Produktdetails
- Verlag: Ammann
- ISBN-13: 9783250105312
- Artikelnr.: 25573248
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2010Zeuge des jüdischen Leidens, Hüter des jiddischen Wortes
Der Dichter Abraham Sutzkever ist mit siebenundneunzig Jahren gestorben: Jetzt liegen sein Getto-Tagebuch und seine Gedichte auf Deutsch vor
Joseph Roth verhalf ihm zur ersten Veröffentlichung, mit Marc Chagall verband ihn eine innige Freundschaft. Er kannte Pasternak, Wassili Grossman - und Ilja Ehrenburg schätzte seine Poeme. Fast hätte er den Nobelpreis bekommen, doch das Nobel-Komitee zeichnete 1978 mit Isaac Bashevis Singer einen anderen jiddischsprachigen Schriftsteller aus. Abraham Sutzkever wurde 1913 im heute weißrussischen Smorgon geboren, er durchlitt das Getto in Wilna (jiddisch: Wilne), floh im Krieg nach Moskau und lebt seit 1947 in Israel. Er gilt als einer der wichtigsten Poeten jiddischer Zunge und als Bewahrer der im Holocaust fast ausgelöschten Sprache - nicht nur durch sein literarisches Werk, sondern auch durch die Herausgabe der Zeitschrift "Di goldene kejt" ("Die goldene Kette"). Das zwischen 1949 und 1995 erscheinende Blatt war lange das wichtigste Organ der jiddischen Kultur. Am Mittwoch ist er im Alter von siebenundneunzig Jahren in Tel Aviv gestorben.
Drei Neuerscheinungen versammeln Texte des hierzulande kaum bekannten Autors. Im Ammann Verlag erscheint das Tagebuch "Wilner Getto 1941-1944" und der Gedichtband "Gesänge vom Meer des Todes", zwei erschütternde Bücher. Fünf Jahrzehnte von Sutzkevers Schaffen umfasst hingegen der Lyrik- und Prosaband "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld" aus dem Campus-Verlag.
Schon im Ersten Weltkrieg musste Sutzkevers Familie aus der Heimatstadt fliehen: Die Juden Smorgons wurden beschuldigt, für das Deutsche Reich zu spionieren. Man ließ sich in Omsk nieder, wo der Vater im Alter von nur dreißig Jahren starb. Trotz Hunger und Kälte sollte die kristalline Schönheit Sibiriens für den Lyriker später zum Inbegriff seiner poetischen "Sehnsucht" werden. 1920 kehrte die Mutter mit den Kindern nach Wilna zurück, das als Zentrum einer reichen jüdischen Tradition und Kultur den Ehrentitel "Jerusalem des Nordens" trug. Rund ein Drittel der Bewohner dieser Stadt, in der Sozialismus und Zionismus auf eine lebendige jiddische Kunst- und Wissenschaftsszene trafen, waren damals Juden. Seit 1926 befand sich auch das in Berlin gegründete YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut, an dem Sutzkever Studien zur Literatur trieb, mit allen seinen Abteilungen in Wilna. 1934 wurde der junge Lyriker Mitglied der sozialrevolutionären Dichtergruppe "Jung-Vilne", die ihn zunächst wegen seines expressiven Individualismus abgelehnt hatte. 1937 schließlich erschien auf Vermittlung Joseph Roths, dem er zufällig in Wilna begegnet war, in Polen sein erster Gedichtband, "Lider" ("Lieder").
1940 verleibte die Rote Armee Litauen der Sowjetunion ein; im Sommer 1941 begann mit der Okkupation durch die deutsche Wehrmacht der Untergang des jüdischen Wilna. "Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen", schreibt Sutzkever zu Beginn seiner Chronik. Innerhalb von nur sechs Monaten wurden Zehntausende von litauischen Juden in Ponar südwestlich von Wilna ermordet. Gleichzeitig richteten die Deutschen in der Stadt zwei Gettos ein. Eine beklemmende Vision von Untergang und Mord zeichnet das Gedicht "Die erste Nacht im Getto": "Können Schiffe auf festem Land versinken? / Ich spür. Es sinken Schiffe unter mir, nur die Segel, / geflickte und zertretene, wälzen sich oben: / die grünen erstarrten Leiber, auf die Erde gebreitet. / ... In der Rinne spült Regen zu anderer Zeit, / ein linder, weicher, segnender. Mütter stellen / Eimer hin für die süße Wolkenmilch, / der Töchter Haar zu waschen, dass ihre Zöpfe glücklich leuchten. / Jetzt sind da keine Mütter, keine Töchter, kein Regen, / nur Ziegel einer Ruine, nur die klagenden Ziegel, / mit Stücken Fleisch ihrer Wände herausgerissen."
Selbst wer die Geschichte der Schoa zu kennen meint, erschauert über den Vernichtungswillen der deutschen Besatzer. Die furchtbaren Geschehnisse notierte Sutzkever, wenn er wie die anderen Gettobewohner bei den "Aktionen" in winzigen Verstecken, sogenannten "Malinen", auf Dachböden und in Kellern, ausharrte. Ermordet wurden seine Mutter, deren Schuh er eines Tages in einem Wagen voller Raubgut entdeckte, und sein neugeborener Sohn, der gleich nach der Geburt vergiftet wurde. Doch auch die "Chapunes", die litauischen Häscher, schreckten vor keiner Bosheit zurück. Berichtet wird die Geschichte eines jüdischen Mannes, der seinem Häscher, den er kannte, die Goldzähne für sein Leben anbot. So bitter wie nüchtern hält der Autor fest: "Bei dem Studenten erwachte das Gewissen. Er schlug dem Juden die Zähne aus und ließ ihn leben." Im Tagebuch lässt Sutzkever auch die Stimmen vieler Leidensgenossen zu Wort kommen. Kaum zu ertragen ist der Bericht über die "Leichenbrenner", Häftlinge in Ponar, die gegen Kriegsende die Massengräber öffnen und die Leichen verbrennen mussten, unter den Toten oft genug Freunde und Verwandte.
Schreiben ist für Sutzkever vor allem Erinnerung an die Toten, denen der überlebende Dichter seine Stimme leihen muss. Als er vom "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" gezwungen wurde, wertvolle jüdische Manuskripte und Pretiosen auszuwählen, die in Deutschland "eine Wissenschaft des Judentums ohne Juden" ermöglichen sollten, versteckte er möglichst viele Schätze im Getto. In "Weizenkörner" schreibt er: "Wie einen zarten Säugling / beschütz ich das jiddische Wort, / schnuppre in jeden Berg Papier, / rette den Geist vor Mord." Wo die Besatzer jede Kultur fahrenließen, entwickelte sich im Getto parallel zu den Aktivitäten der Partisanen auch ein kultureller und spiritueller Widerstand.
Als das Getto im September 1943 endgültig liquidiert wurde, war Abraham Sutzkever mit seiner Frau nur wenige Tage zuvor die Flucht gelungen. Das Ehepaar schloss sich einer jüdischen Partisanenorganisation in den litauischen Wäldern an. Im selben Jahr entstand das Langgedicht "Kol Nidre", benannt nach dem Gebet am Abend des Versöhnungstages (Jom Kippur). Sein Inhalt beruht auf einem tatsächlichen Ereignis in Ponar. Dort hatte ein jüdischer Vater seinen Sohn erstochen, um ihm weitere Martern zu ersparen. Bei Sutzkever verzweifelt das lyrische Ich an Gott, es erhebt wie Hiob Klage: "Gott hat mir all mein Beten nicht erhört, / er macht gemeine Sache mit dem Schinder." Das Gedicht gelangte in der Sowjetunion unter anderem in die Hände des jiddischen Dichters Perez Markisch und von Ilja Ehrenburg - und beeindruckte beide tief. Im März 1944 flog ein kleines Flugzeug die Sutzkevers unter dramatischen Umständen nach Moskau aus.
Nach der Befreiung Wilnas im Juli 1944 kehrte Sutzkever kurz in die Stadt zurück, um die verborgenen Kulturschätze auszugraben. Diesmal musste er sie dem Zugriff der Sowjets entziehen und ließ sie deshalb nach New York schmuggeln, wo sie sich noch heute im wieder gegründeten YIVO-Institut befinden. 1946 veröffentlichte er das "Tagebuch" in Moskau und Paris und sagte vor dem Nürnberger Tribunal als Zeuge aus. Kurz vor der Gründung des jüdischen Staats emigrierte er mit seiner Frau nach Israel. Damit entkam er den schlimmsten antisemitischen Repressionen in der Sowjetunion, die im August 1952 in der Erschießung der gesamten jiddischen intellektuellen Elite gipfelte - unter den Opfern war auch Perez Markisch, der Retter, dem Sutzkever ein Gedicht widmete: "Wo bist du, Freund? Nun sing die Wahrheit, / sing aus dem Grab und rebellier: / Mein Land, ich schenkte dir Poeme, und eine Kugel gabst du mir."
Sutzkevers Tagebuch ist das politisch verdunkelte Klima dieser Zeit deutlich anzumerken. Während die Namen der deutschen Täter genannt werden, bleibt zum Beispiel die Identität der zahlreichen litauischen Kollaborateure ungenannt. Auch zum umstrittenen Vorsitzenden des Wilnaer Judenrates, Jakow Gents, der später in Joshua Sobols berühmtem Drama "Ghetto" (1984) eine tragende Rolle spielen sollte, äußert sich Sutzkever nur sehr knapp. Schade, dass sich der Ammann Verlag trotz feinsinniger Übersetzung und liebevoller Gestaltung nicht zu einem historischen Geleitwort entschließen konnte, das die Lücken und die verständliche Vorsicht des Autors über sechzig Jahre nach den Geschehnissen ausführlicher beleuchtet. In der Campus-Ausgabe sind der diachronischen Auswahl dagegen zwei instruktive Vorworte zu Leben und Werk Sutzkevers beigesellt. Doch auf die verlegerische Großtat, das Verdienst um die jiddische Literatur, kommt es in erster Linie an. Über den Reichtum dieser Sprache hat Isaac Bashevis Singer einmal gesagt: "Das Jiddische hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Es enthält Schätze, die noch lange nicht geborgen sind."
JUDITH LEISTER
Abraham Sutzkever: "Wilner Getto 1941-1944". Ammann Verlag, Zürich 2009. 272 S., geb., 22,95 [Euro].
Abraham Sutzkever: "Gesänge vom Meer des Todes". Ammann Verlag, Zürich 2009.192 S., geb., 22,95 [Euro]. - Beide Bücher aus dem Jiddischen von Hubert Witt.
Abraham Sutzkever: "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld". Aus dem Jiddischen von Peter Comans. Verlag Campus, Frankfurt und New York 2009. 389 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Dichter Abraham Sutzkever ist mit siebenundneunzig Jahren gestorben: Jetzt liegen sein Getto-Tagebuch und seine Gedichte auf Deutsch vor
Joseph Roth verhalf ihm zur ersten Veröffentlichung, mit Marc Chagall verband ihn eine innige Freundschaft. Er kannte Pasternak, Wassili Grossman - und Ilja Ehrenburg schätzte seine Poeme. Fast hätte er den Nobelpreis bekommen, doch das Nobel-Komitee zeichnete 1978 mit Isaac Bashevis Singer einen anderen jiddischsprachigen Schriftsteller aus. Abraham Sutzkever wurde 1913 im heute weißrussischen Smorgon geboren, er durchlitt das Getto in Wilna (jiddisch: Wilne), floh im Krieg nach Moskau und lebt seit 1947 in Israel. Er gilt als einer der wichtigsten Poeten jiddischer Zunge und als Bewahrer der im Holocaust fast ausgelöschten Sprache - nicht nur durch sein literarisches Werk, sondern auch durch die Herausgabe der Zeitschrift "Di goldene kejt" ("Die goldene Kette"). Das zwischen 1949 und 1995 erscheinende Blatt war lange das wichtigste Organ der jiddischen Kultur. Am Mittwoch ist er im Alter von siebenundneunzig Jahren in Tel Aviv gestorben.
Drei Neuerscheinungen versammeln Texte des hierzulande kaum bekannten Autors. Im Ammann Verlag erscheint das Tagebuch "Wilner Getto 1941-1944" und der Gedichtband "Gesänge vom Meer des Todes", zwei erschütternde Bücher. Fünf Jahrzehnte von Sutzkevers Schaffen umfasst hingegen der Lyrik- und Prosaband "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld" aus dem Campus-Verlag.
Schon im Ersten Weltkrieg musste Sutzkevers Familie aus der Heimatstadt fliehen: Die Juden Smorgons wurden beschuldigt, für das Deutsche Reich zu spionieren. Man ließ sich in Omsk nieder, wo der Vater im Alter von nur dreißig Jahren starb. Trotz Hunger und Kälte sollte die kristalline Schönheit Sibiriens für den Lyriker später zum Inbegriff seiner poetischen "Sehnsucht" werden. 1920 kehrte die Mutter mit den Kindern nach Wilna zurück, das als Zentrum einer reichen jüdischen Tradition und Kultur den Ehrentitel "Jerusalem des Nordens" trug. Rund ein Drittel der Bewohner dieser Stadt, in der Sozialismus und Zionismus auf eine lebendige jiddische Kunst- und Wissenschaftsszene trafen, waren damals Juden. Seit 1926 befand sich auch das in Berlin gegründete YIVO, das Jiddische Wissenschaftliche Institut, an dem Sutzkever Studien zur Literatur trieb, mit allen seinen Abteilungen in Wilna. 1934 wurde der junge Lyriker Mitglied der sozialrevolutionären Dichtergruppe "Jung-Vilne", die ihn zunächst wegen seines expressiven Individualismus abgelehnt hatte. 1937 schließlich erschien auf Vermittlung Joseph Roths, dem er zufällig in Wilna begegnet war, in Polen sein erster Gedichtband, "Lider" ("Lieder").
1940 verleibte die Rote Armee Litauen der Sowjetunion ein; im Sommer 1941 begann mit der Okkupation durch die deutsche Wehrmacht der Untergang des jüdischen Wilna. "Als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloss, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen", schreibt Sutzkever zu Beginn seiner Chronik. Innerhalb von nur sechs Monaten wurden Zehntausende von litauischen Juden in Ponar südwestlich von Wilna ermordet. Gleichzeitig richteten die Deutschen in der Stadt zwei Gettos ein. Eine beklemmende Vision von Untergang und Mord zeichnet das Gedicht "Die erste Nacht im Getto": "Können Schiffe auf festem Land versinken? / Ich spür. Es sinken Schiffe unter mir, nur die Segel, / geflickte und zertretene, wälzen sich oben: / die grünen erstarrten Leiber, auf die Erde gebreitet. / ... In der Rinne spült Regen zu anderer Zeit, / ein linder, weicher, segnender. Mütter stellen / Eimer hin für die süße Wolkenmilch, / der Töchter Haar zu waschen, dass ihre Zöpfe glücklich leuchten. / Jetzt sind da keine Mütter, keine Töchter, kein Regen, / nur Ziegel einer Ruine, nur die klagenden Ziegel, / mit Stücken Fleisch ihrer Wände herausgerissen."
Selbst wer die Geschichte der Schoa zu kennen meint, erschauert über den Vernichtungswillen der deutschen Besatzer. Die furchtbaren Geschehnisse notierte Sutzkever, wenn er wie die anderen Gettobewohner bei den "Aktionen" in winzigen Verstecken, sogenannten "Malinen", auf Dachböden und in Kellern, ausharrte. Ermordet wurden seine Mutter, deren Schuh er eines Tages in einem Wagen voller Raubgut entdeckte, und sein neugeborener Sohn, der gleich nach der Geburt vergiftet wurde. Doch auch die "Chapunes", die litauischen Häscher, schreckten vor keiner Bosheit zurück. Berichtet wird die Geschichte eines jüdischen Mannes, der seinem Häscher, den er kannte, die Goldzähne für sein Leben anbot. So bitter wie nüchtern hält der Autor fest: "Bei dem Studenten erwachte das Gewissen. Er schlug dem Juden die Zähne aus und ließ ihn leben." Im Tagebuch lässt Sutzkever auch die Stimmen vieler Leidensgenossen zu Wort kommen. Kaum zu ertragen ist der Bericht über die "Leichenbrenner", Häftlinge in Ponar, die gegen Kriegsende die Massengräber öffnen und die Leichen verbrennen mussten, unter den Toten oft genug Freunde und Verwandte.
Schreiben ist für Sutzkever vor allem Erinnerung an die Toten, denen der überlebende Dichter seine Stimme leihen muss. Als er vom "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg" gezwungen wurde, wertvolle jüdische Manuskripte und Pretiosen auszuwählen, die in Deutschland "eine Wissenschaft des Judentums ohne Juden" ermöglichen sollten, versteckte er möglichst viele Schätze im Getto. In "Weizenkörner" schreibt er: "Wie einen zarten Säugling / beschütz ich das jiddische Wort, / schnuppre in jeden Berg Papier, / rette den Geist vor Mord." Wo die Besatzer jede Kultur fahrenließen, entwickelte sich im Getto parallel zu den Aktivitäten der Partisanen auch ein kultureller und spiritueller Widerstand.
Als das Getto im September 1943 endgültig liquidiert wurde, war Abraham Sutzkever mit seiner Frau nur wenige Tage zuvor die Flucht gelungen. Das Ehepaar schloss sich einer jüdischen Partisanenorganisation in den litauischen Wäldern an. Im selben Jahr entstand das Langgedicht "Kol Nidre", benannt nach dem Gebet am Abend des Versöhnungstages (Jom Kippur). Sein Inhalt beruht auf einem tatsächlichen Ereignis in Ponar. Dort hatte ein jüdischer Vater seinen Sohn erstochen, um ihm weitere Martern zu ersparen. Bei Sutzkever verzweifelt das lyrische Ich an Gott, es erhebt wie Hiob Klage: "Gott hat mir all mein Beten nicht erhört, / er macht gemeine Sache mit dem Schinder." Das Gedicht gelangte in der Sowjetunion unter anderem in die Hände des jiddischen Dichters Perez Markisch und von Ilja Ehrenburg - und beeindruckte beide tief. Im März 1944 flog ein kleines Flugzeug die Sutzkevers unter dramatischen Umständen nach Moskau aus.
Nach der Befreiung Wilnas im Juli 1944 kehrte Sutzkever kurz in die Stadt zurück, um die verborgenen Kulturschätze auszugraben. Diesmal musste er sie dem Zugriff der Sowjets entziehen und ließ sie deshalb nach New York schmuggeln, wo sie sich noch heute im wieder gegründeten YIVO-Institut befinden. 1946 veröffentlichte er das "Tagebuch" in Moskau und Paris und sagte vor dem Nürnberger Tribunal als Zeuge aus. Kurz vor der Gründung des jüdischen Staats emigrierte er mit seiner Frau nach Israel. Damit entkam er den schlimmsten antisemitischen Repressionen in der Sowjetunion, die im August 1952 in der Erschießung der gesamten jiddischen intellektuellen Elite gipfelte - unter den Opfern war auch Perez Markisch, der Retter, dem Sutzkever ein Gedicht widmete: "Wo bist du, Freund? Nun sing die Wahrheit, / sing aus dem Grab und rebellier: / Mein Land, ich schenkte dir Poeme, und eine Kugel gabst du mir."
Sutzkevers Tagebuch ist das politisch verdunkelte Klima dieser Zeit deutlich anzumerken. Während die Namen der deutschen Täter genannt werden, bleibt zum Beispiel die Identität der zahlreichen litauischen Kollaborateure ungenannt. Auch zum umstrittenen Vorsitzenden des Wilnaer Judenrates, Jakow Gents, der später in Joshua Sobols berühmtem Drama "Ghetto" (1984) eine tragende Rolle spielen sollte, äußert sich Sutzkever nur sehr knapp. Schade, dass sich der Ammann Verlag trotz feinsinniger Übersetzung und liebevoller Gestaltung nicht zu einem historischen Geleitwort entschließen konnte, das die Lücken und die verständliche Vorsicht des Autors über sechzig Jahre nach den Geschehnissen ausführlicher beleuchtet. In der Campus-Ausgabe sind der diachronischen Auswahl dagegen zwei instruktive Vorworte zu Leben und Werk Sutzkevers beigesellt. Doch auf die verlegerische Großtat, das Verdienst um die jiddische Literatur, kommt es in erster Linie an. Über den Reichtum dieser Sprache hat Isaac Bashevis Singer einmal gesagt: "Das Jiddische hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Es enthält Schätze, die noch lange nicht geborgen sind."
JUDITH LEISTER
Abraham Sutzkever: "Wilner Getto 1941-1944". Ammann Verlag, Zürich 2009. 272 S., geb., 22,95 [Euro].
Abraham Sutzkever: "Gesänge vom Meer des Todes". Ammann Verlag, Zürich 2009.192 S., geb., 22,95 [Euro]. - Beide Bücher aus dem Jiddischen von Hubert Witt.
Abraham Sutzkever: "Geh über Wörter wie über ein Minenfeld". Aus dem Jiddischen von Peter Comans. Verlag Campus, Frankfurt und New York 2009. 389 S., geb., 34,90 [Euro].
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