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Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch wissenschaft
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 562
  • Abmessung: 176mm x 107mm x 28mm
  • Gewicht: 326g
  • ISBN-13: 9783518288351
  • Artikelnr.: 25935253
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Die Liebe des Anarchisten für den Goldgrund
Geschichte der Kunst in der Zeit: Erinnerungen an Max Imdahl und Fragen an seine "Gesammelten Schriften" / Von Kurt Flasch

Max Imdahl, 1925 bis 1988, begann seinen Weg als erfolgreicher Maler.

1950 gewann er einen respektablen Kunstpreis mit dem Bild eines Schmerzensmannes. Dann kam es zu einer Schaffenskrise, deren Trauma ihn nie ganz verlassen hat; er wandte sich der Kunstwissenschaft zu, die im akademischen Gehäuse den Namen "Kunstgeschichte" führt. Damit stellten sich ihm - mindestens - drei Fragen:

Erstens: Was soll ein Kunsthistoriker tun? Welcher Methode soll er folgen? Um 1950 hieß das: Soll man es machen wie Wölfflin? Wie Pinder? Sollte man dem immer lautstärker werdenden Sedlmayr folgen? Oder sollte man, Ideologien beiseite, Kunstwerke positivistisch beschreiben, gar schlicht katalogisieren?

Zweitens: Wo endet die Kunstgeschichte? Gehörte die Gegenwartskunst zu ihrem Gebiet, oder war es schon viel, wenn sie in ihrem historischen Durchgang von den Eiszeithöhlen bis zu Degas und Monet kam?

Drittens: Was ist ein Bild? Bot die Bilderwelt, wie Gottfried Boehm in einer nachdenkenswerten Formulierung im Blick auf Erwartungen Imdahls schreibt, nach 1945 "ein neues Leben jenseits der historischen Schuldzusammenhänge"? Konnte man angesichts von Bildern die Geschichte vergessen? Aber weiter noch und vor allem: Bezieht ein Bild seine Legitimation aus der Entsprechung zum abgebildeten Gegenstand, oder erschafft es eine Welt, zu der es aus der dinghaften Außenwelt keinen Zugang geben kann? Trat ein Bild - ähnlich wie eine philosophische Argumentation oder eine religiöse Erfahrung - aus der Geschichte heraus, aus der es zweifellos herkam? Stand es in der Geschichte, als stehe es über der Geschichte? Hatte es der Kunsthistoriker mit der Gegenwart des Bildes zu tun, oder sollte er im gegenwärtigen Bild die Geschichte aufweisen? Welcher Art war seine Tätigkeit - war sie Analyse oder verkündigende Sinnvermittlung? Welche Rolle gebührte der philologisch-historischen Gelehrsamkeit?

Damit schloß die dritte Frage wieder an die erste an. Sie verband sich mit der zugleich methodologischen wie ethisch-politischen Frage, ob man an die großen emigrierten Kunsthistoriker anknüpfen konnte oder nicht. Wie sehr die intensive Gedankenarbeit Imdahls an diesen Beginn in den fünfziger Jahren gebunden blieb, belegt eine instruktive Einzelheit: Der Name von Aby Warburg kommt in den "Gesammelten Schriften" nicht ein einziges Mal vor, der Name Sedlmayr über fünfzigmal. Damit kritisiere ich Imdahl nicht; ich kennzeichne nur seine Ausgangssituation.

Die drei Bände seiner "Gesammelten Schriften" werfen diese drei Fragen erneut auf, indem sie den Weg eines inspirierten einzelnen aus den Dilemmata der beginnenden fünfziger Jahre bis zu der sogenannten Postmoderne dokumentieren.

Es war, als jagten Bilder ihm Schrecken ein. Etwas anders war es, wenn eine Gruppe dabei war, aber betraten wir zu zweit ein Museum, dann beschleunigte sich plötzlich sein Schlenderschritt. Max Imdahl lief vor den Bildern eher weg, als daß er zu ihnen hinging. Dann blieb er plötzlich, wie aus der Ferne gelenkt, ruckartig stehen, vor einem Pollock etwa. Zögernd fing er an zu reden, zeigte auf eine Einzelheit, empfahl, das Bild aus verschiedenen Entfernungen zu sehen, diese oder jene Seite mit der Hand dem Blick zu verdecken. So machte er den Anteil des Betrachters fühlbar. Er zeigte gern durch Verdecken, was sichtbar war. Keine Allgemeinheit über Kunst, keine Gedächtnisware trat dazwischen. Er datierte nicht; er zwang kein Bild, eine "Strömung" zu repräsentieren; er erzählte nichts Biographisches über den Maler.

Wenn er vor einem Bild zu reden begann, dann erbebte er in einer Art von Scheu, wie Menschen in früheren Kulturen sie wohl hatten, von ihrem Gott zu reden. Aber nach wenigen Sätzen stürzte er sich zunehmend in das so lustvolle wie unmögliche Geschäft der Vermittlung zwischen Bild und Sprache und erschuf das Bild mit Worten neu. Er wußte, daß dies nie das ganze Bild sein konnte, aber gerade diese Erfahrung der Grenze erregte ihn; sie reizte ihn zu immer neuen verbalen Einfällen, und alles endete in einem enthusiastischen Begriffstaumel, von dem Hegel gesagt hätte, daß an ihm kein Glied nicht trunken war. Saß er wieder am Schreibtisch, dann nahm er sich zuweilen vor, ein Bild "unter Kategorien" zu bringen, wie er sagte.

Das waren gewichtige Kategorien, wie sie die Gruppe "Poetik und Hermeneutik" liebte, mächtige Konzepte wie "Individualität", "Identität" und "Grenzüberschreitung", und dann flossen ihm schon einmal Sätze wie dieser in die Feder: Die Bildlichkeit Cézannes, schrieb er, sei "als der Simultanausdruck von Genese und Dinglichkeit ein Simultanausdruck von natura naturans und natura naturata" (Band 3, S. 409). Nun, dieser Satz läßt sich erklären, aber er erklärt sich nicht selbst. Wer aber solche Gedankenexkursionen bis zum Ende mitvollzog, fand sich schließlich bei der sinnlichen Anschauung wieder. Auf sie wieder zurückzuführen, das war seine überragende Stärke. Er behielt immer recht, solange wir vor dem Bild standen; was ihn vor Geschwafel rettete, war sein Auge. Aber er hastete fort; seine Rede sackte zusammen; die Mechanik des Weitergehens griff Platz; Raum und Zeit hatten ihn wieder. Was blieb, war die Erfahrung, daß Bilder gezeigt werden müssen, daß sie ihre eigene Art von Sichtbarkeit und Außer-Weltlichkeit haben und daß keiner sie ausschöpft.

Er hatte geniale Augen. Er hatte seine unverwechselbare Kunst, das Gesehene in Sprache zu übersetzen. Er entwickelte seine reiche, differenzierte Wortwelt. Nie erstarrten seine Begriffskaskaden zu fixierter Terminologie. Er sprach individuell vor Kunstwerken als Individuen; als Künstler entwickelte er einige der Alternativen, vor denen der Maler gestanden hatte, als sein Bild entstand; da kam kein Fachjargon auf. Allen Begriffsaufwand verabschiedete er vor dem Bild. Wie im Handumdrehen ergriff er Philosophien - Bergson, Ritter und dessen Hegel, Gadamer, Strukturtheorien, Luhmann, zuletzt ein wenig Foucault -, aber nie wurde er ihr Adept; er probierte ihre Tauglichkeit an einem Bild aus und vergaß sie wieder, wenn er vor dem Kunstwerk stand. Vor einem anderen Bild versuchte er es dann wieder anders. Er war ein praktizierender Anarchist.

Daher war er ein hinreißender Lehrer. Denn er fing immer von vorn an. Nie begann er mit Abstraktionen. Er zeigte nie Gesehenes, auch wenn er über karolingische Kunst sprach. Selbst wenn er ein abstraktes Thema zu erörtern vorhatte, begann er mit einem Kunstwerk und verlor sich, scheinbar, an es. Er verfertigte seine Gedanken beim Reden und verbrauchte förmlich vor dem Zuhörer sein theoretisches Rüstzeug. Er nahm sein Publikum mit auf eine Entdeckungsreise. Er genierte sich nicht seiner Empfindungen; er verleugnete weder sein bewegtes Aachener Temperament noch seine theoretischen Grenzen. Kurz: Er war kein grauer Lehrbeamter, eher ein ins zwanzigste Jahrhundert verschlagener Barockfürst, der staunen und schauen konnte wie ein Kind. Redete er von Ottonischer Buchmalerei, so war dabei keine Spur von Mittelalter-Seligkeit und Traditionalismus; sprach er von Cy Twombly und Barnett Newman, so stand er jenseits von allem Modekram.

Aber es ist etwas anderes, auf dem Recht der eigenen Augen und der eigenen Sprache zu bestehen, etwas anderes, eine neue "Richtung" zu begründen. Mit Berufung auf Konrad Fiedler und im Anschluß an Äußerungen von Cézanne entwickelte Imdahl eine Theorie des Bildes, die dem Bild eine nichtsubstituierbare Erkenntnisfunktion zubilligte, eine Sichtbarkeit von sonst nicht zu vermittelndem Sinn, der nur eingelöst wird, wenn das Sehen sich nicht auf die bloße Vermittlung eines identifizierenden Etikettes beschränkt, sondern als "sehendes Sehen" beim Sichtbaren verweilt und auch nach Akten des "Wiedererkennens" zu ihm zurückkehrt. Beim Sichtbaren ausharren, dies war das Motto.

Imdahl wollte Komposition und Farbwerte jedes einzelnen Bildes analysieren. Ein Kunstwerk, argumentierte er, ist immer mehr als ein Beispiel eines sonst schon bekannten Allgemeinen oder einer geschichtlichen Strömung. Er sah im Bild die unersetzbare Abbreviatur einer Existenzstruktur. Aber auch auf diese Formel legte er sich keineswegs fest; ein andermal kam er auch ohne "Existenzstruktur" aus, vor allem in dem kleinen Buch über Picassos "Guernica" (Insel-Taschenbuch, Frankfurt 1985). Er machte übrigens erstaunlich verschiedenartige Ansätze zur Analyse eines Bildes. Er schloß dessen geschichtlich-politische Bedingungen aus der Analyse nicht aus. Das beweist sein "Guernica"-Taschenbuch, dessen Text mit dem kunstphilosophischen Essay über Picassos Bild im ersten Band auf Seite 398 bis 459 nicht identisch ist. Aber sein vorzügliches Interesse galt dem Bild als einem Koinzidenzphänomen. Er analysierte es als eine anschauliche Einheit von endlich und unendlich, von eindeutig und vieldeutig, von rational und irrational, von identisch und nichtidentisch, von einfach und komplex.

Sagen wir es offen: Dies war keine Kunsthistorie mehr, das war Metaphysik des Bildes. Imdahl selbst brachte sein Vorgehen - vielleicht doch nicht ganz glücklich - mit der "negativen Theologie" in Verbindung; er benutzte Begriffe des Cusanus und der Ästhetik Hegels, beides in der Interpretation von Joachim Ritter. Doch indem ich sein Verfahren eine "Metaphysik des Bildes" nenne, erzeuge ich Mißverständnisse, denen auch der Leser der "Gesammelten Schriften" ausgesetzt bleibt, solange er sich nicht klarmacht, daß Imdahl abstrakte Erörterungen über Kunst und kunstwissenschaftliche Verfahren, abgelöst vom einzelnen Werk, für unfruchtbar hielt.

Max Imdahl tat sich daher keinen Gefallen, als er damit begann, seine individuelle und immer auf einzelne Bilder zurückbezogene Betrachtungsweise mit dem Etikett "Ikonik" zu versehen. Das neue Wort war schön abgeleitet: "Ikonik" kommt von "Eikon", Bild, wie Logik von Logos. Imdahl erfand diese Selbsteinordnung übrigens erst recht spät und sozusagen nachträglich, kaum vor 1979. Aber danach konnte er schwerlich dem Mißverständnis entgehen, er verstehe sich als den neuen Methodenlehrer der Kunsthistorie. Zwar erklärte er nachdrücklich: "Eine abstrakte Erörterung trägt zur möglichen Klärung dessen, was Ikonik ist, . . . nichts eigentlich bei"; er wehrte sich gegen schülerhafte Anwender, indem er klarstellte, "Ikonik" sei eine Anschauungsweise, keine lehrbare "Methode", aber das Unglück war bereits geschehen.

Und jetzt nimmt es weiter seinen Lauf. Denn dem Leser der "Gesammelten Schriften" wird gleich auf Seite 15 des ersten Bandes erklärt, "Ikonik" sei eine "Methode", ja, sie sei die "neue Methode". Da haben wir sie schon, die ihm so verhaßte schulmäßige Erstarrung, der gegenüber er darauf bestand, mit "Ikonik" meine er eine bildbezogene und auf ästhetische Qualitäten gerichtete Anschauungsweise. Er wußte: Unter "Methode" versteht man seit Descartes etwas anderes.

Er ahnte die Tücken des Wortes "Ikonik", das nach "Ikone" klang und den Verdacht auf sich zog, es solle nüchterne Forschung durch eine Art von Kunstreligion oder metaphysischer Bild-Andacht ersetzen. Der neue Richtungsname evozierte den Kontrast zu "Ikonologie" und "Ikonographie", als verstehe Imdahls "Ikonik" sich als die Ablösung der Schulrichtung von Erwin Panofsky, die nach der Emigration dieses Gelehrten in der Nachkriegszeit bei uns erst wieder allmählich zur Geltung gekommen war und die an philosophischer Kultur und methodischer Bewußtheit alles übertraf, was den Lehrstuhlinhabern für Kunsthistorie in Deutschland zwischen 1933 und 1960 eingefallen war. Dadurch geriet Imdahls "Ikonik" in eine Parteioptik, die ihr nicht entsprach. Gewiß verstand sie sich als die Rehabilitierung der Augen-Erfahrung und als die Ablösung der Herrschaft des unseligen Hans Sedlmayr, seiner antimodernen Rhetorik vom "Verlust der Mitte" und seiner theoretisch anspruchslosen und die ästhetischen Qualitäten minimierenden "Strukturanalyse". Aber nie konzipierte er seine Arbeit als Verdrängung Panofskys, nie als Ablösung einer eigentlich kunsthistorischen Forschung.

Die souveräne Mißachtung der Gegenwartskunst durch die Kunsthistorie konnte der Künstler Imdahl nie teilen, und damit hat er sich durchgesetzt: Er hat die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts an die Universitäten gebracht und hat überdies dazu die Zustimmung bedeutender Künstler gefunden.

Die Kämpfe der fünfziger und sechziger Jahre sind heute ausgestanden. Wer im Sinne Imdahls arbeiten will, muß dort fortfahren, wo er aufgehört hat. Die Ausgabe der "Gesammelten Schriften" sollte eine Methodendiskussion auslösen, die das Fach "Kunstgeschichte" nötig hat. Jetzt ist es an der Zeit, das Verhältnis von Ikonik und Ikonographie zu analysieren und nach der spezifischen Weise zu fragen, wie Kunstwerke geschichtlich sind. Die Ausgabe der "Gesammelten Schriften" zeigt darüber hinaus eine Fülle fruchtbarer Ansätze, die mit Parteinamen und Schlagwörtern nicht zu erfassen sind.

Sie präsentieren eine reiche Vielfalt von Bilddeutungen, so daß es als Roheit erscheint, einzelne Arbeiten auszuzeichnen. Doch 1700 Seiten sind viel, und so hoffe ich, nicht alle Leser werden mich verdammen, wenn ich einzelnes hervorhebe. Da ist vor allem die instruktive autobiographische Skizze (Band 3, S. 617-643). Bei den Arbeiten zur Gegenwartskunst könnte jemand beginnen mit der schönen Studie "Zu Delaunays historischer Stellung" (Band 1, S. 84-130). Er wird weitergehen zu den verschiedenen Cézanne-Studien (besonders Band 3, S. 303-380) und Imdahl folgen auf dem Weg über Braque, Picasso zu Jackson Pollock, Jasper Johns, Frank Stella und Barnett Newman. Als Einleitung zu Imdahls Studien zur älteren Kunst könnte die kurze Arbeit über die Kreuzigung in der Aachener Pala d'Oro (Band 2, S. 147-155) dienen; höchst instruktiv sind die beiden späten Abhandlungen zu Rembrandt und zu Poussin (Band 2, S. 431-493).

Der dritte Band vereint Texte zur Kunstphilosophie und Methodenlehre; er enthält wichtige Texte zu Imdahls Anschauungsweise anläßlich Giottos; vor allem finden sich hier Untersuchungen zum Wesen des Bildes - über das Bild als ästhetische Grenzüberschreitung und über die Identität des Bildes. Diese Übersicht zeigt bereits: Die von den Herausgebern gewählte und arglos dem Jargon der Frankfurter Schule entliehene Aufteilung - erstens: Kunst und Moderne, zweitens: Kunst der Tradition, drittens: Theorie und Methode - widerspricht dem tatsächlichen Arbeiten Imdahls. Imdahl sah ältere und neuere Bilder gleichermaßen als Kunst; er anerkannte nicht die Distinktion von "Tradition" und "Moderne", als gehöre Picasso nicht ebenso der Geschichte an wie Cézanne; er mißbilligte ausdrücklich die Trennung von Theorie und Bildanalyse.

Wer die hier vereinigten Texte zusammenhängend noch einmal liest, für den liegt es auf der Hand: Einzig eine chronologische Anordnung aller Texte Imdahls hätte der gestellten Aufgabe entsprochen. So aber bringen Band 1 und 3 die Studien Imdahls in deren chronologischer Folge; Band 2 hingegen hält sich an die Chronologie der von Imdahl untersuchten Werke. Im zweiten Band steht also eine Arbeit von 1955 unmittelbar neben dem Beitrag von 1970.

Die Neuausgabe ist begrüßenswert und überaus vedienstlich, aber sie hat auch Schwächen: Die Bandeinteilung ist gewalttätig. Die meisten Bildwiedergaben sind zu klein und zu schlecht; bei Ereignisbildern erlauben sie nicht, der Beschreibung Imdahls zu folgen. Die Auswahl der Texte wird nicht erklärt; die Ausgabe enthält Doubletten, die entbehrlich wären. Trotz ihres Umfangs ist sie in empfindlicher Weise unvollständig. Es ist weniger das Buch über Giotto, das fehlt, denn dessen methodologische Teile sind durch zwei wichtige Einzelaufsätze im dritten Band repräsentiert; ich vermisse vor allem das schöne Buch "Arbeiter diskutieren moderne Kunst", Berlin 1982, das Seminare mit Angestellten und Arbeitern der Bayerwerke wiedergibt. Es zeigt Imdahl am Werk und vor den Werken. Der Suhrkamp Verlag erlaubt sich außerdem eine Reihe von redaktionellen Versehen: Im dritten Band stimmen regelmäßig die Seitenverweise auf Abbildungen nicht; es fehlt ein Register der behandelten Kunstwerke; das Sachregister ist sinnlos breit und buchstabengläubig; andererseits übergeht es einen so wichtigen Begriff wie "Abschattung", der charakteristisch ist für die Präsenz Husserls.

Imdahl sah, ich wiederhole es, ältere und neuere Bilder als Kunst. Er behandelte ein Fresko Giottos nicht wesentlich anders als einen Poussin oder einen Picasso. Er wußte sehr wohl, daß diese Werke nicht alle in einer Zeit standen. Aber in seinen Analysen trat das Zeitmoment zurück hinter der ikonischen Präsenz. Nie wollte er geschichtliche Verbindungen abschneiden; er dachte an ein ergänzendes Ineinander von Ikonik, Ikonographie und Ikonologie. Aber wie dies genau zu denken sei, dies hat er - trotz einiger Hinweise, vor allem im Giotto-Buch - nicht erklärt. Er kämpfte gegen das Übergewicht einer historisierenden Kunstbetrachtung, die den Augenschein nur als Durchgang zur geistesgeschichtlichen Einordnung kennt. Damit hatte er unendlich recht. Aber diese Frontstellung hat ihn abgehalten, die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der Kunstwerke zu thematisieren. An dieser Stelle ist neu anzusetzen.

Ich hatte das Glück, seit etwa 1973 mit Max Imdahl befreundet zu sein. Wenn es nachts zwischen zwölf und zwei an mein Fenster klopfte, dann war er es. Er kam zurück von einer Ausstellungseröffnung oder sonst einem Streifzug. Er wollte sich unterhalten; er hatte ein Problem, und/oder er schätzte meinen französischen Rotwein. Wir sprachen über alles, über Bilder und Musik, über Personen und Eindrücke, fast nie von Kollegen. Ich hatte gerade ein Buch geschrieben über Koinzidenz; ich hatte die Philosophie des Cusanus gedeutet - nicht als das Raunen von einem ganz anderen Gott, sondern als Aufmerksamkeit auf Koinzidenzphänomene. Das interessierte ihn, aber ich spielte den Metaphysiker, der dabei war, die Wonnen des Historismus zu entdecken, nicht des gewesenen Historismus rund um Dilthey, nein, eines neuen, dessen Konturen noch zu umreißen waren, französischen und florentinischen Anregungen folgend, und der jedenfalls darauf bestand, daß es nichts gibt, das so schön oder so tiefsinnig wäre, daß es nicht zuerst datiert und lokalisiert, dann aber in seinen internen geschichtlichen Bedingungen, die es ermöglicht und zugleich intern begrenzt haben, analysiert werden müsse.

Wenn er mir eine Pause ließ, bedrängte ich ihn mit der Frage: "Was denkst du bei dem Wort ,Geschichte'? Du reduzierst ,Geschichte' auf äußere Anlässe! Autonomie des Bildes und Geschichte gehören näher zusammen. Geschichte ist mehr als das Ensemble von Daten und Stoffen. Du verfestigst die herrschenden schlechten geisteswissenschaftlichen Etiketten, zum Beispiel bei der Giotto-Deutung die alten Redensarten von ,Humanismus', ,Anthropozentrismus', ,Einfühlung ins Heilsgeschehen' und ,franziskanischer Bewegung', statt sie zu präzisieren und statt sie, wie Eugenio Garin uns das vorführt, durch konkrete historische Forschung aufzulösen. Du siehst Geschichte nur außerhalb des Bildes, nicht in ihm. Philosophische Theorien haben nicht nur geschichtliche Anlässe, sie sind in sich selbst geschichtlich."

Unsere Debatte wurde heftiger und heftiger. Wir balgten uns wild, verbal, versteht sich, mit der Vertrautheit von Buben, die sich Hiebe nicht übelnehmen, die sie sich im Spiel versetzen. Ich wollte ihn noch weiter reizen und verstieg mich zu dem Ausruf: "Du willst alle Kunst wieder auf Goldgrund setzen! Du bist ein Kunsthistoriker, der kein Historiker sein will. Du bist wie eine Haustür, die keine Tür sein will, sondern gleich ein ganzes Haus, nur weil sie mit der ersten Silbe so heißt."

In unserer Erregung sprangen wir beide laut lachend auf; er eilte hinüber zum Plattenspieler und legte eine Sinfonie von Bruckner auf. Zu mir herüber gewendet, rief er wie im Triumph, das sei Kunst und diese Sinfonie habe Bruckner "dem lieben Gott gewidmet". Ich hörte noch etwas von "Goldgrund", "ja, Goldgrund!" und "außerhalb der Zeit". Der Rest seiner Widerlegung ging in Rausch und sinfonischem Gewoge unter. Dann trat Max, fremd, in voller Größe vor den Lautsprecher und dirigierte mit weit ausholenden Bewegungen das Orchester. Wir waren, ohne unseren Disput austragen zu müssen, einig. Ich wußte jetzt, was Ikonik war.

Meine Frage allerdings blieb. Ebenso seine Beharrung. Sie bleiben bis heute. Beide seien dem Leser der "Gesammelten Schriften" zu gefälliger Beachtung empfohlen.

Max Imdahl: "Gesammelte Schriften". Band 1: Zur Kunst der Moderne, hrsg. von A. Janhsen-Vukicevic, 562 S.; Band 2: Zur Kunst der Tradition, hrsg. von G. Winter, 503 S.; Band 3: Reflexion - Theorie - Methode, hrsg. von G. Boehm, mit einem Beitrag von H. R. Jauß, 732 S. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1996., geb. zus. 274,- DM.

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