Ein großer Erzähler und Meister der englischen Kurzgeschichte ist wiederzuentdecken. Die Spannungen zwischen Mann und Frau, Zivilisation und Natur, Gesellschaft und Individuum, Geist und Materialismus D.H. Lawrence Erzählungen sind so modern wie seine Themen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2008Die Narzisse, die Nerven und der Kohlenstaub
Das erzählerische Werk von D.H. Lawrence zeigt einen maskulinen Autor – doch keinen Macho
Ein großer Prosa-Autor ist einer, der sein eigenes Land erschafft – ein Land, in dem es dieselben Dinge gibt wie in unserem oder jedem sonstigen auch, aber so ganz anders akzentuiert und zusammengefügt, dass man, wenn man einige Zeit dort verweilt, sich auch an Wiederholungen nicht stört, sondern sich belehrt und bestätigt findet. Am unverwechselbarsten zeigt sich diese fremde Daseinsweise an der einzelnen Geste, was bei einem Autor heißen muss: am Satz.
„Aber das Mädchen fiel hin, und ich trug es und legte es unter den Bäumen nieder, bis ich eine Anzahl von Farnzweigen geschnitten hatte, darauf legten wir uns, indem ich mich an sie schmiegte und sie schützend mit meinem Körper bedeckte, dass sie darunter wie eine Nuss in der Schale lag, und so dämmerten wir durch die Nacht.” Dieser nicht sehr auffallende Satz steht mitten in einer Geschichte, die gleichfalls nicht besonders herausragt, „Eine Scherbe Buntglas”. Und doch hätte niemand anderes ihn schreiben können als David Herbert Lawrence, als viertes Kind eines Bergarbeiters 1885 im Norden Englands geboren und unter schwierigen Umständen zur Literatur gelangt.
In diesem einen Satz ist alles, was diesen Autor bezeichnet, beieinander ”wie eine Nuss in der Schale”: Es geht um Mann und Frau, und nur um diese, nachdem sie alle gesellschaftlichen Beschränkungen von sich abgeschüttelt und das Freie gewonnen haben (dass das Mädchen in der deutschen Übersetzung ein Neutrum ist, hätte Lawrence missfallen); Oben und Unten, die Rollen von Schützer und Beschützter sind klar verteilt, zur beiderseitigen Zufriedenheit; eine zarte Kraft, die ihr Zentrum in der Sexualität hat, aber weit über sie hinausstrahlt, durchdringt die Körper; und es waltet die Andacht zu den Pflanzen, zu Bäumen, Farn und Nuss, die das animalische Wesen an seine Wurzeln gemahnen.
Die böse Oma in der Flutwelle
Lawrence’ emblematische Pflanze, die eigentlich oder metaphorisch vielmals auf den fast zweitausend Seiten dieser Erzählungen und Kurzromane wiederkehrt, ist die Narzisse. Wie sie in ihrer fröhlichen schlanken Schönheit sich jedes Jahr gedächtnislos den Weg nach draußen bahnt, nichts von der Zeit weiß und deren Knappheit doch mit besonderer Dringlichkeit unterworfen ist, bedeutet sie für Lawrence, der nach einem unruhigen Wanderleben mit noch nicht 45 Jahren 1930 starb, das Sinnbild jugendlicher Natur. Hingegen bringt er wenig Verständnis für das Alter auf, namentlich nicht für alte Frauen. Wie Vampire sieht er sie das Leben ihrer Söhne aussaugen und den Töchtern den Bräutigam verprellen, sei es in der Erscheinungsform der gepflegten englischen Aristokratin, sei es als gestaltlos schwabbelnde Oma im Pfarrhaushalt, die von ihrem Lehnstuhl aus die Familie tyrannisiert.
Hier kann Lawrence, den man sonst durchaus zu den humorlosen Dichtern rechnen muss, einen feinen oder auch gröberen Sarkasmus entfalten. Nicht selten nimmt es bei ihm ein wohlgemut erzähltes böses Ende, etwa mit besagter Oma, die samt Lehnstuhl von einer Flutwelle fortgeschwemmt wird, während die unterdrückte Enkelin die schmale dunkle Hand eines Zigeuners packt und gerettet ist. Lawrence hat eine märchenhafte Art, Gerechtigkeit zu üben.
Im Gegensatz zu den modischen Strömungen seiner und auch noch unserer Zeit hält Lawrence den Mann und nicht die Frau für dasjenige der beiden Geschlechter, das dem Naturzustand näher und treuer geblieben ist. Die Frau ist es, die in der Gefahr des Geschichtlichen schwebt. Müßiggang macht sie hysterisch, Berufstätigkeit aber laugt sie aus. In „Mutter und Tochter” (die Mutter ist die Liebenswürdigkeit in Person und eine wahre Hyäne) begeht die Tochter den Fehler, als höhere Regierungsbeamtin zu fungieren. „Es ging alles auf Kosten ihrer Nerven. Sie hatte nicht die Durchhaltekraft eines Mannes. Während ein Mann auf seinen ‘alten Adam’ zurückgreifen kann, um eine Sache auszutragen, müssen bei einer Frau die Nerven dazu herhalten, und diese allein. Denn die alte Eva in ihr hat mit solcher Arbeit nichts zu tun. Daher kann geistige Verantwortung, geistige Konzentration, geistige Plackerei eine Frau schrecklich zurichten, zumal wenn sie Leiterin einer behördlichen Abteilung ist und nicht für jemanden Persönliches arbeitet. Die arme Virginia also wurde abgenutzt. Sie war jetzt so dünn wie eine Geländerstange, und ihre Nerven waren bis zur Fadenscheinigkeit ausgefranst.”
Äußerungen wie diese machen Lawrence zu einem vertrackten Verbündeten der Frauenbefreiung. Denn frei will er die Frau sehen, doch anders als den Mann. Die Regierungsbeamtin ist in seinen Augen nicht frei; er spricht von ihr voll eines Mitleids, das viele ihrer Geschlechtsgenossinnen heute wohl schwer erträglich fänden. Vor allem jedoch hält er die Dame für einen weiblichen Irrweg, weit schlimmer in ihren Tiefenwirkungen als das scheinbare Gegenstück, den Gentleman. Der Gentleman präsentiert eine bestimmte Fasson und Facette der Männlichkeit, nicht anders als der hergelaufene Strolch; beide Typen kommen bei Lawrence reichlich vor.
Der Strolch in ihrem Bett
Die Dame aber hat sich in den Panzer des Konventionellen verkapselt, den zu sprengen vornehmste Aufgabe des Mannes ist. Dazu bedarf es der Kraft und mitunter der Gewalt. Die körperliche Berührung ist für Lawrence ein Sakrament, heiliger als was sonst Liebe heißt und unverbrüchlich selbst dort, wo sie einem Missverständnis entspringt. In „Du hast mich angefasst” („You Touched Me”) schleicht sich die Tochter ins Zimmer ihres kranken Vaters und streichelt ihn, wie sie meint – doch im Bett liegt, wie der Wolf statt Rotkäppchens Großmutter, einer von jenen hergelaufenen Strolchen. Durch die irrtümliche Liebkosung fühlt er sich ermächtigt, sie zur Ehe zu drängen, mit ausdrücklicher Billigung des sterbenden Vaters, und zuletzt mit Erfolg. Überhaupt wimmelt es bei Lawrence von unvermuteten Heiratsanträgen – man würde gern sagen, aus heiterem Himmel, wenn der Himmel nicht so dicht vom Schicksal überzogen wäre. In diesen Augenblicken wird, wie das Graugansküken bei Konrad Lorenz auf sein Elterntier, der Mensch auf seine erwachsene geschlechtliche Existenz geprägt.
D.H. Lawrence, dessen Ruf des Obszönen sich bis in die Gegenwart erhalten hat, ist in Wahrheit ein inbrünstiger Gläubiger der Monogamie. Darum sind auch die unbehauensten, wortkargsten, anmaßendsten seiner Helden niemals Zyniker, wie ihre Brüder bei Brecht, oder hohle Masken des Machismo wie bei Hemingway. Wenn sie, was sie regelmäßig tun, sich Freiheiten gegenüber den Ladies herausnehmen, dann geben sie der Wahrheit der Ehre und der Natur ihr Recht. So revoltiert Lawrence gegen die englische Klassengesellschaft. Rebellischer Ernst umfängt ihn wie den Bergmann nach der Schicht der schwarze Kohlenstaub, ein, wie es heißt, sauberer Dreck, den ihm seine Frau am Kaminfeuer vom gebeugten Rücken waschen muss; es ist der liturgische Akt zwischen Mann und Frau in der arbeitenden Klasse.
Im Namen dieses Ernstes lehnt er sich auf gegen die alberne Prüderie seiner Zeit und handelt sich Prozesse ein. Liest man die entsprechenden Passagen heute, so stellt man fest, dass die Kühnheit von damals sich zum blumigen Softcore gewandelt hat; das Skandalöse erweist sich als der sterblichste Teil dieses Werks. „Der Lotus in ihrem Schoß war weit offen und breitete sich beinah klaffend in den violetten Strahlen der Sonne aus” – so was musste vor achtzig Jahren gestrichen werden und würde es am besten heute wieder.
Von den ungeheuren Massen dieser Prosa bleibt der Eindruck einer tiefen Aufrichtigkeit. Niemals spielt der Autor, alles sagt er so, wie er es meint. Seine Schönheit kann darum nicht grazil sein, seine Themenpalette nicht breit, und die Erzählperspektive nicht anders als strikt auktorial. Wunderbar sind Lawrence’ Naturschilderungen: „Hepburn fühlte sich glücklich in diesem Hochlandtal, diesem Mischbecken, dieser Wiege junger Gewässer. Schön ist das, dachte er, wie diese mächtigen Fangzähne und Peitschenschnüre aus Eis und Schnee sich in den Felsen gegraben haben, als hätte das Eis sich in das Fleisch der Erde eingefressen. Schön ist das, wie aus den Spitzen dieser Klauen und Zähne das Wasser hervorbricht mit rauhtönendem Geburtsschrei, um sich ins Tal zu stürzen.” So, erfüllt von der wilden Gleichform des Elementaren, soll der Mensch werden, um seines Leib- und Seelenfriedens willen.
BURKHARD MÜLLER
D.H. LAWRENCE: Gesammelte Erzählungen und Kurzromane. Herausgegeben von Daniel Keel und Daniel Kampa. Aus dem Englischen von Elisabeth Schnack, Martin Behaim-Schwarzbach, Karl Lerbs u.a.. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 2 Bände, zus. 1902 Seiten, Euro.
Die Männer sind dem Naturzustand näher als die Frauen: Alan Bates und Oliver Reed in Ken Russells Verfilmung von D.H. Lawrence‘ Roman „Women in Love” (1969). Links: D. H. Lawrence 1925 mit seiner Frau Frieda an Bord der S.S. Resolute. Fotos: Cinetext (oben), Corbis
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Das erzählerische Werk von D.H. Lawrence zeigt einen maskulinen Autor – doch keinen Macho
Ein großer Prosa-Autor ist einer, der sein eigenes Land erschafft – ein Land, in dem es dieselben Dinge gibt wie in unserem oder jedem sonstigen auch, aber so ganz anders akzentuiert und zusammengefügt, dass man, wenn man einige Zeit dort verweilt, sich auch an Wiederholungen nicht stört, sondern sich belehrt und bestätigt findet. Am unverwechselbarsten zeigt sich diese fremde Daseinsweise an der einzelnen Geste, was bei einem Autor heißen muss: am Satz.
„Aber das Mädchen fiel hin, und ich trug es und legte es unter den Bäumen nieder, bis ich eine Anzahl von Farnzweigen geschnitten hatte, darauf legten wir uns, indem ich mich an sie schmiegte und sie schützend mit meinem Körper bedeckte, dass sie darunter wie eine Nuss in der Schale lag, und so dämmerten wir durch die Nacht.” Dieser nicht sehr auffallende Satz steht mitten in einer Geschichte, die gleichfalls nicht besonders herausragt, „Eine Scherbe Buntglas”. Und doch hätte niemand anderes ihn schreiben können als David Herbert Lawrence, als viertes Kind eines Bergarbeiters 1885 im Norden Englands geboren und unter schwierigen Umständen zur Literatur gelangt.
In diesem einen Satz ist alles, was diesen Autor bezeichnet, beieinander ”wie eine Nuss in der Schale”: Es geht um Mann und Frau, und nur um diese, nachdem sie alle gesellschaftlichen Beschränkungen von sich abgeschüttelt und das Freie gewonnen haben (dass das Mädchen in der deutschen Übersetzung ein Neutrum ist, hätte Lawrence missfallen); Oben und Unten, die Rollen von Schützer und Beschützter sind klar verteilt, zur beiderseitigen Zufriedenheit; eine zarte Kraft, die ihr Zentrum in der Sexualität hat, aber weit über sie hinausstrahlt, durchdringt die Körper; und es waltet die Andacht zu den Pflanzen, zu Bäumen, Farn und Nuss, die das animalische Wesen an seine Wurzeln gemahnen.
Die böse Oma in der Flutwelle
Lawrence’ emblematische Pflanze, die eigentlich oder metaphorisch vielmals auf den fast zweitausend Seiten dieser Erzählungen und Kurzromane wiederkehrt, ist die Narzisse. Wie sie in ihrer fröhlichen schlanken Schönheit sich jedes Jahr gedächtnislos den Weg nach draußen bahnt, nichts von der Zeit weiß und deren Knappheit doch mit besonderer Dringlichkeit unterworfen ist, bedeutet sie für Lawrence, der nach einem unruhigen Wanderleben mit noch nicht 45 Jahren 1930 starb, das Sinnbild jugendlicher Natur. Hingegen bringt er wenig Verständnis für das Alter auf, namentlich nicht für alte Frauen. Wie Vampire sieht er sie das Leben ihrer Söhne aussaugen und den Töchtern den Bräutigam verprellen, sei es in der Erscheinungsform der gepflegten englischen Aristokratin, sei es als gestaltlos schwabbelnde Oma im Pfarrhaushalt, die von ihrem Lehnstuhl aus die Familie tyrannisiert.
Hier kann Lawrence, den man sonst durchaus zu den humorlosen Dichtern rechnen muss, einen feinen oder auch gröberen Sarkasmus entfalten. Nicht selten nimmt es bei ihm ein wohlgemut erzähltes böses Ende, etwa mit besagter Oma, die samt Lehnstuhl von einer Flutwelle fortgeschwemmt wird, während die unterdrückte Enkelin die schmale dunkle Hand eines Zigeuners packt und gerettet ist. Lawrence hat eine märchenhafte Art, Gerechtigkeit zu üben.
Im Gegensatz zu den modischen Strömungen seiner und auch noch unserer Zeit hält Lawrence den Mann und nicht die Frau für dasjenige der beiden Geschlechter, das dem Naturzustand näher und treuer geblieben ist. Die Frau ist es, die in der Gefahr des Geschichtlichen schwebt. Müßiggang macht sie hysterisch, Berufstätigkeit aber laugt sie aus. In „Mutter und Tochter” (die Mutter ist die Liebenswürdigkeit in Person und eine wahre Hyäne) begeht die Tochter den Fehler, als höhere Regierungsbeamtin zu fungieren. „Es ging alles auf Kosten ihrer Nerven. Sie hatte nicht die Durchhaltekraft eines Mannes. Während ein Mann auf seinen ‘alten Adam’ zurückgreifen kann, um eine Sache auszutragen, müssen bei einer Frau die Nerven dazu herhalten, und diese allein. Denn die alte Eva in ihr hat mit solcher Arbeit nichts zu tun. Daher kann geistige Verantwortung, geistige Konzentration, geistige Plackerei eine Frau schrecklich zurichten, zumal wenn sie Leiterin einer behördlichen Abteilung ist und nicht für jemanden Persönliches arbeitet. Die arme Virginia also wurde abgenutzt. Sie war jetzt so dünn wie eine Geländerstange, und ihre Nerven waren bis zur Fadenscheinigkeit ausgefranst.”
Äußerungen wie diese machen Lawrence zu einem vertrackten Verbündeten der Frauenbefreiung. Denn frei will er die Frau sehen, doch anders als den Mann. Die Regierungsbeamtin ist in seinen Augen nicht frei; er spricht von ihr voll eines Mitleids, das viele ihrer Geschlechtsgenossinnen heute wohl schwer erträglich fänden. Vor allem jedoch hält er die Dame für einen weiblichen Irrweg, weit schlimmer in ihren Tiefenwirkungen als das scheinbare Gegenstück, den Gentleman. Der Gentleman präsentiert eine bestimmte Fasson und Facette der Männlichkeit, nicht anders als der hergelaufene Strolch; beide Typen kommen bei Lawrence reichlich vor.
Der Strolch in ihrem Bett
Die Dame aber hat sich in den Panzer des Konventionellen verkapselt, den zu sprengen vornehmste Aufgabe des Mannes ist. Dazu bedarf es der Kraft und mitunter der Gewalt. Die körperliche Berührung ist für Lawrence ein Sakrament, heiliger als was sonst Liebe heißt und unverbrüchlich selbst dort, wo sie einem Missverständnis entspringt. In „Du hast mich angefasst” („You Touched Me”) schleicht sich die Tochter ins Zimmer ihres kranken Vaters und streichelt ihn, wie sie meint – doch im Bett liegt, wie der Wolf statt Rotkäppchens Großmutter, einer von jenen hergelaufenen Strolchen. Durch die irrtümliche Liebkosung fühlt er sich ermächtigt, sie zur Ehe zu drängen, mit ausdrücklicher Billigung des sterbenden Vaters, und zuletzt mit Erfolg. Überhaupt wimmelt es bei Lawrence von unvermuteten Heiratsanträgen – man würde gern sagen, aus heiterem Himmel, wenn der Himmel nicht so dicht vom Schicksal überzogen wäre. In diesen Augenblicken wird, wie das Graugansküken bei Konrad Lorenz auf sein Elterntier, der Mensch auf seine erwachsene geschlechtliche Existenz geprägt.
D.H. Lawrence, dessen Ruf des Obszönen sich bis in die Gegenwart erhalten hat, ist in Wahrheit ein inbrünstiger Gläubiger der Monogamie. Darum sind auch die unbehauensten, wortkargsten, anmaßendsten seiner Helden niemals Zyniker, wie ihre Brüder bei Brecht, oder hohle Masken des Machismo wie bei Hemingway. Wenn sie, was sie regelmäßig tun, sich Freiheiten gegenüber den Ladies herausnehmen, dann geben sie der Wahrheit der Ehre und der Natur ihr Recht. So revoltiert Lawrence gegen die englische Klassengesellschaft. Rebellischer Ernst umfängt ihn wie den Bergmann nach der Schicht der schwarze Kohlenstaub, ein, wie es heißt, sauberer Dreck, den ihm seine Frau am Kaminfeuer vom gebeugten Rücken waschen muss; es ist der liturgische Akt zwischen Mann und Frau in der arbeitenden Klasse.
Im Namen dieses Ernstes lehnt er sich auf gegen die alberne Prüderie seiner Zeit und handelt sich Prozesse ein. Liest man die entsprechenden Passagen heute, so stellt man fest, dass die Kühnheit von damals sich zum blumigen Softcore gewandelt hat; das Skandalöse erweist sich als der sterblichste Teil dieses Werks. „Der Lotus in ihrem Schoß war weit offen und breitete sich beinah klaffend in den violetten Strahlen der Sonne aus” – so was musste vor achtzig Jahren gestrichen werden und würde es am besten heute wieder.
Von den ungeheuren Massen dieser Prosa bleibt der Eindruck einer tiefen Aufrichtigkeit. Niemals spielt der Autor, alles sagt er so, wie er es meint. Seine Schönheit kann darum nicht grazil sein, seine Themenpalette nicht breit, und die Erzählperspektive nicht anders als strikt auktorial. Wunderbar sind Lawrence’ Naturschilderungen: „Hepburn fühlte sich glücklich in diesem Hochlandtal, diesem Mischbecken, dieser Wiege junger Gewässer. Schön ist das, dachte er, wie diese mächtigen Fangzähne und Peitschenschnüre aus Eis und Schnee sich in den Felsen gegraben haben, als hätte das Eis sich in das Fleisch der Erde eingefressen. Schön ist das, wie aus den Spitzen dieser Klauen und Zähne das Wasser hervorbricht mit rauhtönendem Geburtsschrei, um sich ins Tal zu stürzen.” So, erfüllt von der wilden Gleichform des Elementaren, soll der Mensch werden, um seines Leib- und Seelenfriedens willen.
BURKHARD MÜLLER
D.H. LAWRENCE: Gesammelte Erzählungen und Kurzromane. Herausgegeben von Daniel Keel und Daniel Kampa. Aus dem Englischen von Elisabeth Schnack, Martin Behaim-Schwarzbach, Karl Lerbs u.a.. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 2 Bände, zus. 1902 Seiten, Euro.
Die Männer sind dem Naturzustand näher als die Frauen: Alan Bates und Oliver Reed in Ken Russells Verfilmung von D.H. Lawrence‘ Roman „Women in Love” (1969). Links: D. H. Lawrence 1925 mit seiner Frau Frieda an Bord der S.S. Resolute. Fotos: Cinetext (oben), Corbis
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Der hier rezensierende Helmut Krausser lobt den Diogenes Verlag für die Edition dieser Erzählungen und Kurzromane des Skandalautors von einst, und empfiehlt eine vorurteilslose Lektüre. Und zwar ebenso was die Rezeption dieses Werkes als auch seine Thematik betrifft. Denn obwohl in diesem Werk aus Kraussers Sicht nicht alles die strengen Klassikerkriterien erfüllt, manches gar etwas zu blumig und schnörkelig daherkommt (und essentielle Botschaften durch das Überstülpen eines "artifiziellen Kondoms" stark abgemildert würden), gibt es hier doch Texte mit Ewigkeitswert (wieder) zu entdecken. In diesem Zusammenhang hebt der Rezensent besonders die Erzählungen "Der Mann, der gestorben war" als blasphemische Jesus-Paraphrase mit Trash-Qualitäten hervor - und die Geschichte "Sonne", die ihn als abgründiges Protokoll weiblicher Sehnsüchte faszinierte. Auch wird Krausser nicht müde, D.H. Lawrence literarische Pionierarbeit "auf dem Feld der erotischen Obsession" zu preisen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Intensität der Lawrence-Sprache kann von keinem Film-Dialog erreicht werden, er sei denn von einem Lawrence geschrieben.« Ludwig Marcuse