"Der vierte Band der Gesammelten Gedichte wird zu Karl Krolows 82. Geburtstag vorgelegt. Er enthält die seit 1988 erschienenen Gedichtbände: Als es soweit war (1988), Ich höre mich sagen (1992) und Die zweite Zeit (1995). Vier Bände von insgesamt ca. 1150 Seiten sind das Dokument einer Zeitgenossenschaft. Karl Krolow hat zeit seiner Arbeit auf die Möglichkeiten der Sprache reagiert und sie mit immer neuer Überlegenheit angewandt; nicht zuletzt in den Gedichtbüchern der letzten Jahre."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.1997Illumination der Schwäche
Für immer im Ohr derer, die hören: Karl Krolows Gesammelte Gedichte · Von Thomas Poiss
Karl Krolow ist nicht beizukommen. Der "Proteus unter den deutschen Lyrikern" (Harald Hartung) entzieht sich jedem Zugriff durch das Raffinement seiner Stimmführung. "Meine Schreibweise / wird täglich zufälliger", heißt es dazu etwas ironisch zu Beginn des Bandes, der Krolows letzte drei Einzelpublikationen bis zum Jahr 1995 vereinigt und jetzt als vierter Teil die "Gesammelten Gedichte" mit einem Gesamtregister beschließt. Das Spätwerk setzt die Tonvielfalt von über fünfzig Schreibjahren fort, in denen Krolow vom Naturgedicht über den Surrealismus und die "Alltäglichen Gedichte" bis zur Wiedergewinnung von gereimten Formen alle Stadien durchlaufen hat. Freilich nicht ohne Brüche, denn spätestens seit "Herbstsonett mit Hegel" (1981) ist ein härterer, bitterer Tonfall bei dem Dichter nicht mehr zu überhören, der zuvor einige der zartesten und lichtesten Gebilde deutscher Sprache nach 1945 geschaffen hatte.
So ist auch jetzt die ganze Spannweite präsent: "Der Zufall will, / daß dir eine Melodie / im Kopf bleibt ohne Worte / die sind vergessen / wie manches, / das dich lieb hatte / und es nicht sagte." Das prägt sich erfreulich beim allerersten Lesen ein - und gleich daneben enthält der Band Gräßliches, gräßlich Gesagtes: "Leben: das heißt doch erniedrigen", schlimmer: "Und Leben heißt: es hat sich ausgefickt", und noch schlimmer: "Laß mich am Leben, laß / mir die sanfte Onanie. / Dasein, das traf ins Schwarze." Dies sind keine Zufallsfunde aus einem vereinzelten Gedicht, sondern Zitate aus einigen der vielen Texte, die das Skandalon physischen Verfalls schwelgerisch denunzieren. Freilich kommt einem dabei ein Diktum in den Sinn, das einst der Romanist Krolow abgab: "Deutsche Gedichte - auch neue und neueste - wollen immer zuviel, wenn ich so sagen soll. Sie kommen mit ihrer Bedeutung daher, die mir zu deutlich ist, zu grob oder zu artifiziell und jedenfalls mir zu wenig diskret."
Aber einem Proteus ist nicht durch Nachweis von Selbstwiderspruch beizukommen, hat er doch selbst beim Anordnen der Sammlung Feines neben Krudes gestellt, den "Päonienstrauch" nicht weit vom "Minuten-Abgrund", das Naturgedicht neben die obszönste Sprachverwendung. Will man Krolow gerecht werden, muß man ihn hörend in Stimmen differenzieren, in Augenblick-Ichs, wie sie den gewöhnlichen Menschen meist unbemerkt durchziehen, denen aber erst die Aktivität des Lyrikers die präzise Form einer Haltung gibt, den Duktus einer nachvollziehbaren Geste. Der Leser kann sie anprobieren, wie man in einen Handschuh fährt: in existentiellem Kontakt, doch ohne Identifikation.
Zentraler Kunstgriff ist dabei die virtuose Anwendung des Wörtchens "man" und seiner Äquivalente. Krolow hat sich in einem poetologischen Gespräch 1993 dazu geäußert: Das "man" sei nicht mit Heidegger als indifferente Reduktionsstufe des Daseins zu verstehen, sondern als ein zurückgenommenes "Ich". Der Dichter bekennt sich zu einer behutsamen Ich-Position, die den "Illuminationen der Schwäche" diene. So gelesen, läßt sich die irritierende Spanne von Krolows Kunst als offener, bisweilen ins Unverbindliche übergehender Raum von Möglichkeiten und Hinweisen verstehen.
Leitwort vieler Gedichte dieses Bandes ist daher das deiktische Wort "so", das in allen Nuancen erscheint: "Haut, die sich schält, riecht so.", "Ich falle so.", "Liebt man so?", "So leben sie: dialytisch." Die Liste ließe sich beliebig verlängern, doch ihren Maßstab erhält sie durch das Folgende: "Der Atem will uns stocken: / die Wahrheit entdecken wir so." Diese Verpflichtung auf das Kriterium jeder Kunst, die Wahrheit, bindet auch den Proteus. Aus Krolows reichem Werk wird das bestehen, das ihr entspricht - ohne Ansehen, ob es um Obszönes, Zartes, scheinbar Triviales oder um poetische Reflexion geht. Das gilt auch im bei Krolow stets präsenten Bereich von Politik und Geschichte. Zwei Kommentare von 1992 mögen hier genügen. Eine Formulierung wie "Zuviel Vereinigung. Einigkeit / hört sich gut an im Lied, / das man lieber gar nicht erst anstimmt" wird justiert durch die wesentlich subtilere Beobachtung: "Zwei Sprachen werden nun eine. / Und die Sprache ist nicht mehr deine."
Krolows Spätwerk ist nicht frei von Tendenzen, die er einst selbst treffend einen "sprachlichen Verholzungsprozeß" genannt hat. Auch mancher Kalauer hat sich unüberhörbar eingeschlichen. Aber was zählt das schon bei jemandem, der das bezaubernde "Air" geschrieben hat, dessen Beginn jede und jeden zum Weiterlesen verführt: "Mädchen, du gehörst dir nicht mehr. / Du wurdest in der Luft ein Lied, das ich summe, / ganz einfach ein Lied, das / keine Noten braucht, / für immer im Ohr für die, / die es hören, ganz einfach / die Melodie in der Luft, / in der du lebtest, / als du über mich lachtest." Wollte man eine Summe des von Abschieden geprägten Bandes wie der "Gesammelten Gedichte" insgesamt ziehen, so kann diese nur lauten: "Es ist dieser Lebensschimmer. / Sehe ich gern zurück? / Manchmal hatte man Glück. / Und einiges gilt für immer."
Karl Krolow: "Gesammelte Gedichte. Band 4". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 220 S., geb., 48,- DM.
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Für immer im Ohr derer, die hören: Karl Krolows Gesammelte Gedichte · Von Thomas Poiss
Karl Krolow ist nicht beizukommen. Der "Proteus unter den deutschen Lyrikern" (Harald Hartung) entzieht sich jedem Zugriff durch das Raffinement seiner Stimmführung. "Meine Schreibweise / wird täglich zufälliger", heißt es dazu etwas ironisch zu Beginn des Bandes, der Krolows letzte drei Einzelpublikationen bis zum Jahr 1995 vereinigt und jetzt als vierter Teil die "Gesammelten Gedichte" mit einem Gesamtregister beschließt. Das Spätwerk setzt die Tonvielfalt von über fünfzig Schreibjahren fort, in denen Krolow vom Naturgedicht über den Surrealismus und die "Alltäglichen Gedichte" bis zur Wiedergewinnung von gereimten Formen alle Stadien durchlaufen hat. Freilich nicht ohne Brüche, denn spätestens seit "Herbstsonett mit Hegel" (1981) ist ein härterer, bitterer Tonfall bei dem Dichter nicht mehr zu überhören, der zuvor einige der zartesten und lichtesten Gebilde deutscher Sprache nach 1945 geschaffen hatte.
So ist auch jetzt die ganze Spannweite präsent: "Der Zufall will, / daß dir eine Melodie / im Kopf bleibt ohne Worte / die sind vergessen / wie manches, / das dich lieb hatte / und es nicht sagte." Das prägt sich erfreulich beim allerersten Lesen ein - und gleich daneben enthält der Band Gräßliches, gräßlich Gesagtes: "Leben: das heißt doch erniedrigen", schlimmer: "Und Leben heißt: es hat sich ausgefickt", und noch schlimmer: "Laß mich am Leben, laß / mir die sanfte Onanie. / Dasein, das traf ins Schwarze." Dies sind keine Zufallsfunde aus einem vereinzelten Gedicht, sondern Zitate aus einigen der vielen Texte, die das Skandalon physischen Verfalls schwelgerisch denunzieren. Freilich kommt einem dabei ein Diktum in den Sinn, das einst der Romanist Krolow abgab: "Deutsche Gedichte - auch neue und neueste - wollen immer zuviel, wenn ich so sagen soll. Sie kommen mit ihrer Bedeutung daher, die mir zu deutlich ist, zu grob oder zu artifiziell und jedenfalls mir zu wenig diskret."
Aber einem Proteus ist nicht durch Nachweis von Selbstwiderspruch beizukommen, hat er doch selbst beim Anordnen der Sammlung Feines neben Krudes gestellt, den "Päonienstrauch" nicht weit vom "Minuten-Abgrund", das Naturgedicht neben die obszönste Sprachverwendung. Will man Krolow gerecht werden, muß man ihn hörend in Stimmen differenzieren, in Augenblick-Ichs, wie sie den gewöhnlichen Menschen meist unbemerkt durchziehen, denen aber erst die Aktivität des Lyrikers die präzise Form einer Haltung gibt, den Duktus einer nachvollziehbaren Geste. Der Leser kann sie anprobieren, wie man in einen Handschuh fährt: in existentiellem Kontakt, doch ohne Identifikation.
Zentraler Kunstgriff ist dabei die virtuose Anwendung des Wörtchens "man" und seiner Äquivalente. Krolow hat sich in einem poetologischen Gespräch 1993 dazu geäußert: Das "man" sei nicht mit Heidegger als indifferente Reduktionsstufe des Daseins zu verstehen, sondern als ein zurückgenommenes "Ich". Der Dichter bekennt sich zu einer behutsamen Ich-Position, die den "Illuminationen der Schwäche" diene. So gelesen, läßt sich die irritierende Spanne von Krolows Kunst als offener, bisweilen ins Unverbindliche übergehender Raum von Möglichkeiten und Hinweisen verstehen.
Leitwort vieler Gedichte dieses Bandes ist daher das deiktische Wort "so", das in allen Nuancen erscheint: "Haut, die sich schält, riecht so.", "Ich falle so.", "Liebt man so?", "So leben sie: dialytisch." Die Liste ließe sich beliebig verlängern, doch ihren Maßstab erhält sie durch das Folgende: "Der Atem will uns stocken: / die Wahrheit entdecken wir so." Diese Verpflichtung auf das Kriterium jeder Kunst, die Wahrheit, bindet auch den Proteus. Aus Krolows reichem Werk wird das bestehen, das ihr entspricht - ohne Ansehen, ob es um Obszönes, Zartes, scheinbar Triviales oder um poetische Reflexion geht. Das gilt auch im bei Krolow stets präsenten Bereich von Politik und Geschichte. Zwei Kommentare von 1992 mögen hier genügen. Eine Formulierung wie "Zuviel Vereinigung. Einigkeit / hört sich gut an im Lied, / das man lieber gar nicht erst anstimmt" wird justiert durch die wesentlich subtilere Beobachtung: "Zwei Sprachen werden nun eine. / Und die Sprache ist nicht mehr deine."
Krolows Spätwerk ist nicht frei von Tendenzen, die er einst selbst treffend einen "sprachlichen Verholzungsprozeß" genannt hat. Auch mancher Kalauer hat sich unüberhörbar eingeschlichen. Aber was zählt das schon bei jemandem, der das bezaubernde "Air" geschrieben hat, dessen Beginn jede und jeden zum Weiterlesen verführt: "Mädchen, du gehörst dir nicht mehr. / Du wurdest in der Luft ein Lied, das ich summe, / ganz einfach ein Lied, das / keine Noten braucht, / für immer im Ohr für die, / die es hören, ganz einfach / die Melodie in der Luft, / in der du lebtest, / als du über mich lachtest." Wollte man eine Summe des von Abschieden geprägten Bandes wie der "Gesammelten Gedichte" insgesamt ziehen, so kann diese nur lauten: "Es ist dieser Lebensschimmer. / Sehe ich gern zurück? / Manchmal hatte man Glück. / Und einiges gilt für immer."
Karl Krolow: "Gesammelte Gedichte. Band 4". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 220 S., geb., 48,- DM.
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