Der letzte Band der »Gesammelten Briefe« dokumentiert den Wettlauf, den Benjamin um sein Leben und sein Werk gegen den drohenden Krieg und die Verfolgung unternahm. Die Annexion Österreichs und der absehbare Fall Spaniens sprachen für ihn eine deutliche Sprache: »Für meine Person weiß ich, rund gesagt, kaum woher noch einen Begriff 'sinnvollen' Leidens und Sterbens nehmen. Kurz ich mag mein Blickfeld soweit ausspannen wie ich will: ich finde den Horizont ebenso verhangen wie die mir vor Augen liegenden Existenzen.« - Benjamins Sorge, als er sich nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs interniert fand, galt den Fahnen seines zweiten Baudelaireaufsatzes, dessen Fertigstellung von Beginn an der permanenten Kriegsdrohung abgerungen war. Noch einmal für ein halbes Jahr nach Paris zurückgekehrt, schreibt er die Thesen über den Begriff der Geschichte, die die Summe dessen sind, was Benjamin seiner Nachwelt überliefert wissen wollte. Als er hoffte, sich seinem Baudelairebuch wieder zuwenden zu können, mußte er in den Süden flüchten, wo er das amerikanische Affidavit endlich erhielt, aber nicht die 'ordnungsgemäße' Ausreisegenehmigung aus Frankreich. Als der spanische Zöllner ihn nach Frankreich zurückzuschicken drohte, nahm Benjamin sich am 26. September 1940 in Port Bou das Leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000Rette mich, wer kann!
So fern er sein mag: Mit dem sechsten Band ist die Briefausgabe Walter Benjamins abgeschlossen / Von Richard Kämmerlings
Mit der Wirkung Walter Benjamins hat es eine ganz eigene Bewandtnis, die in einen paradoxen Mißverhältnis zu seiner These vom "Verfall der Aura" steht. Mit dem fast exponentiellen Anwachsen der Sekundärliteratur, der nur noch die Kafka-Philologie Paroli bieten kann, wird ihr Gegenstand immer mehr zu einer singulären Denkergestalt, zu einem erratischen Block, dessen Umrisse auch mit den subtilsten Meßmethoden nicht zu bestimmen sind. Nach Benjamins Definition der Aura als "einmaliger Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag", wird er selbst zur auratischen Lichtgestalt, deren Helle um so mehr blendet, je näher der Betrachter herantritt.
Auch die Lektüre der Briefe, deren Ausgabe mit Band sechs für den Zeitraum 1938 bis 1940 nun abgeschlossen ist, läßt Benjamin nicht vertrauter erscheinen. Herkömmlicherweise eröffnet das Studium solch intimer Dokumente einen neuen, persönlichen Zugang zu ihren Verfassern. Doch Benjamin wird im Gegenteil zum Fremden, zur rätselhaft-fernen Ikone einer Einheit von Leben und Werk, Theorie und Biographie - und nicht zuletzt zur Allegorie des katastrophischen Geschichtsverlaufs selbst.
Neuentdeckungen waren von dieser, wiederum editorisch vorbildlich erschlossenen Ausgabe ohnehin kaum zu erwarten, die viele bereits publizierte Texte enthält. Benjamins letzte Jahre und die Entwicklung seines Denkens vor dem zunehmend verfinsterten Horizont der weltpolitischen und persönlichen Situation sind ausführlich dokumentiert und kommentiert. Vor allem die Bemühungen um eine Rekonstruktion des nur als torsoförmige Materialsammlung überlieferten "Passagenwerks" haben zum Ausgleich für den Fragmentcharakter des Werks wenigstens die Bruchstücke der Biographie zusammenzuleimen sich bemüht und jene "Rettung" versucht, die das pochende Herzstück des vitalen Theoriekorpus des späten Benjamin war.
Die Arbeit an seinem "Baudelaire", ursprünglich als ein Kapitel des Passagenwerks, dann als Essay und schließlich als selbständiges Buch geplant, ist Benjamins Hauptbeschäftigung im Jahr 1938, mit dessen Beginn er eine neue Wohnung in Paris bezieht. Gleich im ersten Brief des neuen Bandes berichtet er Horkheimer von seinen Gesprächen mit Adorno über dessen "Versuch über Wagner". Dessen Tendenz, "das Physiognomische unmittelbar, fast ohne psychologische Vermittlung, im gesellschaftlichen Raum anzusiedeln", reizt ihn aufgrund der Nähe zu seiner eigenen Konzeption. Die späteren Einwände gegen die fertige Arbeit sind fortiter in re: "Der umstandslose Gebrauch der Kategorien des Progressiven und des Regressiven" mache die Ansätze zue "Rettung" Wagners "überaus problematisch". Da Rettung "eine zyklische Form" sei, schließe sie die ideologiekritische Abfertigung des Gegenstands im Namen einer "fortschrittlichen" Tendenz aus. Wenn die Ausweglosigkeit der Gegenwart die Rede vom Fortschritt verbietet, woher dann einen Maßstab zur Verurteilung der Vergangenheit gewinnen? Dann aber stellt sich das Problem der Auwahl historischen Materials: Alles ist erlösungsbedürftig und so gleich bewahrenswert.
Bei Wagners Spiegelbild Baudelaire sei für Polemik "so wenig Raum", sei "so weniges verrufen und überholt, daß die Form der Rettung an diesem Gegenstande selbst zum Problem werden könnte". Die Schwierigkeiten des gesamten Passagen-Projekts hängen damit zusammen. Der tiefe Satz aus der Einbahnstraße, wonach das Werk die Totenmaske der Konzeption sei, bewahrheitet sich nun, da sich der Stoff wie der berühmte Brei im Märchen unaufhaltsam vermehrt. Unter dem theologischen Vorzeichen der Rettung der Vergangenheit als "historische Apokatastasis", als "Wiederbringung Aller" ist Benjamin gezwungen, alle Längen- und Terminvorgaben zu überschreiten und alle Energien auf die Arbeit zu werfen. Zuletzt ist es die Offenheit der Passagen, die den Fluchtweg verstellt.
Hinzu kommen die Mühen der Ebene. Die letzten Jahre sind weiter überschattet von finanziellen Problemen - Horkheimer kündigt ihm im Februar 1939 an, seine Geldzahlungen eventuell einstellen zu müssen - und scheiternden Bemühungen um Publikation (etwa der Neufassung der "Berliner Kindheit"). Gesundheitliche Probleme kommen hinzu. Gleichzeitig betreibt Benjamin seine Einbürgerung, was ihn in einen lästigen Papierkrieg mit den Behörden verwickelt. Die raren Publikationsmöglichkeiten bekommen so existentielle Bedeutung. Er bedankt sich überschwenglich, als Horkheimer einen seiner beiläufig entstandenen Literaturberichte in der Zeitschrift für Sozialforschung drucken will - und ist umgekehrt völlig niedergeschlagen, als der nach langem Ringen abgeschlossene Mittelteil des "Baudelaire" von Adorno abgelehnt wird. An Karl Thieme schreibt er, als er für seine Brecht-Kommentare ein Exemplar der "Hauspostille" ausleihen möchte: "Sie sehen, was wir haben drucken lassen, gewinnt schnell den Wert von Handschriften." Gegenüber Scholem bedauert er den Mangel an Belegexemplaren, da "die Vollständigkeit Deines Archivs meiner Schriften von jeher mein Anliegen war". Die Sorge um vollständige Überlieferung ist die Signatur des katastrophischen Bewußtseins.
Mit Kriegsausbruch wird Benjamin als deutscher Flüchtling interniert; die Briefe aus dieser Zeit sind wegen der Zensur auf Französisch verfaßt. Gleich nach seiner Rückkehr stürzt sich Benjamin in seine Arbeit, liefert noch im Frühjahr ausführliche Literaturberichte an Horkheimer, etwa über Michel Leiris' "Mannesalter" und Gaston Bachelard. Doch sein Gesundheitszustand verschlechtert sich in unheimlicher Parallelität zur politischen Lage. Ein Brief an Gretel Adorno vom Anfang Mai 1940, kündigt die Thesen "Über den Begriff der Geschichte" gleichzeitig mit der Zusendung eines Röntgenbilds vom kranken Herz an und ist gezeichnet mit "Dein alter, auch alternder Detlef". Gegenüber Sohn Stefan klagt er schon 1939 darüber, "daß meine Freunde fast ausnahmslos in New York sitzen".
In einem großartigen Brief an Adorno (7. Mai 1940) spricht Benjamin in Bezug auf den späten Baudelaire davon, "daß wir da auf Haltung stoßen, wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt. Die Einsamkeit, die sehr wohl, weit entfernt der Ort seiner individuellen Fülle zu sein, der Ort seiner geschichtlich bedingten Leere, der persona als seines Mißgeschicks sein könnte." Die abweisende Maske erscheint hier als Rüstung gegen die Anfeindungen des Historischen; es ist kein Zufall, daß sich Benjamin in diesen letzten Monaten ausführlicher mit Brecht, dem Theoretiker der Verhärtung und Panzerung beschäftigt. Im Baudelaire-Essay heißt es: "Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost".
Es ist unvermeidlich, zu Benjamins Biographie immer wieder kontrafaktische Überlegungen anzustellen, die dem Tod ausweichen. Doch solche Tagträume des historischen Bewußtseins halten nicht lange vor, da das tragische Ende seiner katastrophisch eingefärbten Geschichtstheorie so deutlich korreliert. Das Leben Benjamins anders als von seinem Scheitern her zu denken, scheint unmöglich, wofür er selbst die Begründung geliefert hat: "Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat", hießt es in der siebten geschichtsphilosophischen These, die zugleich die Aufgabe formuliert, die Opfer vor der katastrophischen Faktizität in Schutz zu nehmen, zu der noch die Gegenwart in kausalem Verhältnis steht.
Was an Benjamins Ende so erschreckt, ist die Konsequenz, mit der er sein Leben seinem Werk unterordnet, ein nur mit dem Glauben an die erlösende Kraft seiner Geschichtstheologie zu erklärender Zwang, die Urgeschichte der Moderne auch unter den feindlichsten Bedingungen der Gegenwart weiterzutreiben. Der Tod wurde auf der beschwerlichen Flucht über die spanische Grenze einkalkuliert, um nur die berühmte Aktentasche außer Landes zu bringen. Ein jüngst entdeckter Augenzeugenbericht hat die letzten Stunden festgehalten (F.A.Z. vom 6. September). Zum Zeitpunkt seines Selbstmords wähnte Benjamin sein Werk wohl fälschlicherweise in Sicherheit. In einem Brief an Scholem heißt es: "Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und ihrer eigentümlichen Schönheit gerecht zu werden, darf man das Eine nie aus dem Auge lassen: es ist die von einem Gescheiterten." Es ist ein schwacher Trost, daß nach Benjamin nur ein solcher sich für die Rettung bereithalten kann.
Walter Benjamin: "Gesammelte Briefe". Band VI: "1938-1940". Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 630 S., geb., 98,- DM.
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So fern er sein mag: Mit dem sechsten Band ist die Briefausgabe Walter Benjamins abgeschlossen / Von Richard Kämmerlings
Mit der Wirkung Walter Benjamins hat es eine ganz eigene Bewandtnis, die in einen paradoxen Mißverhältnis zu seiner These vom "Verfall der Aura" steht. Mit dem fast exponentiellen Anwachsen der Sekundärliteratur, der nur noch die Kafka-Philologie Paroli bieten kann, wird ihr Gegenstand immer mehr zu einer singulären Denkergestalt, zu einem erratischen Block, dessen Umrisse auch mit den subtilsten Meßmethoden nicht zu bestimmen sind. Nach Benjamins Definition der Aura als "einmaliger Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag", wird er selbst zur auratischen Lichtgestalt, deren Helle um so mehr blendet, je näher der Betrachter herantritt.
Auch die Lektüre der Briefe, deren Ausgabe mit Band sechs für den Zeitraum 1938 bis 1940 nun abgeschlossen ist, läßt Benjamin nicht vertrauter erscheinen. Herkömmlicherweise eröffnet das Studium solch intimer Dokumente einen neuen, persönlichen Zugang zu ihren Verfassern. Doch Benjamin wird im Gegenteil zum Fremden, zur rätselhaft-fernen Ikone einer Einheit von Leben und Werk, Theorie und Biographie - und nicht zuletzt zur Allegorie des katastrophischen Geschichtsverlaufs selbst.
Neuentdeckungen waren von dieser, wiederum editorisch vorbildlich erschlossenen Ausgabe ohnehin kaum zu erwarten, die viele bereits publizierte Texte enthält. Benjamins letzte Jahre und die Entwicklung seines Denkens vor dem zunehmend verfinsterten Horizont der weltpolitischen und persönlichen Situation sind ausführlich dokumentiert und kommentiert. Vor allem die Bemühungen um eine Rekonstruktion des nur als torsoförmige Materialsammlung überlieferten "Passagenwerks" haben zum Ausgleich für den Fragmentcharakter des Werks wenigstens die Bruchstücke der Biographie zusammenzuleimen sich bemüht und jene "Rettung" versucht, die das pochende Herzstück des vitalen Theoriekorpus des späten Benjamin war.
Die Arbeit an seinem "Baudelaire", ursprünglich als ein Kapitel des Passagenwerks, dann als Essay und schließlich als selbständiges Buch geplant, ist Benjamins Hauptbeschäftigung im Jahr 1938, mit dessen Beginn er eine neue Wohnung in Paris bezieht. Gleich im ersten Brief des neuen Bandes berichtet er Horkheimer von seinen Gesprächen mit Adorno über dessen "Versuch über Wagner". Dessen Tendenz, "das Physiognomische unmittelbar, fast ohne psychologische Vermittlung, im gesellschaftlichen Raum anzusiedeln", reizt ihn aufgrund der Nähe zu seiner eigenen Konzeption. Die späteren Einwände gegen die fertige Arbeit sind fortiter in re: "Der umstandslose Gebrauch der Kategorien des Progressiven und des Regressiven" mache die Ansätze zue "Rettung" Wagners "überaus problematisch". Da Rettung "eine zyklische Form" sei, schließe sie die ideologiekritische Abfertigung des Gegenstands im Namen einer "fortschrittlichen" Tendenz aus. Wenn die Ausweglosigkeit der Gegenwart die Rede vom Fortschritt verbietet, woher dann einen Maßstab zur Verurteilung der Vergangenheit gewinnen? Dann aber stellt sich das Problem der Auwahl historischen Materials: Alles ist erlösungsbedürftig und so gleich bewahrenswert.
Bei Wagners Spiegelbild Baudelaire sei für Polemik "so wenig Raum", sei "so weniges verrufen und überholt, daß die Form der Rettung an diesem Gegenstande selbst zum Problem werden könnte". Die Schwierigkeiten des gesamten Passagen-Projekts hängen damit zusammen. Der tiefe Satz aus der Einbahnstraße, wonach das Werk die Totenmaske der Konzeption sei, bewahrheitet sich nun, da sich der Stoff wie der berühmte Brei im Märchen unaufhaltsam vermehrt. Unter dem theologischen Vorzeichen der Rettung der Vergangenheit als "historische Apokatastasis", als "Wiederbringung Aller" ist Benjamin gezwungen, alle Längen- und Terminvorgaben zu überschreiten und alle Energien auf die Arbeit zu werfen. Zuletzt ist es die Offenheit der Passagen, die den Fluchtweg verstellt.
Hinzu kommen die Mühen der Ebene. Die letzten Jahre sind weiter überschattet von finanziellen Problemen - Horkheimer kündigt ihm im Februar 1939 an, seine Geldzahlungen eventuell einstellen zu müssen - und scheiternden Bemühungen um Publikation (etwa der Neufassung der "Berliner Kindheit"). Gesundheitliche Probleme kommen hinzu. Gleichzeitig betreibt Benjamin seine Einbürgerung, was ihn in einen lästigen Papierkrieg mit den Behörden verwickelt. Die raren Publikationsmöglichkeiten bekommen so existentielle Bedeutung. Er bedankt sich überschwenglich, als Horkheimer einen seiner beiläufig entstandenen Literaturberichte in der Zeitschrift für Sozialforschung drucken will - und ist umgekehrt völlig niedergeschlagen, als der nach langem Ringen abgeschlossene Mittelteil des "Baudelaire" von Adorno abgelehnt wird. An Karl Thieme schreibt er, als er für seine Brecht-Kommentare ein Exemplar der "Hauspostille" ausleihen möchte: "Sie sehen, was wir haben drucken lassen, gewinnt schnell den Wert von Handschriften." Gegenüber Scholem bedauert er den Mangel an Belegexemplaren, da "die Vollständigkeit Deines Archivs meiner Schriften von jeher mein Anliegen war". Die Sorge um vollständige Überlieferung ist die Signatur des katastrophischen Bewußtseins.
Mit Kriegsausbruch wird Benjamin als deutscher Flüchtling interniert; die Briefe aus dieser Zeit sind wegen der Zensur auf Französisch verfaßt. Gleich nach seiner Rückkehr stürzt sich Benjamin in seine Arbeit, liefert noch im Frühjahr ausführliche Literaturberichte an Horkheimer, etwa über Michel Leiris' "Mannesalter" und Gaston Bachelard. Doch sein Gesundheitszustand verschlechtert sich in unheimlicher Parallelität zur politischen Lage. Ein Brief an Gretel Adorno vom Anfang Mai 1940, kündigt die Thesen "Über den Begriff der Geschichte" gleichzeitig mit der Zusendung eines Röntgenbilds vom kranken Herz an und ist gezeichnet mit "Dein alter, auch alternder Detlef". Gegenüber Sohn Stefan klagt er schon 1939 darüber, "daß meine Freunde fast ausnahmslos in New York sitzen".
In einem großartigen Brief an Adorno (7. Mai 1940) spricht Benjamin in Bezug auf den späten Baudelaire davon, "daß wir da auf Haltung stoßen, wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt. Die Einsamkeit, die sehr wohl, weit entfernt der Ort seiner individuellen Fülle zu sein, der Ort seiner geschichtlich bedingten Leere, der persona als seines Mißgeschicks sein könnte." Die abweisende Maske erscheint hier als Rüstung gegen die Anfeindungen des Historischen; es ist kein Zufall, daß sich Benjamin in diesen letzten Monaten ausführlicher mit Brecht, dem Theoretiker der Verhärtung und Panzerung beschäftigt. Im Baudelaire-Essay heißt es: "Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen Trost".
Es ist unvermeidlich, zu Benjamins Biographie immer wieder kontrafaktische Überlegungen anzustellen, die dem Tod ausweichen. Doch solche Tagträume des historischen Bewußtseins halten nicht lange vor, da das tragische Ende seiner katastrophisch eingefärbten Geschichtstheorie so deutlich korreliert. Das Leben Benjamins anders als von seinem Scheitern her zu denken, scheint unmöglich, wofür er selbst die Begründung geliefert hat: "Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat", hießt es in der siebten geschichtsphilosophischen These, die zugleich die Aufgabe formuliert, die Opfer vor der katastrophischen Faktizität in Schutz zu nehmen, zu der noch die Gegenwart in kausalem Verhältnis steht.
Was an Benjamins Ende so erschreckt, ist die Konsequenz, mit der er sein Leben seinem Werk unterordnet, ein nur mit dem Glauben an die erlösende Kraft seiner Geschichtstheologie zu erklärender Zwang, die Urgeschichte der Moderne auch unter den feindlichsten Bedingungen der Gegenwart weiterzutreiben. Der Tod wurde auf der beschwerlichen Flucht über die spanische Grenze einkalkuliert, um nur die berühmte Aktentasche außer Landes zu bringen. Ein jüngst entdeckter Augenzeugenbericht hat die letzten Stunden festgehalten (F.A.Z. vom 6. September). Zum Zeitpunkt seines Selbstmords wähnte Benjamin sein Werk wohl fälschlicherweise in Sicherheit. In einem Brief an Scholem heißt es: "Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und ihrer eigentümlichen Schönheit gerecht zu werden, darf man das Eine nie aus dem Auge lassen: es ist die von einem Gescheiterten." Es ist ein schwacher Trost, daß nach Benjamin nur ein solcher sich für die Rettung bereithalten kann.
Walter Benjamin: "Gesammelte Briefe". Band VI: "1938-1940". Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 630 S., geb., 98,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Eigentlich ist all das schon bekannt. Der Rezensentin wenigstens. Was der sechste und letzte Band der "Gesammelten Briefe" Walter Benjamins an Neuem, das heißt nicht bereits in die "Schriften"- Kommentare Aufgenommenem, zu bieten hat, schreibt Momme Brodersen, beschränke sich auf einige, immerhin "tiefe" Einblicke in Benjamins Pariser Zeit. Wer aber die Kommentare bisher verschmäht hat, auch das lässt Brodersen durchblicken, der stößt hier womöglich auf Dokumente, die sein bisheriges Bild von diesem wohl bedeutendsten deutschen Kritiker des 20. Jahrhunderts über den Haufen zu werfen geeignet sind. So zeigen die Briefe nicht nur einen alerten Zeitzeugen, der die welthistorischen Ereignisse seiner Tage zu kommentieren weiß, sondern lassen darüber hinaus Benjamins vermeintliche kommunistische Sympathien als rein taktische erscheinen - eines Menschen, "der sich sein Urteilsvermögen durch nichts und niemanden vernebeln lassen hat". Zusammen mit den Pariser Reflexionen sollte das die knapp hundert Mark für den Band wert sein, bedeutet uns die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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