im englischen Wortlaut klängen die bekannten Zitate leider abgedroschen. Ein Abenteurer, der sich alles zutraut, muß der englischsprachige Schriftsteller sein, der den Stoff seiner Träume dem Shakespeare-Drama entnimmt, aus dem so viele Perlen in den Zitatenschatz eingegangen sind, als wär's ein Stück der Bibel.
"Gertrude und Claudius", der neunzehnte Roman von John Updike, erzählt die Geschichte von Hamlet. Auf dem Papier nur die Vorgeschichte. Der Roman endet mit dem Befehl des Claudius, die Kanonen möchten dem Himmel davon Nachricht geben, daß Hamlet, des Königs Neffe, Stiefsohn und soeben designierter Nachfolger, Gehorsam gelobt habe und nicht zum Studium nach Wittenberg zurückkehren werde. Bei Shakespeare, in der zweiten Szene des ersten Aktes, folgt der erste Monolog des Prinzen. Updike ergänzt Shakespeares Erzählung, geht auf die Quellen zurück, auf die dänischen Geschichten des Saxo Grammaticus, verfaßt am Ende des zwölften Jahrhunderts, und auf die tragischen Historien des François de Belleforest, gedruckt 1576.
Der neue Chronist nimmt sich die dichterische Freiheit, das eine oder andere Rätsel zu lösen, das der Forschung Anlaß für ewiges Grübeln ist, weil die Hypothese, es könnte ein Versehen des Autors vorliegen, der Prämisse der organischen Einheit des Kunstwerks widerspricht. So hat man es seit jeher als seltsam empfunden, daß Hamlet nach seinem ersten Monolog seinen Freund Horatio willkommen heißt, obwohl dieser sich schon seit der Beerdigung von Hamlets Vater vor zwei Monaten am Hof aufhält. Updikes Lösung: So spät nahm Hamlet seinen Platz in der Trauergemeinde ein und so früh reiste er wieder nach Wittenberg ab, daß sein alter Freund nicht einmal Gelegenheit hatte, ihn zu begrüßen.
In jeder Vorgeschichte wird die Geschichte schon miterzählt: Hamlet ist noch nicht da und steht deshalb im Zentrum des Interesses. Der Klage von Hamlets Vater, der in diesem Punkt nicht anders denkt als später sein Bruder, Mörder und Nachfolger, der Prinz sei "skandalös abwesend", läßt sich ein metafiktionaler Sinn abgewinnen, ein Selbstkommentar des Textes. Es ist eigentlich unerhört, daß uns Updike einen Hamletroman vorsetzt, in dem Hamlet nicht vorkommt: "Hamlet ohne den Prinzen", das ist im Englischen doch eine sprichwörtliche Wendung für "Thema verfehlt".
Im Stück stellt Hamlet seinem Onkel eine Falle: Der Mörder soll sich zu erkennen geben, indem er mit dem lebenden Bild seiner Tat konfrontiert wird. Hamlet schlägt der reisenden Schauspieltruppe das passende Stück vor. Die Schauspieler haben es im Repertoire, müssen es nicht erst einstudieren. Die Pantomime, die der Aufführung vorausgeht, bietet noch einmal eine Kurzfassung desselben Stoffes - als erschöpfte sich die dramatische Literatur in Präfigurationen der Geschichte von Gertrude und Claudius. Das Spiel im Spiel geht restlos auf: Alles ist Verweis. Das Spiel vor dem Spiel, das Updike sich ausgedacht hat, reizt den detektivischen Sinn des Lesers: Er kennt die Geschichte, also findet er überall Vorausdeutungen. Und doch verschwinden die Personen nicht in ihren Rollen.
Von Gertrude heißt es einmal, es bereite ihr Mühe, sich auf einen gewissen "Strang des Komplotts" zu konzentrieren. Sie hört nicht zu, als Polonius Zweifel daran äußert, ob Gertrudes Sohn seine Tochter liebe; ihr genügt, daß die Aussicht auf die Verbindung von Hamlet und Ophelia den Kämmerer dazu bewegt, der Königin seinen Turm im Wald als Liebesnest zu überlassen. Das ist dramatische Ironie von witziger Überdeutlichkeit, die man Ironie der Ironie nennen könnte: Der "plot", dessen "thread" der Ehebrecherin aus den Fingern gleitet, ist nicht bloß die Verschwörung, sondern zugleich die Handlung selbst, in deren weiterem Verlauf sie Blumen auf Ophelias Grab streuen wird. Aber während der Leser noch den Kunstverstand des Autors bewundert, der alle Fäden in der Hand behält, hat er sich schon verstricken lassen in eine Handlung, deren Sinn nicht ausgeschöpft wird von ihrem bösen Ausgang jenseits der Grenzen des Romans.
Der Skandal der Abwesenheit Hamlets liegt darin, daß sie den Leser auf den Gedanken bringen könnte, die Geschichte von Gertrude und Claudius sei mehr als eine Vorgeschichte. Aber wie soll der Leser seinen horror vacui besänftigen? Wie bringt er den Tick unter Kontrolle, den vertrauten Helden zu beschwören, den Geist des Abwesenden herbeizuzitieren? Hat er nicht selbst in Claudius, dem Grübler und Wanderer, einen Schattenmann vor sich, den Updike nach Hamlets Bild modelliert hat? Der doppelte Doppelgänger vertritt den alten Hamlet im Bett der Königin und besetzt den Platz des jungen Hamlet auf dem Thron des Königs. Das Gegenmodell zu dieser vom Tauschprinzip regierten Hermeneutik, die an die Stelle des realen Charakters die ideale Gestalt setzt, verkörpert Gertrude. Zu ihren Kindheitserfahrungen gehört, wie schwer es ist, in Gegenwart eines Mannes, des Vaters oder des Gatten, an einen anderen Mann zu denken, den Verlobten oder den Geliebten. Es ist ein skandalträchtiger Zug des Romans, daß seine Heldin, die man gerne emanzipiert nennen würde, ihre Freiheit verwirklicht, indem sie sich der natürlichen Autorität fügt, sich buchstäblich übermannen läßt.
Daß ihr Leben im Einklang mit den Rhythmen der Natur seinen Lauf nimmt, unterscheidet sie von ihrem Sohn, und zwar von Anfang, vom Moment der Empfängnis, an. "Beim ersten Tauwetter im Frühling blieb ihr monatlicher Blutfluß aus." Hamlets erstes Wort im ersten Monolog ist der Wunsch, sein allzu festes Fleisch möge schmelzen, zergehen und in einen Tau sich auflösen, der Traum von der Wiedergeburt als Geistwesen. Die Mutter, in deren Leib sein Leib einmal herangewachsen ist, kann und will nicht aus ihrer Haut.
Der Haß auf die Mutter artikuliert sich im Drama in der Gleichsetzung von Weiblichkeit und Leiblichkeit: Die Schwachheit des Fleisches malt der Sohn in abstoßendem Detailreichtum aus. T. S. Eliot hat Hamlet für unglaubwürdig erklärt: Er werde "beherrscht von einem Gefühl, das sich nicht ausdrücken läßt, weil es in keinem Verhältnis steht zu den Tatsachen, wie sie am Tage liegen". Updike hatte einen brillanten Einfall: Er rechtfertigt Gertrude und Claudius, indem er Wort für Wort beweist, daß Hamlets Anklagen den Tatsachen entsprechen. Die Liebenden leben, wie Hamlet der Mutter in ihrem Schlafzimmer ins Gesicht schleudert, "im Schweiß und Brodem eines eklen Betts", paaren sich "over the nasty sty", über dem garstigen Koben. Der Roman berichtet, Gertrude hätte sich für Claudius "in warmen Morast gelegt, selbst in den Morast des Schweinekobens, um in die Ekstase zu geraten, die sie in seiner animalischen Liebe fand".
Die meisten Romane Updikes erörtern im Licht der Paarungssitten die Frage, welche Moral nach dem Christentum kommt. Sein historischer Roman versetzt uns nun in eine Gesellschaft am Rande Europas, die gerade erst christianisiert worden ist und sich schon wieder der Säkularisation ausgesetzt sieht. Durch versprengte anachronistische Vokabeln führt Updike eine Epochenüberblendung herbei: Die Pointe ist, daß die neue Religion sofort "konventionell" geworden ist, so äußerlich wie der amerikanische Spätprotestantismus. Gertrudes Vater ist getauft und bedauert dennoch wie ein sentimentaler Ethnologe, daß die Bauern nicht mehr wissen, was die heidnischen Altarsteine bedeuten: Sie verwenden sie für die Mauern der Schweinekoben.
Ist der Liebesakt, den Gertrude und Claudius im Schweiße nicht nur ihres Angesichts vollziehen, demnach ein heidnischer Gottesdienst? Dafür spricht, daß die nietzscheanische Charakterisierung des Christentums als der Religion der Bauern und Sklaven auf den Monolog in der zweiten Szene des zweiten Aktes verweist, in dem Hamlet sich als "bäurischen Sklaven" bezeichnet. Claudius aber bemüht theologische Gründe für den Gesetzesbruch, beruft sich auf byzantinische Sekten und provenzalische Dichter, die lehren, in der Geliebten begegne dem Mann die eigene Seele, die er im Himmel zurückgelassen habe. Hier zitiert Updike sich selbst, jene gnostische Liebesmetaphysik, die er in den sechziger Jahren den Tristan-Studien Denis de Rougemonts entnahm und für die Versuchsanordnung seines Romans "Ehepaare" benutzte.
Dem Spiritualismus des Claudius antwortet Gertrude, der er den gnostischen Kosenamen der heiligen Weisheit verleiht, nicht als Theologin: Sie enthüllt sich ihm und offenbart das skandalöse Zentrum des Romans, in dem Blasphemie und Orthodoxie sich kreuzen, das Mysterium der Inkarnation. Als sie erfährt, was in Wittenberg gelehrt wird, an jenem Ort, der der postpuritanischen Heimat der meisten anderen Updike-Helden das Gesetz gegeben hat, scherzt sie, Gott hätte besser ein Theorem schicken sollen und nicht seinen Sohn. Sie heuchelt nicht, wenn sie sich in ihrem Versteck im Wald Meditationen über das Credo hinzugeben behauptet. Denn wenn die nicht mehr junge Frau sich ihrem alten, fetten und stinkenden Liebhaber so zeigen kann, wie sie am Tag der Auferstehung aus dem Grab steigen wird, dann muß Gott wirklich Mensch geworden sein.
Beglaubigt wird die Fleischwerdung des Wortes von jener sexuellen Übung, die Zeugungsorgan und Zeugnisorgan zusammenbringt. Dieser Parodie der Eucharistie überläßt sich Gertrude in dem Gedanken, daß alle Gedanken sich erübrigen: "Let be." Updike legt ihr genau jene zwei Wörter in den Kopf, mit denen sich Hamlet im fünften Akt vor dem Duell in die Unausweichlichkeit des Todes schickt. Schlegel übersetzt: "Mags sein." Maria Carlsson hat leider davon abgesehen, sich in der Wiedergabe der verdeckten Zitate an Schlegel zu orientieren. Die Echo-Effekte in den weitläufigen Korridoren von Schloß Helsingör werden damit unhörbar.
Unter Updikes Lehrern in Harvard war Harry Levin, der 1959 eine Monographie über "The Question of Hamlet" publizierte. Der strengen Textanalyse von Levins Shakespeare-Vorlesungen verdankt Updike die Entdeckung, daß ein literarisches Werk ein "Doppelleben" führt, daß neben Handlung und Charakteren auch die Bildlichkeit zu betrachten, die "dominante Metapher" zu suchen ist. Wie sieht die Bilderwelt des Romans aus? Die emblematische Figur ist der Vogel. Claudius ist ein Falkner, feurig, forsch und furchtlos. Die wonnigen Laller vor dem Fenster, die von ihrem Tod nichts ahnen, verschaffen Gertrude ein gutes Gewissen. Caroline Spurgeon hat 1935 in ihrer Untersuchung über "Shakespeare's Imagery" nachgewiesen, daß das Vogelbild Shakespeares liebste Tiermetapher ist. Bemerkenswert sei das Mitleid mit dem gefangenen Vogel: So beschreibt Claudius in dem Monolog, in dem er sich zur Reue nicht aufschwingen kann, seine Seele als angeleimt.
Im Roman läßt Gertrude die beiden Hänflinge, das Brautgeschenk des alten Hamlet, im ersten Frühling nach der Hochzeit fliegen. Das Weibchen findet als erstes den Weg ins Freie: Das ist nur das vordergründigste der Vogelbilder, in seiner Schlichtheit rührend, als hätte die Königin es sich selbst ausgedacht, wie überhaupt die Poesie der Bilder dieses erfundenen Mittelalters in einer zarten Wucht liegt, einer Kombination von Sinnlichkeit und Abstraktion, die der Roman selbst an den Buchmalereien hervorhebt, die Gertrude in ihrem Turm betrachtet.
Der prominenteste Vogel der Tragödie ist der unscheinbarste, der Sperling, über dessen Fall, wie Hamlet feststellt, bevor er in den Tod geht, eine besondere Vorsehung waltet. Im Roman ist es ein "sparrow hawk", ein Sperber, der sich beherzt auf eine lahme Maus stürzt. Aber während der Fall des Sperlings Hamlet nur vor Augen führt, daß am Ende die Todesbereitschaft alles sei, wird das Gleiten des Sperbers für Gertrude und Claudius zum Bild eines Lebens in der Natur, das sich von einem Gott getragen weiß, der außerweltlich nicht zu denken ist. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
In einem Essay über den Evangelisten Matthäus hat Updike erzählt, wie ihn in der lutherischen Sonntagsschule der Vers vom Sperling, den Hamlet zitiert (Mt 10, 29), beeindruckte: "Unsere Welt wird überall, zu allen Zeiten, in jedem Detail, von Gott beobachtet." Der Irrtum der Exegeten war es nach Updike, den Beobachter in ein Jenseits zu versetzen, das als Gegenteil der Welt gedacht wird. Vitalität sei die erste Tugend des Neuen Testaments. Ein Lobgesang auf die Lebenskraft ist der so straffe wie reiche Roman. Die Abwesenheit Hamlets, der mit den Gedanken immer ganz woanders ist, als hätte er in Wittenberg schon Karl Barth gelesen, markiert zuletzt deshalb einen Skandal, weil wir uns im Paradies von Gertrude und Claudius auch den Sündenfall im prächtigen Bild des Vogelflugs vorstellen müssen.
Der Vitalität Shakespeares zollt Updike durch das Wissen Tribut, daß unsterbliche Zitate keiner Wiederbelebung bedürfen. Den Gedanken an Selbstmord weisen die Liebenden in wortloser Seligkeit ab. Sein oder Nichtsein, das ist hier keine Frage.
John Updike: "Gertrude und Claudius". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 240 S., geb., 38,92 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main