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Seit über sechs Jahrzehnten knüpft Friederike Mayröcker in ihren Gedichten an einem magischen Sprachteppich. Die Sprachfäden schießen ineinander, entfalten ein so filigranes wie weit austreibendes Geflecht, das alle Festlegungen überschreitet. Unermüdlich erprobt die Dichterin die Übersetzbarkeit von Materie in Sprache, wagt sich immer neu durch unerschlossene Schichten. Gesehenes, Erlebtes, Erfundenes, im Geiste Erlebtes und Geträumtes - alles findet Eingang ins Textgewebe. Wortneuschöpfungen stehen neben Fremdzitaten und Selbstverfremdungen, Spuren ihrer Auseinandersetzung mit Werken von…mehr

Produktbeschreibung
Seit über sechs Jahrzehnten knüpft Friederike Mayröcker in ihren Gedichten an einem magischen Sprachteppich. Die Sprachfäden schießen ineinander, entfalten ein so filigranes wie weit austreibendes Geflecht, das alle Festlegungen überschreitet. Unermüdlich erprobt die Dichterin die Übersetzbarkeit von Materie in Sprache, wagt sich immer neu durch unerschlossene Schichten. Gesehenes, Erlebtes, Erfundenes, im Geiste Erlebtes und Geträumtes - alles findet Eingang ins Textgewebe. Wortneuschöpfungen stehen neben Fremdzitaten und Selbstverfremdungen, Spuren ihrer Auseinandersetzung mit Werken von Schriftsteller-Kollegen neben solchen ihres Umgangs mit Malerei und Musik - in allem spricht sich eine ungestüme Wahrnehmungskraft aus, ein Abtasten der Welt, das nichts ausschließt, aufs Ganze geht.

Der zum 80. Geburtstag der Autorin von Marcel Beyer herausgegebene Band präsentiert neben sämtlichen bislang veröffentlichten Gedichten (in Buchform oder verstreut publiziert) auch alle unveröffentlichten Gedichte, die nach Durchsicht der Manuskripte von der Autorin für "gültig" befunden wurden, und zwar von 1939, als sie mit dem Schreiben begann, bis heute.
Autorenporträt
Mayröcker, Friederike
Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. Sie besuchte zunächst die Private Volksschule, ging dann auf die Hauptschule und besuchte schließlich die kaufmännische Wirtschaftsschule. Die Sommermonate verbrachte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr stets in Deinzendorf, welche einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterließen. Nach der Matura legte sie die Staatsprüfung auf Englisch ab und arbeitete zwischen 1946 bis 1969 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. Bereits 1939 begann sie mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre später folgten kleinere Veröffentlichungen von Gedichten. Im Jahre 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zunächst eine enge Freundschaft verbindet, später wird sie zu seiner Lebensgefährtin. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift "Plan" erfolgte 1956 ihre erste Buchveröffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erzählungen und Hörspiele, Kin

derbücher und Bühnentexte.

Beyer, Marcel
Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs in Kiel und Neuss auf. Er studierte von 1987 bis 1991 Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 Magister artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Der Autor erhielt zahlreiche Preise, darunter 2008 den Joseph-Breitbach-Preis und 2016 den Georg-Büchner-Preis. Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2004

Plankton des Auges
Wacholderherz: Die Gedichte von Friederike Mayröcker

So wird Ekstase zur Disziplin." Genauer und knapper als mit ihren eigenen Worten läßt sich der ungeheure, über fünfzig Jahre währende Vorgang nicht beschreiben oder gar erklären, der in Friederike Mayröckers "Gesammelten Gedichten" Gestalt angenommen hat.

Friederike Mayröcker wurde 1924 in Wien geboren, verbrachte eine stille Kindheit mit großelterlichem Paradiesgarten in Deinzendorf, der 1934 verlorenging. Die Bindung an die Eltern war und blieb stark - und plötzlich waren Wunsch und Fähigkeit, Gedichte zu schreiben, einfach da. "Ich notierte auf einem grünseidenen Kanapee/ mein erstes Gedicht." Das ist noch sehr preziös gesagt, wie auch die Trochäen "Durch die Gitter meines Herzens / scheint die Welt mir seltsam fremd" bloß nach kopiertem Rilke klängen, folgte da nicht der Schluß: "manchmal wirfst du eine Rose/ wie ein Stückchen rohes Fleisch / im Vorübergehn herein". Die Lässigkeit des Vergleichs wischt das Epigonale blitzschnell beiseite und läßt an eine Großkatze denken, die eine einzelne Kralle ausprobiert. Es folgen kleine Gedichte mit der paradoxen Stringenz eines Bildgedankens von Magritte: "die Eisenbahnen/ mit ihren gewissenhaften Rädern,/ emsig nähen sie die grüne/ (oder graue oder weisze)/ Landschaft zusammen/ wie eine Nähmaschine/ das Tuch".

Aber was an poetischer Kraft in Friederike Mayröcker allmählich zusammenschoß, wurde erst 1966 in der großen Gedichtsammlung "Tod durch Musen" kenntlich, die Gedichte ganz unterschiedlicher Bauformen enthält. Durch Affirmation und Negation polar zusammengespannte Strophenpaare stehen neben zwei Oden, schwingende Langgedichte und Textmontagen bilden indes den Hauptteil des Bandes, der die errungene Höhe zu Mitte der sechziger Jahre zeigt: vielstimmige Konstruktionen, die die "Stereotypie Europas" durch Collagen aus Gesehenem und Aufgelesenem durchbrechen.

"Tod durch Musen" versammelt Gedichte aus zwei Jahrzehnten und verdeckt so die lange Latenzzeit, aber auch die intensive Arbeit, die Friederike Mayröckers Kunst durchlaufen mußte. Zwar hatte sie im konservativen Nachkriegswien früh in Zeitschriften publizieren können und Kontakt zur Wiener Gruppe, zu Andreas Okopenko und zum Literaturbetrieb gefunden, zwar trat 1954 Ernst Jandl, der "Herz- und Handgefährte", ins Leben von Friederike Mayröcker, aber der Brotberuf des Englischunterrichts behinderte Werk und Leben bis 1969: "meine frischesten Jahre gingen darauf" heißt es noch 1984. Erst als sie sich vom Schuldienst befreien kann, setzt eine stete Produktion ein, der vier Fünftel der fünfbändigen Prosaausgabe von 2001 zu verdanken sind, und auch mehr als zwei Drittel der Gedichte sind erst seit den frühen siebziger Jahren entstanden.

Woraus nun speist sich dieser Sprachstrom, der auf den ersten Blick wie mäandrierende Berichte aus einer Schreibwerkstatt und wie "huschende" Assoziationen aussieht? Aus unbegrenzter Aufmerksamkeit. "Es ist ein unausgesetztes Rezipieren, ein unausgesetztes Registrieren der schaubaren, hörbaren Welt": Friederike Mayröckers Kunst gleicht einem Meßgerät für kosmische Strahlung, das aber im Unterschied zu allen technischen Apparaturen den wahrnehmenden Menschen, die Sprache und das "Lunatische neben der Präzision" voraussetzt. Allein die "im Kosmos der Sprache wildernde Muse" vermag den eigenen Blick, Geist, Sprachtrieb als Medium darzustellen, in den etwas einbricht, in dem etwas geschieht, das wir durch unsere benutzte Alltagssprache weder wahrnehmen noch aussprechen könnten.

Wörter, Dinge, Gedanken, Bilder, Zitate, Farben und Gerüche verfangen sich in einem hochsensiblen Kollektor, um zunächst auf Zetteln fixiert zu werden. Reflexhaft bilden sich spontane Junkturen wie "jauchzende Vergeblichkeit" und Wort-Komposita. "Bergtröster, Gefühlsschäbigkeit, Wacholderherz, Lichtverschmutzung, Schwalbenschuhe, Lebensfehler. Hirnschaber, Komponierseide . . ." - die Liste meteoritenhafter Einwortgedichte ließe sich endlos fortsetzen. Eines der schönsten ist "Selbstverschwendung", da es gleichsam den Extrakt aus drei programmatischen Versen bietet: "zerstreute Gelassenheit -/ rabiate Performance: ich bin/ mein eigener Minderbruder".

Diese Ethik weist den Einwand subjektiver Beliebigkeit zurecht, den man solchem Agglomerieren von "Plankton des Augs" machen könnte. Auf den Akt spontaner Sammlung folgt radikale Arbeit, die die Preisgabe des eigenen Lebens fordert: "Literatur der Zersplitterung (als Medium des Mitleids)". Der Verzicht auf ein starkes Subjekt ist nicht Ergebnis der - offensichtlichen - Einflüsse der Dadaisten, des Surrealismus, Gertrude Steins, Roland Barthes' oder Jacques Derridas, sondern entspringt dem Wunsch, ganz bei den Dingen und Menschen zu sein. Diese Rückhaltlosigkeit, "daß das Spontane nie dem Maßvollen untergeordnet werden dürfe", wird nur durch den immensen Kunstwillen verwirklicht, "daß . . . die Kontrolle über das Schweifende (also die eigentliche poetische Substanz) nie erlahmen dürfe".

Friederike Mayröcker hat diese Prozeßhaftigkeit vor allem in den großen Prosabüchern einsehbar gemacht, deren Komposition die einzelnen Motive aus den Momenten ihrer Genese löst. Für die Lyrik muß dies der Leser selbst leisten. Viele Gedichte scheinen unmittelbar zugänglich, wollen aber wirklich genau gelesen werden, etwa das "für Ernst Jandl" geschriebene Liebesgedicht "der Garten, funkelnd wie seine Gewässer". Hinter dieser Paradiesverheißung tut sich äußerst Prosaisches auf: "mit zwei leeren Plastiksäcken über/ den Hof, mir entgegen, mit zwei leeren windgeblähten/ Plastiksäcken mir entgegen, über den Hof,/ Abendessen zu holen für uns . . ." Zwei Anläufe mit minutiös variierter Interpunktion und tastender Rhythmik sind nötig, um aus zwei Facetten eine Wahrnehmung zusammenzusetzen, die aber immer noch nicht genau genug gelingen will, die noch durch eine "Zerreißprobe" hindurch und ein weiteres Mal wiederholt werden muß, ehe es zu einem Kuß kommt, "und/ da ist wieder einer jener seltenen/ Wahrheitsmomente, für die es sich lohnt weiter/ zu leben". Das Gedicht endet aber nicht mit dieser Sentenz, sondern fährt nüchtern fort: "um derethalben/ ich dich zu lieben glaube, zum Beispiel/ Tremolo so verflochten, während ich,/ Irrwisch, die Augen beschattend, dasz/ schwimmenden Spiegels Spur/ darin/ du nicht sehen sollst." Erst jetzt zeigt dieser Text Wirkliches. Was als Versuch objektiver Beschreibung einsetzte, um in einem Kuß zu kulminieren, wird reflexiv zerlegt ("zu lieben glaube, zum Beispiel"), spöttisch zersungen ("Tremolo") und mündet in Tränen der Rührung, die dem anderen verborgen bleiben sollen. Die "Gewässer" verschließen die eigenen Augen zu einem Spiegel. Nur solch wahrhaftiger Kunst vermag auch das irdische Scheitern zu glücken.

Die jetzt, kurz vor dem achtzigsten Geburtstag Friederike Mayröckers erschienene Ausgabe der "Gesammelten Gedichte" ist eine Pracht, enthält sie doch neben den in Büchern enthaltenen auch verstreute und mehr als hundert unpublizierte Gedichte aus früher und jüngster Zeit. Die Anordnung folgt, soweit sich diese rekonstruieren ließ, der Chronologie des Entstehens. Die Daten sind im Inhaltsverzeichnis nachgewiesen, ein Register und die im Anhang aufgeschlüsselte Anordnung der Gedichte in den ursprünglichen Bänden ermöglichen die Zuordnung von Entstehung und Publikationskontext. Das Verfahren ist nicht unproblematisch, da die Chronologie zu einer biographischen Lesart verführt; Marcel Beyer begründet das Vorgehen im Anhang jedoch ebenso umsichtig, wie er die Edition insgesamt gestaltet hat. Trotzdem muß man viel blättern, um ein klares Bild zu gewinnen, um zu ordnen und um die Ordnung lesend wieder aufzulösen.

Zu entdecken ist dabei die Tatsache, daß der Tod Ernst Jandls im Juni 2000 auf Seite 693 versteckt ist. Nach drei Monaten des Verstummens beginnen erneut Gedichte zu entstehen, insgesamt achtzig Seiten tiefster Trauer, erinnerter Lebenslust ("ratterten die Wiese hinab usw."), Briefgedichte an Freunde, Meditationen über Kunstwerke ("Morandi") und physischen Verfall, Poetik ("ich arrangiere ein Gedicht") und Momente der Klarheit: "ich denke Sprache". Man muß diesen Satz mehrmals lesen, um zu spüren, wie fremd die Sprache geworden sein muß, um sie denken zu können - und wie lebendig Friederike Mayröcker am nächsten Morgen (11./12. Februar 2003) neu beginnt: "habe gerade die Sprache erfunden rasende Sprache".

Die Dichterin, deren Ich von sich sagt, "mit verkohlten Augen" zu leben, schreibt weiter am "Lebendgedicht". Liest man dieses rückwärts und sucht erneut nach seinem ersten Keim, so findet man auf Seite 8 den Ausruf "O Knospe", der vom 8. Juli 1946 datiert: "In ihr ist alles schon/ da: jedes lockere/ Lächeln und der bereite/ Sturz in den schimmernden/ Nacken und jener/ Aufschwung im Aug/ der entzückt." Beglückend, hinreißend, zum Niederknien (wie der Wiener sagen würde).

Friederike Mayröcker: "Gesammelte Gedichte 1939 - 2003". Herausgegeben von Marcel Beyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 856 S., geb., 27,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Hinreißend, beglückend und zum Niederknien findet Rezensent Thomas Poiss diesen Gedichtband von Friederike Mayröcker immer wieder und lobt auch Marcel Beyer für seine umsichtige Herausgeberschaft ihrer Lyrik aus über fünfzig Jahren. Die Anordnung folge der Chronologie des Entstehens der Gedichte und enthält Poiss zufolge nicht nur einige bisher ausschließlich in Prosabüchern publizierte, sondern auch über hundert gänzlich unpublizierte Gedichte. Die Entstehungsdaten sind dem Rezensenten zufolge im Inhaltsverzeichnis nachzulesen. Ein Register im Anhang ermöglichte ihm die Einordnung der Texte in ihren ursprünglichen Publikationszusammenhang. In seinem Streifzug durch die über achthundert Seiten der Edition reflektiert der Rezensent einzelne Schaffensperioden der österreichischen Dichterin. Hauptteil des Bandes bilden seinen Informationen zufolge die schwingenden Gedichte und Textmontagen aus den Sechziger Jahren, welche der Rezensent als Mayröckers Hochzeit empfand.

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"Ist man in den Gedaokenfluss der 94-Jährigen gestiegen, will man nicht mehr heraus. Die Österreicherin lässt uns den Effizienztrieb des Menschen vergessen - ein wunderbares Treiben."
Swantje Karich, Die Literarische Welt 12.10.2019