»Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, dass wir diese Welt in Worte fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.« Zbigniew Herbert hat Lyrik nie als bloße Wortkunst verstanden. Von der »nackten Poesie«, den kargen Versen des Debütbandes Lichtsaite (1956), bis zum Bericht über eine belagerte Stadt (1983) spricht er von der Zerbrechlichkeit des Menschen und der Übermacht einer gewaltverfallenen Geschichte. Doch nicht die Klage bestimmt den Ton, denn Herbert verfügt über eine Vielzahl von Tonlagen und Formen, vom ironischen Epigramm bis zum erzählenden Poem. Unter den Gestalten, die in seinen Rollengedichten auftreten, ist auch »Herr Cogito«, ein Verwandter von Valérys »Monsieur Teste«, der sich auf die Kunst versteht, Schmerz und Ratio miteinander zu verschmelzen. Hermes, Hund und Stern, Studium des Gegenstandes, Inschrift und weitere sechs Gedichtsammlungen, die Zbigniew Herbert zwischen 1956 und 1998 veröffentlicht hat, erscheinen hier erstmals vollständig und in ihrer ursprünglichen Gestalt und Reihenfolge. Mehr als hundert Gedichte wurden noch nie ins Deutsche übersetzt. Ein neuer Flügel im Museum der modernen Poesie ist eröffnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2016Eine Antwort geben auf die Einflüsterungen der Angst
Dichten unter der Cogito-Maske: Das Gesamtwerk des großen polnischen Lyrikers Zbigniew Herbert liegt nun in einer vorzüglichen Edition auch auf deutsch vor
In einem späten Gedicht schreibt Zbigniew Herbert über "das Buch": "Dieses Buch mahnt mich sanft es erlaubt mir nicht /schnell zu laufen im Takt der rollenden Phrase / es heißt mich zum Anfang zurückkehren immer von neuem beginnen." Ein solches Buch hat man mit Herberts "Gesammelten Gedichten" vor sich. Es ist ein wahrhaft bedeutendes Buch, die deutsche Version eines großen Lebenswerks. Es umfasst fast 700 Seiten mit 402 Gedichten, die von fünf namhaften Übersetzern übertragen wurden. Aus ihnen spricht die deutsche Stimme eines Dichters, dessen Traum ein anonymes Schaffen war und der dennoch die Versuchung des Ruhms kannte. Auch wenn er seinem Herrn Cogito eines seiner Bücher überließ, stand doch immer der Name Zbigniew Herbert auf dem Cover. Auf dem dicken Block des Sammelbandes zündet er sich eine Zigarette an - die anachronistische Geste des alten Meisters, der Herbert geworden war.
Die polnische Ausgabe der Gedichte erschien 2008, zehn Jahre nach Herberts Tod. Der Lyriker Ryszard Krynicki, der sie besorgte, hat nun auch die deutsche Edition herausgegeben. Sie enthält die Texte des lyrischen Werks vollständig und in ursprünglicher Reihenfolge, darunter 144 Gedichte, die noch nicht auf Deutsch vorlagen, vor allem frühe Gedichte in der Übersetzung Renate Schmidgalls.
Man muss das erwähnen, weil sich erweist, dass die deutschen Leser bislang oft unvollständige oder redigierte Bände in Händen hatten. Der hochverdiente Karl Dedecius etwa hatte als Übersetzer eigenen gestalterischen Ehrgeiz. So wählte er aus "Herr Cogito" fünfzig Gedichte aus und ordnete sie in Zehnergruppen an: "als Bauwerk (wie er dem Dichter schrieb), das sich symmetrisch auf die zehn Säulen der musischen und der philosophischen Weisheit stützt". Das war gut gemeint, nur Herberts Bauwerk war es nicht. Ähnlich folgte Dedecius seiner Zahlensymbolik bei der Sammlung "Inschrift", die Herbert in Deutschland berühmt machte. Andererseits konnte der polnische Leser manche Gedichte, die Herbert in keines seiner Bücher aufnahm, nur in deutscher Übersetzung lesen. Mit den beiden Ausgaben Ryszard Krynickis gibt es nun endlich ein verlässliches Corpus für beide Sprachen.
Die Musen waren dem Dichter zeitlebens günstig. Herbert war ein so passionierter wie verlässlicher Dichter, doch publizierte er nie um jeden Preis. 1924 in Lemberg als Sohn eines Bankiers geboren, war der junge Herbert im Krieg im antifaschistischen Untergrund aktiv. Seit seiner Jugend schrieb er Gedichte. In der Stalinzeit veröffentlichte er nichts, weil er keine Kompromisse eingehen wollte. Im Tauwetter von 1956 aber war Herbert - wie dem Haupt Apolls entsprungen - die große literarische Entdeckung. Seine ersten drei Bände erschienen in rascher Folge: "Lichtsaite" (1956), "Hermes, Hund und Stern" (1957) und "Studium des Gegenstands" (1961). Die polnische Kritik rühmte Herberts "Poetik der ausgewogenen Waagschalen" und nannte den Dichter den Klassiker unter den jungen Poeten.
Herberts Ruhm überschritt sehr bald die Grenzen seines Heimatlands. Der eben Vierzigjährige erhielt 1965 als Erster den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Karl Dedecius brachte 1964 eine deutsche Auswahl seiner Gedichte, und Walter Höllerer gewann Herbert und seinen Landsmann Tadeusz Rózewic für seine internationale Lesereihe "Ein Gedicht und sein Autor." Damals, im Berliner Winter 1966/67, gab Herbert erstmals Auskunft über seine poetischen Intentionen. Er fand die bloße Wortkunst langweilig und schlug den Lyrikern vor, sich in der Welt umzusehen. Aus der Philosophie könne man lernen, einen Gedankenprozess zu offenbaren, und der Künstler müsse sich in seinem Schaffen verstecken wie der Schöpfer in der Natur. Maximen, die für Herbert wichtig blieben.
Die wichtigste Frucht seiner Poetik war die Erfindung des Herrn Cogito, einer Persona, die bereits in einem Notizbuch von 1962 auftaucht: "Herr Cogito - ein Gedichtzyklus über die Abenteuer des Bewusstseins". Diesem Alter Ego widmete Herbert 1974 einen Band und ließ ihn bis zuletzt in seiner Lyrik auftreten. Herr Cogito, dem Denken Descartes' entsprungen, ist ein Geschöpf eigenen Rechts. Er ist Skeptiker und Moralist, ein Melancholiker, der beten kann. Anders als Valérys Monsieur Teste darf Herr Cogito sich um den Zustand der Welt bekümmern.
Unter der Cogito-Maske konnte Herbert die Probleme mit dem Vaterland abhandeln. Herbert, der Reisende und Reisebuch-Schreiber, war von dem Emigranten Herbert kaum zu unterscheiden. Er widerstand der Macht, indem er auf den Wechsel der Tauwetter und Kältewellen reagierte. Er hatte Stipendien in Griechenland und West-Berlin, lehrte in Los Angeles und lebte in Paris. 1981 kehrte er mit seiner Frau Kasia nach Polen zurück.
Eines der späteren Cogito-Gedichte beginnt so: "Herr Cogito / beschloss die Heimkehr / auf den steinernen Schoß / des Vaterlandes." Am Schluss heißt es quasi prophetisch: "Vielleicht kehrt Herr Cogito heim / um Antwort zu geben // auf die Einflüsterungen der Angst / auf ein unmögliches Glück / einen unerwarteten Hieb / eine tückische Frage." Dieses Gedicht findet sich in dem Band "Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte" (1983). Er musste, wegen des polnischen Kriegsrechts, in einem Pariser Exil-Verlag erscheinen. Herbert spricht hier aus der Perspektive dessen, der zu alt ist, "um Waffen zu tragen zu kämpfen wie die andern", und dem man "gnadenhalber den minderen Part des Chronisten" bestimmte. Doch eben der mindere Part ermöglicht eine Perspektive, in der die Wahrheit sichtbar wird. Sie erscheint als die Grunderfahrung der polnischen Geschichte: "die Belagerung dauert lange die Feinde lösen einander ab / nichts verbindet sie außer dem Trachten nach unsrem Untergang." Wie aktuell! Auch aktuell, ja zeitlos möchte man den Schluss des Gedichts nennen: "und nur unsre Träume sind nicht gedemütigt worden." Der zurückgekehrte Dichter, damals ein Mann von Anfang sechzig, hatte sein Alterswerk noch vor sich, die Bände "Elegie auf den Fortgang" (1990), "Rovigo" (1992) und - in seinem Todesjahr - "Gewitter Epilog". Schon früher hatte er geschrieben: "Ich rufe euch Alte Meister"/ macht mich ertauben / für die Versuchung des Ruhms." Nun war er selbst ein alter Meister, und der Ruhm hatte ihn längst ereilt - wenn auch nicht der Nobelpreis. Die Kollegin Wislawa Szymborska erhielt ihn 1996, zwei Jahre vor Herberts Tod. Im Frühjahr 1998 litt Herbert einige Wochen unter dem Verlust seines Sprechvermögens, doch Anfang Mai kam ihm wundersamerweise noch einmal die Sprache zurück.
In seinen letzten Jahren schrieb der Autor noch einige Gedichte, die nicht mehr zur Publikation bestimmt waren. Sie stehen in dieser Edition am Schluss des Bandes. In ihnen waltet eine Frömmigkeit, die sich in alltäglichen Paradoxen ausspricht, im Kleinkram, in täglichen Problemen, zum Beispiel im Lob der Schlaflosigkeit. Herbert kommt in diesen Texten nun ohne Cogito aus, wenn er dem Herrn für das Wunder der Schlaflosigkeit dankt, "ohne dass ich den Schlaf der Gerechten schliefe". Im Nachwort dieses schönen Bandes lenkt Michael Krüger, der den Dichter seit 1968 kannte, den Blick auf den Menschen Herbert, auf dessen unverkrampfte Herzlichkeit und Höflichkeit: "Mit anderen Worten, er war nicht zu übersehen und hat alle, die in seine Nähe kamen, mit seiner Aura bezaubert."
HARALD HARTUNG
Zbigniew Herbert: "Gesammelte Gedichte".
Hrsg. von Ryszard Krynicki. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler und Oskar Jan Tauschinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 678 S., geb., 49,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dichten unter der Cogito-Maske: Das Gesamtwerk des großen polnischen Lyrikers Zbigniew Herbert liegt nun in einer vorzüglichen Edition auch auf deutsch vor
In einem späten Gedicht schreibt Zbigniew Herbert über "das Buch": "Dieses Buch mahnt mich sanft es erlaubt mir nicht /schnell zu laufen im Takt der rollenden Phrase / es heißt mich zum Anfang zurückkehren immer von neuem beginnen." Ein solches Buch hat man mit Herberts "Gesammelten Gedichten" vor sich. Es ist ein wahrhaft bedeutendes Buch, die deutsche Version eines großen Lebenswerks. Es umfasst fast 700 Seiten mit 402 Gedichten, die von fünf namhaften Übersetzern übertragen wurden. Aus ihnen spricht die deutsche Stimme eines Dichters, dessen Traum ein anonymes Schaffen war und der dennoch die Versuchung des Ruhms kannte. Auch wenn er seinem Herrn Cogito eines seiner Bücher überließ, stand doch immer der Name Zbigniew Herbert auf dem Cover. Auf dem dicken Block des Sammelbandes zündet er sich eine Zigarette an - die anachronistische Geste des alten Meisters, der Herbert geworden war.
Die polnische Ausgabe der Gedichte erschien 2008, zehn Jahre nach Herberts Tod. Der Lyriker Ryszard Krynicki, der sie besorgte, hat nun auch die deutsche Edition herausgegeben. Sie enthält die Texte des lyrischen Werks vollständig und in ursprünglicher Reihenfolge, darunter 144 Gedichte, die noch nicht auf Deutsch vorlagen, vor allem frühe Gedichte in der Übersetzung Renate Schmidgalls.
Man muss das erwähnen, weil sich erweist, dass die deutschen Leser bislang oft unvollständige oder redigierte Bände in Händen hatten. Der hochverdiente Karl Dedecius etwa hatte als Übersetzer eigenen gestalterischen Ehrgeiz. So wählte er aus "Herr Cogito" fünfzig Gedichte aus und ordnete sie in Zehnergruppen an: "als Bauwerk (wie er dem Dichter schrieb), das sich symmetrisch auf die zehn Säulen der musischen und der philosophischen Weisheit stützt". Das war gut gemeint, nur Herberts Bauwerk war es nicht. Ähnlich folgte Dedecius seiner Zahlensymbolik bei der Sammlung "Inschrift", die Herbert in Deutschland berühmt machte. Andererseits konnte der polnische Leser manche Gedichte, die Herbert in keines seiner Bücher aufnahm, nur in deutscher Übersetzung lesen. Mit den beiden Ausgaben Ryszard Krynickis gibt es nun endlich ein verlässliches Corpus für beide Sprachen.
Die Musen waren dem Dichter zeitlebens günstig. Herbert war ein so passionierter wie verlässlicher Dichter, doch publizierte er nie um jeden Preis. 1924 in Lemberg als Sohn eines Bankiers geboren, war der junge Herbert im Krieg im antifaschistischen Untergrund aktiv. Seit seiner Jugend schrieb er Gedichte. In der Stalinzeit veröffentlichte er nichts, weil er keine Kompromisse eingehen wollte. Im Tauwetter von 1956 aber war Herbert - wie dem Haupt Apolls entsprungen - die große literarische Entdeckung. Seine ersten drei Bände erschienen in rascher Folge: "Lichtsaite" (1956), "Hermes, Hund und Stern" (1957) und "Studium des Gegenstands" (1961). Die polnische Kritik rühmte Herberts "Poetik der ausgewogenen Waagschalen" und nannte den Dichter den Klassiker unter den jungen Poeten.
Herberts Ruhm überschritt sehr bald die Grenzen seines Heimatlands. Der eben Vierzigjährige erhielt 1965 als Erster den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. Karl Dedecius brachte 1964 eine deutsche Auswahl seiner Gedichte, und Walter Höllerer gewann Herbert und seinen Landsmann Tadeusz Rózewic für seine internationale Lesereihe "Ein Gedicht und sein Autor." Damals, im Berliner Winter 1966/67, gab Herbert erstmals Auskunft über seine poetischen Intentionen. Er fand die bloße Wortkunst langweilig und schlug den Lyrikern vor, sich in der Welt umzusehen. Aus der Philosophie könne man lernen, einen Gedankenprozess zu offenbaren, und der Künstler müsse sich in seinem Schaffen verstecken wie der Schöpfer in der Natur. Maximen, die für Herbert wichtig blieben.
Die wichtigste Frucht seiner Poetik war die Erfindung des Herrn Cogito, einer Persona, die bereits in einem Notizbuch von 1962 auftaucht: "Herr Cogito - ein Gedichtzyklus über die Abenteuer des Bewusstseins". Diesem Alter Ego widmete Herbert 1974 einen Band und ließ ihn bis zuletzt in seiner Lyrik auftreten. Herr Cogito, dem Denken Descartes' entsprungen, ist ein Geschöpf eigenen Rechts. Er ist Skeptiker und Moralist, ein Melancholiker, der beten kann. Anders als Valérys Monsieur Teste darf Herr Cogito sich um den Zustand der Welt bekümmern.
Unter der Cogito-Maske konnte Herbert die Probleme mit dem Vaterland abhandeln. Herbert, der Reisende und Reisebuch-Schreiber, war von dem Emigranten Herbert kaum zu unterscheiden. Er widerstand der Macht, indem er auf den Wechsel der Tauwetter und Kältewellen reagierte. Er hatte Stipendien in Griechenland und West-Berlin, lehrte in Los Angeles und lebte in Paris. 1981 kehrte er mit seiner Frau Kasia nach Polen zurück.
Eines der späteren Cogito-Gedichte beginnt so: "Herr Cogito / beschloss die Heimkehr / auf den steinernen Schoß / des Vaterlandes." Am Schluss heißt es quasi prophetisch: "Vielleicht kehrt Herr Cogito heim / um Antwort zu geben // auf die Einflüsterungen der Angst / auf ein unmögliches Glück / einen unerwarteten Hieb / eine tückische Frage." Dieses Gedicht findet sich in dem Band "Bericht aus einer belagerten Stadt und andere Gedichte" (1983). Er musste, wegen des polnischen Kriegsrechts, in einem Pariser Exil-Verlag erscheinen. Herbert spricht hier aus der Perspektive dessen, der zu alt ist, "um Waffen zu tragen zu kämpfen wie die andern", und dem man "gnadenhalber den minderen Part des Chronisten" bestimmte. Doch eben der mindere Part ermöglicht eine Perspektive, in der die Wahrheit sichtbar wird. Sie erscheint als die Grunderfahrung der polnischen Geschichte: "die Belagerung dauert lange die Feinde lösen einander ab / nichts verbindet sie außer dem Trachten nach unsrem Untergang." Wie aktuell! Auch aktuell, ja zeitlos möchte man den Schluss des Gedichts nennen: "und nur unsre Träume sind nicht gedemütigt worden." Der zurückgekehrte Dichter, damals ein Mann von Anfang sechzig, hatte sein Alterswerk noch vor sich, die Bände "Elegie auf den Fortgang" (1990), "Rovigo" (1992) und - in seinem Todesjahr - "Gewitter Epilog". Schon früher hatte er geschrieben: "Ich rufe euch Alte Meister"/ macht mich ertauben / für die Versuchung des Ruhms." Nun war er selbst ein alter Meister, und der Ruhm hatte ihn längst ereilt - wenn auch nicht der Nobelpreis. Die Kollegin Wislawa Szymborska erhielt ihn 1996, zwei Jahre vor Herberts Tod. Im Frühjahr 1998 litt Herbert einige Wochen unter dem Verlust seines Sprechvermögens, doch Anfang Mai kam ihm wundersamerweise noch einmal die Sprache zurück.
In seinen letzten Jahren schrieb der Autor noch einige Gedichte, die nicht mehr zur Publikation bestimmt waren. Sie stehen in dieser Edition am Schluss des Bandes. In ihnen waltet eine Frömmigkeit, die sich in alltäglichen Paradoxen ausspricht, im Kleinkram, in täglichen Problemen, zum Beispiel im Lob der Schlaflosigkeit. Herbert kommt in diesen Texten nun ohne Cogito aus, wenn er dem Herrn für das Wunder der Schlaflosigkeit dankt, "ohne dass ich den Schlaf der Gerechten schliefe". Im Nachwort dieses schönen Bandes lenkt Michael Krüger, der den Dichter seit 1968 kannte, den Blick auf den Menschen Herbert, auf dessen unverkrampfte Herzlichkeit und Höflichkeit: "Mit anderen Worten, er war nicht zu übersehen und hat alle, die in seine Nähe kamen, mit seiner Aura bezaubert."
HARALD HARTUNG
Zbigniew Herbert: "Gesammelte Gedichte".
Hrsg. von Ryszard Krynicki. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler und Oskar Jan Tauschinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 678 S., geb., 49,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.12.2016Wo das Denken taumelt
Der große polnische Dichter Zbigniew Herbert hat Reisen, Freunde und Bücher in seine Verse geholt und
mit der Philosophie um die Gedanken gerungen. Jetzt sind seine „Gesammelten Gedichte“ auf Deutsch erschienen
VON NICO BLEUTGE
Es könnte so einfach sein mit der Fantasie. Man klopft an die Wand, und ein Kuckuck springt aus dem Holz. Ein kurzer Pfiff – schon beginnt ein Fluss zu laufen. Einmal Räuspern, und eine ganze Stadt faltet sich vor den Augen auf. Doch zugleich gibt es da die Gedanken. Und die Gedanken, jedenfalls in Zbigniew Herberts Gedichten, machen es der Fantasie nicht leicht. Sie stehen reglos in der Landschaft oder drehen sich fortwährend im Kreis, „auf der Suche nach Körnern“.
Das Denken ist so etwas wie die glimmende Hintergrundschicht in den Versen des großen polnischen Dichters Zbigniew Herbert. Es ist ein schiefes und zugleich vergebliches Denken, wie es George Steiner einmal skizziert hat. Ein Denken, das in den wichtigen Fragen, nach dem Sein oder nach dem Nichts, nicht weiter-kommt, das machtlos ist gegenüber dem Tod. Nicht von ungefähr hat sich Zbigniew Herbert einen lyrischen Stellvertreter geschaffen, der ganz auf die Gedanken setzt, allen Kreisbewegungen und fehlenden Zielen zum Trotz.
Dieser Herr Cogito traut niemals den Kunststücken der Fantasie. Wie sein Erfinder mag er Reisen, Freunde und Bücher. Er liebt die Stille, Erinnerungen und die Weltgeschichte ebenso wie das „herrliche Emp-finden von Schmerz“. Vor allem aber setzt er sich der grundlegenden Widersprüchlichkeit des Denkens aus. Er weiß, das Denken gleicht immer einer Pendelbewegung, „leicht taumelnd“ wie der Gang des Herrn Cogito, der mit einem kurzen, muskulösen und einem mageren, steifen Bein durch die Welt wandert und gerade so der „ungewissen Klarheit“ treu bleiben kann.
Das klingt nach einem dialektischen Denken. Doch überraschenderweise stand Herbert mit der Dialektik auf Kriegsfuß. Zumindest was die Vorstellungen von Geschichte angeht. An einen „Geist der Geschichte“ im Sinne Hegels hat er nie geglaubt, nicht an die Idee des Fortschritts, nicht an die „dialektische Bestie an der Leine der Häscher“. Vielmehr funktioniert das „einfältige Triebwerk“ der Geschichte für Herbert immer gleich: „die monotone Prozession und der ungleiche Kampf / der Räuber an der Spitze verdummter Massen / gegen das Häuflein der Rechtschaffenen und der Vernünftigen“.
Vielleicht hat ihn die frühe Konfrontation mit den großen ideologischen Heilsversprechen des 20. Jahrhunderts derart ernüchtert. Herbert wurde 1924 in Lemberg geboren. Sein Vater, der für die polnische Unabhängigkeit gekämpft hatte, war Bankier. Die Familie erlebte den Einmarsch der Roten Armee und später den Überfall der Deutschen auf Polen. Nicht nur der Vater, sondern auch Herbert selbst musste für einige Zeit in den Untergrund. Er ging in den Widerstand und begann nebenher zu studieren, polnische Literatur zunächst, im Laufe der Jahre kamen so unterschiedliche Fächer wie Jura oder Wirtschaft hinzu. Seine große Leidenschaft indes war die Philosophie.
Sie habe ihm Mut gemacht, hat er einmal geschrieben, wesentliche Fragen zu stellen, ob die Welt existiere etwa oder ob sie erkennbar sei: „Wenn man aus dieser Disziplin einen Nutzen für die Lyrik stiften kann, dann nicht dadurch, dass man Systeme beschreibt, sondern dass man den Gedankenprozess offenbart“. Wie genau diese Offenbarung aussieht, kann man jetzt in einer wuchtigen Ausgabe der Gesammelten Gedichte nachverfolgen. Gut 400 Texte hat der Herausgeber, Herberts Dichterkollege und Freund Ryszard Krynicki, vereint, von denen mehr als ein Viertel zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.
Von Beginn an ist die Philosophie in den Gedichten anwesend, gerade indem sie sich gegen die Philosophen wenden. Schon in dem Erstling „Lichtsaite“ von 1956 ironisiert Herbert die Art, wie sich Philosophen Begriffe ausdenken und sie zu Systemen verbinden, zu „Walzen“ mit Schalen und Pendeln. Es ist spannend zu sehen, wie er mittels dieses kritischen Impulses selber philosophisch wird. Tatsächlich offenbart er den Gedankenprozess dadurch, dass er sein poetisches Denken aus einer ganz eigenen Beweglichkeit des Verses heraus entwickelt. Meist sind es in sich verschränkte, über mehrere Zeilen gleitende Sätze, die zugleich das reflektieren, was sie in ihrer Form zeigen: das Verhältnis von Ruhe und Unruhe etwa, die „erdrückende Leichtigkeit des Scheins“ oder die nur auf den ersten Blick klare Trennung in Ich und Welt.
Vor allem aber skizziert Herbert das Zusammenspiel von Schöpfung und Auflösung, das sich im Schicksal des Schreibenden spiegelt, „Gebilde ohne fertige Form“ zu sein. Auch wenn er in diesen frühen Gedichten bisweilen dem Zeitgeschmack folgt und so manche Genitivmetapher verwendet – trocken oder gar abstrakt sind seine Verse nie. Im Gegenteil, ihr Denken entspinnt sich immer in enger Tuchfühlung mit den Dingen.
Sei es in lyrischen Stillleben, sei es in der Beschreibung von Interieurs, sei es in tatsächlichen Dinggedichten, die so verschiedene Phänomene wie das Herz, den Schornstein, die Zunge oder die Uhr ihren poetischen Metamorphosen unterziehen. Dabei dreht Herbert die bekannten Perspektiven ein ums andere Mal. Nicht wir sehen die Dinge, sondern die Gegenstände betrachten uns. „So mischt sich, so mischt sich / in mir / was ergraute Herren / ein für allemal trennten / wovon sie sagten / das sei Subjekt / und das Objekt“.
In ihrem Innersten jedoch ist die Dichtung für Herbert eine Tochter der Erinnerung. Der Schreibende lauscht den Stimmen der Vergangenheit, sondiert eigene Erinnerungsbilder, historische Reste und Mythen. Manchmal wird er fast ausgesaugt von den Toten. Tatsächlich aber begibt er sich „auf eine Reise in die Zeit, mit dem ganzen Gepäck unserer Erfahrung, wenn wir die Mythen, Symbole und Legenden prüfen, um aus ihnen das, was gültig ist, herauszufinden“. Doch nicht nur das Gültige hat Herbert interessiert. Er nutzt die Mythen und Legenden auch, um konkrete politische und historische Erfahrungen in ihnen zu durchdenken. Prokrustes etwa wird ihm zum Beispiel, wie sich der Glaube an den Fortschritt und das Streben, die Menschen „gleichzumachen“, in sein Gegenteil verkehren kann. Die Geschichtsbücher des Livius wiederum liest Herbert gegen den Strich, indem er in den Versen den Untergang eines Imperiums aufscheinen lässt.
Bei so vielen Anspielungen und Namen wäre ein kleiner Kommentarteil durchaus nützlich gewesen. Auch ist es ein wenig schade, dass man all dem nicht in den polnischen Texten nachhorchen kann. Oft verwendet Herbert Klänge und rhythmische Verschiebungen, die man sich gerne im Original angesehen hätte, und sei es nur in kleiner Auswahl. Die deutschen Versionen aber lassen erahnen, dass die Übersetzungen äußerst gelungen sind. Fünf Übersetzer für neun Gedichtbände, besonders Renate Schmidgall hat immer wieder schöne Lösungen gefunden. Wie jene Hummel der Übersetzung, die Herbert in einem Gedicht besingt, schenkt sie uns einen Eindruck vom Inneren der Blüte – „wo Süße und Aroma sind“.
Eine reine Feier des Schönen sind Zbigniew Herberts Gedichte aber keineswegs, so sehr sie sich auch für die Süße und Vielschichtigkeit der Welt aussprechen. Herr Cogito versteht nur zu gut, der „Sieg des Wissens“ bringt keinen Grundsatz des Handelns, keine moralische Norm hervor. Doch entgegen allen Widersprüchen und ironischen Brechungen schreibt Herbert bis zu seinem Tod im Jahr 1998 davon, dass wir die „Hüter unsrer Brüder“ sind. Ein moralisch-ethischer Impetus durchzieht die Gedichte, der das Bewusstsein für jeden einzelnen Menschen wachhält. Aus der Fantasie, heißt es einmal, müsse man im Gedicht mit seinem ungeraden Denken ein „Werkzeug / des Mitgefühls“ machen. Ein schöneres Plädoyer für die Empathie lässt sich kaum denken.
An einen „Geist der Geschichte“
hat Herbert nie geglaubt, er sah
nur ihr „einfältiges Triebwerk“
In seinen Gedichten sprach er
vom Inneren der Blüte –
„wo Süße und Aroma sind“
Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte. Hg. Ryszard Krynicki. Nachwort von Michael Krüger. Aus dem Polnischen v. Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler, Oskar Jan Tauschinski. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 678 S., 49,95 Euro.
Der Vater Herberts hatte für die Unabhängigkeit Polens gekämpft, der Sohn setzte diese Tradition auf seine Weise fort: Lech Walesa, Adam Michnik (Mitte) und Zbigniew Herbert (rechts) bei einer Solidarność-Kundgebung 1984 in Danzig. 1986 ging Herbert nach Paris, 1992 kehrte er nach Polen zurück.
Foto: imago stock&people
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Der große polnische Dichter Zbigniew Herbert hat Reisen, Freunde und Bücher in seine Verse geholt und
mit der Philosophie um die Gedanken gerungen. Jetzt sind seine „Gesammelten Gedichte“ auf Deutsch erschienen
VON NICO BLEUTGE
Es könnte so einfach sein mit der Fantasie. Man klopft an die Wand, und ein Kuckuck springt aus dem Holz. Ein kurzer Pfiff – schon beginnt ein Fluss zu laufen. Einmal Räuspern, und eine ganze Stadt faltet sich vor den Augen auf. Doch zugleich gibt es da die Gedanken. Und die Gedanken, jedenfalls in Zbigniew Herberts Gedichten, machen es der Fantasie nicht leicht. Sie stehen reglos in der Landschaft oder drehen sich fortwährend im Kreis, „auf der Suche nach Körnern“.
Das Denken ist so etwas wie die glimmende Hintergrundschicht in den Versen des großen polnischen Dichters Zbigniew Herbert. Es ist ein schiefes und zugleich vergebliches Denken, wie es George Steiner einmal skizziert hat. Ein Denken, das in den wichtigen Fragen, nach dem Sein oder nach dem Nichts, nicht weiter-kommt, das machtlos ist gegenüber dem Tod. Nicht von ungefähr hat sich Zbigniew Herbert einen lyrischen Stellvertreter geschaffen, der ganz auf die Gedanken setzt, allen Kreisbewegungen und fehlenden Zielen zum Trotz.
Dieser Herr Cogito traut niemals den Kunststücken der Fantasie. Wie sein Erfinder mag er Reisen, Freunde und Bücher. Er liebt die Stille, Erinnerungen und die Weltgeschichte ebenso wie das „herrliche Emp-finden von Schmerz“. Vor allem aber setzt er sich der grundlegenden Widersprüchlichkeit des Denkens aus. Er weiß, das Denken gleicht immer einer Pendelbewegung, „leicht taumelnd“ wie der Gang des Herrn Cogito, der mit einem kurzen, muskulösen und einem mageren, steifen Bein durch die Welt wandert und gerade so der „ungewissen Klarheit“ treu bleiben kann.
Das klingt nach einem dialektischen Denken. Doch überraschenderweise stand Herbert mit der Dialektik auf Kriegsfuß. Zumindest was die Vorstellungen von Geschichte angeht. An einen „Geist der Geschichte“ im Sinne Hegels hat er nie geglaubt, nicht an die Idee des Fortschritts, nicht an die „dialektische Bestie an der Leine der Häscher“. Vielmehr funktioniert das „einfältige Triebwerk“ der Geschichte für Herbert immer gleich: „die monotone Prozession und der ungleiche Kampf / der Räuber an der Spitze verdummter Massen / gegen das Häuflein der Rechtschaffenen und der Vernünftigen“.
Vielleicht hat ihn die frühe Konfrontation mit den großen ideologischen Heilsversprechen des 20. Jahrhunderts derart ernüchtert. Herbert wurde 1924 in Lemberg geboren. Sein Vater, der für die polnische Unabhängigkeit gekämpft hatte, war Bankier. Die Familie erlebte den Einmarsch der Roten Armee und später den Überfall der Deutschen auf Polen. Nicht nur der Vater, sondern auch Herbert selbst musste für einige Zeit in den Untergrund. Er ging in den Widerstand und begann nebenher zu studieren, polnische Literatur zunächst, im Laufe der Jahre kamen so unterschiedliche Fächer wie Jura oder Wirtschaft hinzu. Seine große Leidenschaft indes war die Philosophie.
Sie habe ihm Mut gemacht, hat er einmal geschrieben, wesentliche Fragen zu stellen, ob die Welt existiere etwa oder ob sie erkennbar sei: „Wenn man aus dieser Disziplin einen Nutzen für die Lyrik stiften kann, dann nicht dadurch, dass man Systeme beschreibt, sondern dass man den Gedankenprozess offenbart“. Wie genau diese Offenbarung aussieht, kann man jetzt in einer wuchtigen Ausgabe der Gesammelten Gedichte nachverfolgen. Gut 400 Texte hat der Herausgeber, Herberts Dichterkollege und Freund Ryszard Krynicki, vereint, von denen mehr als ein Viertel zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.
Von Beginn an ist die Philosophie in den Gedichten anwesend, gerade indem sie sich gegen die Philosophen wenden. Schon in dem Erstling „Lichtsaite“ von 1956 ironisiert Herbert die Art, wie sich Philosophen Begriffe ausdenken und sie zu Systemen verbinden, zu „Walzen“ mit Schalen und Pendeln. Es ist spannend zu sehen, wie er mittels dieses kritischen Impulses selber philosophisch wird. Tatsächlich offenbart er den Gedankenprozess dadurch, dass er sein poetisches Denken aus einer ganz eigenen Beweglichkeit des Verses heraus entwickelt. Meist sind es in sich verschränkte, über mehrere Zeilen gleitende Sätze, die zugleich das reflektieren, was sie in ihrer Form zeigen: das Verhältnis von Ruhe und Unruhe etwa, die „erdrückende Leichtigkeit des Scheins“ oder die nur auf den ersten Blick klare Trennung in Ich und Welt.
Vor allem aber skizziert Herbert das Zusammenspiel von Schöpfung und Auflösung, das sich im Schicksal des Schreibenden spiegelt, „Gebilde ohne fertige Form“ zu sein. Auch wenn er in diesen frühen Gedichten bisweilen dem Zeitgeschmack folgt und so manche Genitivmetapher verwendet – trocken oder gar abstrakt sind seine Verse nie. Im Gegenteil, ihr Denken entspinnt sich immer in enger Tuchfühlung mit den Dingen.
Sei es in lyrischen Stillleben, sei es in der Beschreibung von Interieurs, sei es in tatsächlichen Dinggedichten, die so verschiedene Phänomene wie das Herz, den Schornstein, die Zunge oder die Uhr ihren poetischen Metamorphosen unterziehen. Dabei dreht Herbert die bekannten Perspektiven ein ums andere Mal. Nicht wir sehen die Dinge, sondern die Gegenstände betrachten uns. „So mischt sich, so mischt sich / in mir / was ergraute Herren / ein für allemal trennten / wovon sie sagten / das sei Subjekt / und das Objekt“.
In ihrem Innersten jedoch ist die Dichtung für Herbert eine Tochter der Erinnerung. Der Schreibende lauscht den Stimmen der Vergangenheit, sondiert eigene Erinnerungsbilder, historische Reste und Mythen. Manchmal wird er fast ausgesaugt von den Toten. Tatsächlich aber begibt er sich „auf eine Reise in die Zeit, mit dem ganzen Gepäck unserer Erfahrung, wenn wir die Mythen, Symbole und Legenden prüfen, um aus ihnen das, was gültig ist, herauszufinden“. Doch nicht nur das Gültige hat Herbert interessiert. Er nutzt die Mythen und Legenden auch, um konkrete politische und historische Erfahrungen in ihnen zu durchdenken. Prokrustes etwa wird ihm zum Beispiel, wie sich der Glaube an den Fortschritt und das Streben, die Menschen „gleichzumachen“, in sein Gegenteil verkehren kann. Die Geschichtsbücher des Livius wiederum liest Herbert gegen den Strich, indem er in den Versen den Untergang eines Imperiums aufscheinen lässt.
Bei so vielen Anspielungen und Namen wäre ein kleiner Kommentarteil durchaus nützlich gewesen. Auch ist es ein wenig schade, dass man all dem nicht in den polnischen Texten nachhorchen kann. Oft verwendet Herbert Klänge und rhythmische Verschiebungen, die man sich gerne im Original angesehen hätte, und sei es nur in kleiner Auswahl. Die deutschen Versionen aber lassen erahnen, dass die Übersetzungen äußerst gelungen sind. Fünf Übersetzer für neun Gedichtbände, besonders Renate Schmidgall hat immer wieder schöne Lösungen gefunden. Wie jene Hummel der Übersetzung, die Herbert in einem Gedicht besingt, schenkt sie uns einen Eindruck vom Inneren der Blüte – „wo Süße und Aroma sind“.
Eine reine Feier des Schönen sind Zbigniew Herberts Gedichte aber keineswegs, so sehr sie sich auch für die Süße und Vielschichtigkeit der Welt aussprechen. Herr Cogito versteht nur zu gut, der „Sieg des Wissens“ bringt keinen Grundsatz des Handelns, keine moralische Norm hervor. Doch entgegen allen Widersprüchen und ironischen Brechungen schreibt Herbert bis zu seinem Tod im Jahr 1998 davon, dass wir die „Hüter unsrer Brüder“ sind. Ein moralisch-ethischer Impetus durchzieht die Gedichte, der das Bewusstsein für jeden einzelnen Menschen wachhält. Aus der Fantasie, heißt es einmal, müsse man im Gedicht mit seinem ungeraden Denken ein „Werkzeug / des Mitgefühls“ machen. Ein schöneres Plädoyer für die Empathie lässt sich kaum denken.
An einen „Geist der Geschichte“
hat Herbert nie geglaubt, er sah
nur ihr „einfältiges Triebwerk“
In seinen Gedichten sprach er
vom Inneren der Blüte –
„wo Süße und Aroma sind“
Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte. Hg. Ryszard Krynicki. Nachwort von Michael Krüger. Aus dem Polnischen v. Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler, Oskar Jan Tauschinski. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 678 S., 49,95 Euro.
Der Vater Herberts hatte für die Unabhängigkeit Polens gekämpft, der Sohn setzte diese Tradition auf seine Weise fort: Lech Walesa, Adam Michnik (Mitte) und Zbigniew Herbert (rechts) bei einer Solidarność-Kundgebung 1984 in Danzig. 1986 ging Herbert nach Paris, 1992 kehrte er nach Polen zurück.
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»Zbigniew Herberts Gedichte haben nichts eingebüßt von ihrer Gedankenklarheit und Grazie, ihrer Anschauungskraft und ihrer Menschen- und Weltzugewandtheit.« Peter Hamm DIE ZEIT 20170412