Dieser Band umfasst die politischen Schriften von Hugo Preuß aus der Zeit von 1885 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in denen sich Preuß mit dem "Sonderweg" des deutschen Liberalismus auseinandersetzt. Schwerpunkt seiner politischen Analysen war die Schwäche und Zerfahrenheit des deutschen Liberalismus. Bismarck hatte einen Teil der liberalen Forderungen verwirklicht, indem er die Einheit Deutschlands herstellte. Aber zugleich hatte er die Kraft der liberalen Bewegung gebrochen. In dieser Krise des Liberalismus wollte Preuß eine Brücke zur demokratischen Arbeiterbewegung schlagen, wie das in England die Fabian Society und in Frankreich Jean Jaurès und die Radikalsozialisten zu Wege gebracht hatten. Im Krieg verurteilte er die imperialistischen Exzesse der alldeutschen sogenannten Vaterlandspartei, trat für einen Verständigungsfrieden ein und wollte den preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat durch einen parlamentarischen Volksstaat überwinden. Eindringlich warb er darum, in Europafreund-nachbarliche Verhältnisse herzustellen, um die gefährliche Selbstisolierung zu überwinden. Erst als das Kaiserreich in der militärischen Niederlage zusammenbrach, konnte er versuchen, sein Reformkonzept, das sich bisher auf die Berliner Kommunalpolitik beschränkt hatte, zu verwirklichen. Die Weimarer Republik wurde jedoch von ihren Gegnern zerstört, die Neuordnung hatte erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bleibenden Erfolg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2007Gegen den Obrigkeitsstaat
Der Anfang ist gemacht: Gesammelte Schriften von Hugo Preuß
Als ein publizistischer Streiter mit erzählerischer Farbe und historischer Anschaulichkeit - so tritt uns der Weimarer Staatsrechtler Hugo Preuß beim eindrucksvollen Auftakt seiner Gesammelten Schriften vor Augen.
Wie es Sternstunden gibt, so gibt es auch Starrstunden, Augenblicke, in denen alles erschreckt innehält und niemand weiß, was demnächst noch stehen oder einstürzen wird. Die letzten Oktober- und ersten Novembertage 1918 waren solcherart, gänzlich ungewiss, was aus diesem Land jetzt werde. Würde es den Übergang in eine parlamentarisch verfasste Monarchie finden oder in eine russische Revolution stürzen oder, im Sturz seiner Fürsten, sich fangen können?
Dies war nicht nur die Stunde Philipp Scheidemanns, sondern auch die von Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden der SPD und jetzt auch des revolutionären "Rates der Volksbeauftragten". Wohin wollten die von niemanden beauftragten "Volksbeauftragten" mit dem Reich? Das erste richtungweisende Signal gab Ebert mit seinem Ruf vom 15. November an den liberalen Berliner Staatsrechtsprofessor Hugo Preuß, die Leitung des Innenministeriums, des Verfassungsministeriums, zu übernehmen.
Was dies bedeutete, wird noch klarer, wenn man liest, was Preuß tags zuvor, am 14. November, im "Berliner Tageblatt" unter der zornigen Überschrift "Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?" dem Rat der Volksbeauftragten entgegengerufen hatte: "Im alten Obrigkeitsstaat hatte der Bürger sehr wenig, im gegenwärtigen hat er absolut gar nichts zu sagen." Von den neuen Machthabern forderte er eine "auf der Gleichberechtigung aller Volksgenossen ruhende politisch-demokratische Organisation". Gewiss müsse eine moderne Demokratie vom Geiste eines kräftigen sozialen Fortschritts erfüllt sein, "aber ihre politische Grundlage kann niemals der soziale Klassenkampf bilden, sondern nur die Einheit und Gleichheit aller".
Ebert brauchte einen Fachmann. Mit Hugo Preuß wählte er auch das Programm: keine Räterepublik, keine "Sowjets", keine Diktatur der Arbeiter, sondern Rechtsstaat und parlamentarische Regierung, klassische westliche, repräsentative Demokratie.
Preuß hatte schon 1917 einen Entwurf zur Parlamentarisierung der Monarchie ausgearbeitet. Er hatte im Kopf, worauf es ankam. Die Skizze der Verfassung war schnell entworfen. Dann beriet er sich darüber mit Max Weber, Friedrich Meinecke, Gerhard Anschütz. Im Januar 1919 erörterte er seinen fertigen Entwurf in der provisorischen Reichsregierung. In den Verhandlungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung musste er Änderungen hinnehmen, in den Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten sogar schwerwiegende. Von den wichtigsten Zielen erreichte er nur die uneingeschränkte parlamentarische Kontrolle der Regierung.
Unerschrocken, sarkastisch und hartnäckig hat Preuß mehr als drei Jahrzehnte den "Obrigkeitsstaat" in Bismarcks Kaiserreich angegriffen, seinen Mangel an öffentlicher Kontrollierbarkeit kritisiert und auf die Rückstände an politischer Erziehung der Bürger und Regierungserfahrung der Parteien aufmerksam gemacht. Die Bürokratie, der Hof selbst, zahlte ihm die beißende Kritik mit langandauernder Behinderung seiner akademischen Karriere heim. Im Laufe dieses publizistischen Kampfes auf der Seite der klassischen (linken) Liberalen war Preuß sich etwa an der Jahrhundertwende darüber klargeworden, dass den schwächer werdenden Liberalen der Durchbruch zu parlamentarischer Regierung nicht mehr ohne die erstarkende Sozialdemokratie gelingen könne. Seit dieser Zeit pflegte er Verbindungen zu deren Reformflügel. Ebert wusste, was er von Preuß erwarten durfte.
Doch seine eigene, die neue "Deutsche Demokratische Partei", die Preuß im November 1918 mitgegründet hatte, hatte weder in der Nationalversammlung noch danach im Reichstag ein Mandat für ihn übrig. 1925, wenige Monate nach Ebert, starb Preuß im Alter von 65 Jahren, als preußischer Landtagsabgeordneter und mitten in der Arbeit an einem Kommentar zur Weimarer Verfassung.
Seine Bekanntheit verblasste schnell. Sein Andenken geriet mit Ansehen der Verfassung in den Sog des Untergangs der Republik. Später wollte eine vielverbreitete Meinung wissen, die erste deutsche Republik sei auch an ihrer Verfassung zugrunde gegangen; ihr Hauptfehler habe im Gewicht ihrer plebiszitären Teile, auch des direkt gewählten, "starken" Reichspräsidenten und seiner Vollmachten nach Artikel 48 gelegen. Doch das ist eine Legende.
Die Figur des Reichspräsidenten durfte gar nicht aus dem Reichstag hervorgehen, wenn die Gewaltenteilung etwas taugen sollte, so wenig wie der englische König aus dem Unterhaus hervorgeht. Auch konnte der Weimarer Reichspräsident nur dann als Reserveregierung auf den Plan treten, wenn die Parteien im Reichstag nicht parlamentarisch regieren konnten oder nicht mehr wollten. Weimar ging nicht an Preuß' Verfassung zugrunde, sondern an den Parteien und ihren Wählern - und in der höchsten Not auch noch an einem gar nicht starken, sondern enttäuschend schwachen Reichspräsidenten. Dagegen konnte keine Verfassung helfen.
Viele Jahrzehnte, bis nach der Wiedervereinigung, schien es kaum noch ein historisches oder juristisches Interesse an Hugo Preuß zu geben. Einige Dissertationen waren geschrieben worden. Die erste aus dem Jahre 1955 blieb ungedrucktes Schreibmaschinenmanuskript. Fünfundvierzig Jahre später fand sie überraschend einen Herausgeber und einen Verleger. Bald darauf gründete sich in Berlin eine wissenschaftliche Hugo-Preuß-Gesellschaft, ein Kongress im Berliner Rathaus folgte, danach die Benennung einer Brücke im Berliner Regierungsviertel, und das Bundestagspräsidium merkte auf. Inzwischen entsteht eine auf fünf Bände angelegte Gesamtausgabe von Hugo Preuß' Schriften, herausgegeben von den Berliner Professoren Detlef Lehnert und Christoph Müller. Sie soll alle Arbeiten von Hugo Preuß aufnehmen außer dreien, die in Nachdrucken verfügbar geblieben sind, nämlich "Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften" (1889), "Das Städtische Amtsrecht in Preußen" (1902) und "Die Entwicklung des deutschen Städtewesens" (1906).
Der erste Band der "Gesammelten Schriften" ist soeben erschienen ("Politik und Gesellschaft im Kaiserreich"). Der Bielefelder Historiker Lothar Albertin hat ihn herausgegeben und mit einer ausgezeichneten Einführung versehen, die die Person in die Geschichte der linksliberalen Parteien des Kaiserreichs stellt und diese in das Panorama der deutschen Innenpolitik jener Jahre. Dieser erste Band, mehr als achthundert Seiten stark, zeigt Preuß als publizistischen Streiter. Alle Artikel und Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften bis zum Ende des Weltkrieges wurden aufgenommen, jeder reichlich erläutert. Selbst wenn die Anlässe ganz und gar vergangen sind, die Überlegungen, die Preuß über gute Regierung und freiheitliche Ordnung an diesen Vorgängen entwickelt, haben in hundert Jahren weder an erzählerischer Farbe und historischer Anschaulichkeit noch an normativer Bedeutung für die politischen Ordnungsfragen der Gegenwart verloren. Als Polemiker erweist sich Preuß auch als eindrucksvoller politischer Lehrer.
Am meisten hat den Rezensenten eine Schrift mit dem Titel "Das deutsche Volk und die Politik" beeindruckt. Preuß schrieb im Jahre 1915 auf rund 150 Seiten seine Bedrückung über den Zustand des eigenen Landes im Weltkrieg nieder. Kein Hauch von jenem anderen Patriotismus, den 1914 fast hundert der berühmtesten Hochschullehrer und Künstler Deutschlands als ihren Kriegsaufruf hinausposaunt hatten. Stattdessen bei Preuß die bange Frage: Warum wurde die deutsche Politik nicht besser geführt?
Eine der Ursachen erblickte er in der überheblichen Annahme von der Überlegenheit der deutschen Kultur und des deutschen Regierungssystems. Tatsächlich zeigte der Verlauf des Krieges, dass es nicht nur die physische Übermacht der Gegner war, die Deutschland in die Niederlage von 1918 führte, sondern dass die demokratisch regierten Länder des Westens unter größter psychischer Belastung mehr Vertrauen und Kraft mobilisieren konnten als das wilhelminische Kaiserreich. Die Rückständigkeit der Verfassungszustände und generell der politischen Debatte, so meinte er, und mit ihm auch Max Weber und Friedrich Naumann, habe die politische Reifung der deutschen Eliten verzögert, und dies ganz besonders auf dem Gebiet der Außen- und Militärpolitik "nach Düppel, Königgrätz und Sedan". Mit einem regierungserfahrenen Parlament wäre es der Reichsregierung wohl nicht so leichtgefallen, sich auf außenpolitische Abenteuer einzulassen und Gefahren auszusetzen, die sie im Juli 1914 nicht mehr zu beherrschen wusste.
Der zweite Band "Gesammelten Schriften" von Hugo Preuß wird die rechtspolitischen und rechtsphilosophischen Arbeiten aufnehmen, der dritte die Verfassungsentwürfe, darunter auch den, den er 1917 im Auftrag der Obersten Heeresleitung angefertigt hatte, der vierte Arbeiten zur Politik und Verfassung der Weimarer Republik, und der letzte die kommunalwissenschaftlichen und kommunalpolitischen Schriften.
GÜNTHER GILLESSEN.
Hugo Preuß: "Politik und Gesellschaft im Kaiserreich". Gesammelte Schriften, Band 1. Herausgegeben von Lothar Albertin und Christoph Müller. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2007. 811 S., geb., 89,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Anfang ist gemacht: Gesammelte Schriften von Hugo Preuß
Als ein publizistischer Streiter mit erzählerischer Farbe und historischer Anschaulichkeit - so tritt uns der Weimarer Staatsrechtler Hugo Preuß beim eindrucksvollen Auftakt seiner Gesammelten Schriften vor Augen.
Wie es Sternstunden gibt, so gibt es auch Starrstunden, Augenblicke, in denen alles erschreckt innehält und niemand weiß, was demnächst noch stehen oder einstürzen wird. Die letzten Oktober- und ersten Novembertage 1918 waren solcherart, gänzlich ungewiss, was aus diesem Land jetzt werde. Würde es den Übergang in eine parlamentarisch verfasste Monarchie finden oder in eine russische Revolution stürzen oder, im Sturz seiner Fürsten, sich fangen können?
Dies war nicht nur die Stunde Philipp Scheidemanns, sondern auch die von Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden der SPD und jetzt auch des revolutionären "Rates der Volksbeauftragten". Wohin wollten die von niemanden beauftragten "Volksbeauftragten" mit dem Reich? Das erste richtungweisende Signal gab Ebert mit seinem Ruf vom 15. November an den liberalen Berliner Staatsrechtsprofessor Hugo Preuß, die Leitung des Innenministeriums, des Verfassungsministeriums, zu übernehmen.
Was dies bedeutete, wird noch klarer, wenn man liest, was Preuß tags zuvor, am 14. November, im "Berliner Tageblatt" unter der zornigen Überschrift "Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?" dem Rat der Volksbeauftragten entgegengerufen hatte: "Im alten Obrigkeitsstaat hatte der Bürger sehr wenig, im gegenwärtigen hat er absolut gar nichts zu sagen." Von den neuen Machthabern forderte er eine "auf der Gleichberechtigung aller Volksgenossen ruhende politisch-demokratische Organisation". Gewiss müsse eine moderne Demokratie vom Geiste eines kräftigen sozialen Fortschritts erfüllt sein, "aber ihre politische Grundlage kann niemals der soziale Klassenkampf bilden, sondern nur die Einheit und Gleichheit aller".
Ebert brauchte einen Fachmann. Mit Hugo Preuß wählte er auch das Programm: keine Räterepublik, keine "Sowjets", keine Diktatur der Arbeiter, sondern Rechtsstaat und parlamentarische Regierung, klassische westliche, repräsentative Demokratie.
Preuß hatte schon 1917 einen Entwurf zur Parlamentarisierung der Monarchie ausgearbeitet. Er hatte im Kopf, worauf es ankam. Die Skizze der Verfassung war schnell entworfen. Dann beriet er sich darüber mit Max Weber, Friedrich Meinecke, Gerhard Anschütz. Im Januar 1919 erörterte er seinen fertigen Entwurf in der provisorischen Reichsregierung. In den Verhandlungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung musste er Änderungen hinnehmen, in den Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten sogar schwerwiegende. Von den wichtigsten Zielen erreichte er nur die uneingeschränkte parlamentarische Kontrolle der Regierung.
Unerschrocken, sarkastisch und hartnäckig hat Preuß mehr als drei Jahrzehnte den "Obrigkeitsstaat" in Bismarcks Kaiserreich angegriffen, seinen Mangel an öffentlicher Kontrollierbarkeit kritisiert und auf die Rückstände an politischer Erziehung der Bürger und Regierungserfahrung der Parteien aufmerksam gemacht. Die Bürokratie, der Hof selbst, zahlte ihm die beißende Kritik mit langandauernder Behinderung seiner akademischen Karriere heim. Im Laufe dieses publizistischen Kampfes auf der Seite der klassischen (linken) Liberalen war Preuß sich etwa an der Jahrhundertwende darüber klargeworden, dass den schwächer werdenden Liberalen der Durchbruch zu parlamentarischer Regierung nicht mehr ohne die erstarkende Sozialdemokratie gelingen könne. Seit dieser Zeit pflegte er Verbindungen zu deren Reformflügel. Ebert wusste, was er von Preuß erwarten durfte.
Doch seine eigene, die neue "Deutsche Demokratische Partei", die Preuß im November 1918 mitgegründet hatte, hatte weder in der Nationalversammlung noch danach im Reichstag ein Mandat für ihn übrig. 1925, wenige Monate nach Ebert, starb Preuß im Alter von 65 Jahren, als preußischer Landtagsabgeordneter und mitten in der Arbeit an einem Kommentar zur Weimarer Verfassung.
Seine Bekanntheit verblasste schnell. Sein Andenken geriet mit Ansehen der Verfassung in den Sog des Untergangs der Republik. Später wollte eine vielverbreitete Meinung wissen, die erste deutsche Republik sei auch an ihrer Verfassung zugrunde gegangen; ihr Hauptfehler habe im Gewicht ihrer plebiszitären Teile, auch des direkt gewählten, "starken" Reichspräsidenten und seiner Vollmachten nach Artikel 48 gelegen. Doch das ist eine Legende.
Die Figur des Reichspräsidenten durfte gar nicht aus dem Reichstag hervorgehen, wenn die Gewaltenteilung etwas taugen sollte, so wenig wie der englische König aus dem Unterhaus hervorgeht. Auch konnte der Weimarer Reichspräsident nur dann als Reserveregierung auf den Plan treten, wenn die Parteien im Reichstag nicht parlamentarisch regieren konnten oder nicht mehr wollten. Weimar ging nicht an Preuß' Verfassung zugrunde, sondern an den Parteien und ihren Wählern - und in der höchsten Not auch noch an einem gar nicht starken, sondern enttäuschend schwachen Reichspräsidenten. Dagegen konnte keine Verfassung helfen.
Viele Jahrzehnte, bis nach der Wiedervereinigung, schien es kaum noch ein historisches oder juristisches Interesse an Hugo Preuß zu geben. Einige Dissertationen waren geschrieben worden. Die erste aus dem Jahre 1955 blieb ungedrucktes Schreibmaschinenmanuskript. Fünfundvierzig Jahre später fand sie überraschend einen Herausgeber und einen Verleger. Bald darauf gründete sich in Berlin eine wissenschaftliche Hugo-Preuß-Gesellschaft, ein Kongress im Berliner Rathaus folgte, danach die Benennung einer Brücke im Berliner Regierungsviertel, und das Bundestagspräsidium merkte auf. Inzwischen entsteht eine auf fünf Bände angelegte Gesamtausgabe von Hugo Preuß' Schriften, herausgegeben von den Berliner Professoren Detlef Lehnert und Christoph Müller. Sie soll alle Arbeiten von Hugo Preuß aufnehmen außer dreien, die in Nachdrucken verfügbar geblieben sind, nämlich "Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften" (1889), "Das Städtische Amtsrecht in Preußen" (1902) und "Die Entwicklung des deutschen Städtewesens" (1906).
Der erste Band der "Gesammelten Schriften" ist soeben erschienen ("Politik und Gesellschaft im Kaiserreich"). Der Bielefelder Historiker Lothar Albertin hat ihn herausgegeben und mit einer ausgezeichneten Einführung versehen, die die Person in die Geschichte der linksliberalen Parteien des Kaiserreichs stellt und diese in das Panorama der deutschen Innenpolitik jener Jahre. Dieser erste Band, mehr als achthundert Seiten stark, zeigt Preuß als publizistischen Streiter. Alle Artikel und Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften bis zum Ende des Weltkrieges wurden aufgenommen, jeder reichlich erläutert. Selbst wenn die Anlässe ganz und gar vergangen sind, die Überlegungen, die Preuß über gute Regierung und freiheitliche Ordnung an diesen Vorgängen entwickelt, haben in hundert Jahren weder an erzählerischer Farbe und historischer Anschaulichkeit noch an normativer Bedeutung für die politischen Ordnungsfragen der Gegenwart verloren. Als Polemiker erweist sich Preuß auch als eindrucksvoller politischer Lehrer.
Am meisten hat den Rezensenten eine Schrift mit dem Titel "Das deutsche Volk und die Politik" beeindruckt. Preuß schrieb im Jahre 1915 auf rund 150 Seiten seine Bedrückung über den Zustand des eigenen Landes im Weltkrieg nieder. Kein Hauch von jenem anderen Patriotismus, den 1914 fast hundert der berühmtesten Hochschullehrer und Künstler Deutschlands als ihren Kriegsaufruf hinausposaunt hatten. Stattdessen bei Preuß die bange Frage: Warum wurde die deutsche Politik nicht besser geführt?
Eine der Ursachen erblickte er in der überheblichen Annahme von der Überlegenheit der deutschen Kultur und des deutschen Regierungssystems. Tatsächlich zeigte der Verlauf des Krieges, dass es nicht nur die physische Übermacht der Gegner war, die Deutschland in die Niederlage von 1918 führte, sondern dass die demokratisch regierten Länder des Westens unter größter psychischer Belastung mehr Vertrauen und Kraft mobilisieren konnten als das wilhelminische Kaiserreich. Die Rückständigkeit der Verfassungszustände und generell der politischen Debatte, so meinte er, und mit ihm auch Max Weber und Friedrich Naumann, habe die politische Reifung der deutschen Eliten verzögert, und dies ganz besonders auf dem Gebiet der Außen- und Militärpolitik "nach Düppel, Königgrätz und Sedan". Mit einem regierungserfahrenen Parlament wäre es der Reichsregierung wohl nicht so leichtgefallen, sich auf außenpolitische Abenteuer einzulassen und Gefahren auszusetzen, die sie im Juli 1914 nicht mehr zu beherrschen wusste.
Der zweite Band "Gesammelten Schriften" von Hugo Preuß wird die rechtspolitischen und rechtsphilosophischen Arbeiten aufnehmen, der dritte die Verfassungsentwürfe, darunter auch den, den er 1917 im Auftrag der Obersten Heeresleitung angefertigt hatte, der vierte Arbeiten zur Politik und Verfassung der Weimarer Republik, und der letzte die kommunalwissenschaftlichen und kommunalpolitischen Schriften.
GÜNTHER GILLESSEN.
Hugo Preuß: "Politik und Gesellschaft im Kaiserreich". Gesammelte Schriften, Band 1. Herausgegeben von Lothar Albertin und Christoph Müller. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2007. 811 S., geb., 89,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2007Konstitutionelle Gemütsergötzlichkeiten
Er gilt als Vater der Weimarer Reichsverfassung: Jetzt erscheinen die gesammelten Schriften des liberalen Juristen Hugo Preuß
Der deutsche Liberalismus hatte schon ein verwelktes Ansehen, bevor er als Wirtschaftsliberalismus richtig aufblühte. Während in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 leidenschaftlich über die beste aller möglichen Verfassungen gestritten wurde, war doch längst schon die „soziale Verfassung” erschüttert. Ist die soziale Konstitution geschwächt, dann kommt sie mit „konstitutionellen Gemütsergötzlichkeiten” nicht wieder zu Kräften, wie der katholische Mittelstandspolitiker Karl Georg Winkelblech damals zu bedenken gab. Doch die deutschen Bürger und Liberalen suchten gerade darin ihren Halt.
Deshalb haderte ein später Liberaler; Hugo Preuß ( 1860 - 1925 ), mit ihnen, der maßgeblich für die Weimarer Verfassung von 1919 verantwortlich war. Seine meist vergessenen Schriften werden jetzt wieder in fünf Bänden zugänglich gemacht, deren erster indessen vorliegt. In den Aufsätzen zu „Politik und Gesellschaft im Kaiserreich”, von dem Historiker Lothar Albertin herausgegeben und eingeleitet, beklagt der Staatsrechtler und praktische Kommunalpolitiker in Berlin ununterbrochen den unzulänglich entwickelten Bürgergeist selbst unter liberalen Zeitgenossen, die es sich im Schatten des Obrigkeitsstaates bequem machten. Der beunruhigte Nationalliberale haderte mit der deutschen Geschichte, die den Bürger immer in kleinsten Verhältnissen festhielt und ihm den Enthusiasmus für große Gemeinschaftsaufgaben vorenthielt. Ohne ihn kann sich keine Nation zu einem all seine Glieder belebenden Volksstaat entwickeln. Davon war Hugo Preuß überzeugt.
Den Volksstaat verstand er wie sein großes Ideal, der Freiherr vom Stein, als einen Verband, der von der Gemeinde und den Kreisen über die Provinzen bis hin zur Nationalvertretung in wechselnden, einander ergänzenden Formen bürgerliche Selbsttätigkeit und Selbstverwaltung ermöglicht und verlangt. Die hochgebildete Bürokratie hemmte, wie Preuss immer wieder bedauerte, einen freien, selbstbewussten Gemeingeist. Denn die Beamten des monarchischen Staates verstanden sich zusammen mit der Krone als neutrale Sachwalter des Allgemeinwohls. Sie koordinierten, beschränkten oder kontrollierten die immer bewegten und miteinander ringenden gesellschaftlichen Kräften zum Vorteil einer öffentlichen Ordnung und Ruhe, wie sie sich diese in olympischer Unaufgeregtheit dachten. Über die Bürokratie gewannen Bürger als Beamte erheblichen Anteil an der Wirksamkeit des Staates, ohne unbedingt daran interessiert zu sein, diese einzuschränken und damit die eigenen Machtvollkommenheiten.
Beamte konnten sich allemal vorstellen, zum Vorteil der Person „des Staates als solchen”, den Monarchen als Staatsorgan weitgehend zu entmächtigen. Sie waren zu erheblichen Veränderungen bereit und fähig, solange diese unter ihrer Regie und Aufsicht vorbereitet und „durchgeführt” wurden. Die Bürokratie war eine ungemein innovative Kraft, was Hugo Preuß anerkannte, die aber von oben durchsetzte, was eigentlich von unten erzwungen werden müsste. Bürgerliche Freiheit glich dann mehr einer obrigkeitlichen Verordnung – wie in Preußen – als einer Selbstermächtigung des mündig gewordenen Untertanen. Deutsche Beamte wie deutsche Bürger hatten eine fürchterliche Angst vor Unordnung und Temperamentsausbrüchen.
Die sogenannte Revolution von 1848, die Hugo Preuß als einen sehr erfolgreichen Versuch einschätzt, eine Revolution gerade zu verhindern, wurde von Beamten gemacht. Sie waren stolz darauf, die unruhigen Klassen und demokratische Bestrebungen, Gott sei Lob und Dank, beruhigt und unschädlich gemacht zu haben. Die deutschen Bürger wichen bewusst vor der entscheidenden Frage nach dem Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt aus, also der Frage, wer der Souverän sei, der Monarch oder das Volk. Sie begnügten sich mit einem die Entscheidung aufschiebenden Kompromiss von Monarchie und Demokratie, der sich bis 1918 bewährte oder – wie Hugo Preuß vermutete – die „innere Einheit”, in der einen Nation sich zum freien Bürger zu bilden, verzögerte. Darin erkannte er den Grund für die Isolation der Deutschen in der westlich aufgeklärten Welt, wie sie spätestens im großen Krieg ab 1914 offensichtlich wurde.
Inständig grübelnd über das „Anderssein” der Deutschen wurde er vollends zum Opfer liberaler Mythen und Legenden in historischem Kostüm. Das Bürgertum war immer und überall eine vorsichtige Klasse, die sich prächtig mit den staatsabsolutistischen Tendenzen seit dem Beginn der Neuzeit arrangierte. Könige und Bürger hatten gemeinsam ein Ziel: den Einfluss des Adels einzuschränken. Außerdem konnte, wer wollte, reich werden im Dienst seines Königs. Der bürgerliche Ehrgeiz galt immer dem Bestreben, aus Geld noch mehr Geld zu machen und dann – als steinreicher Mann zum Baron erhoben –, sich von den Geschäften zurückzuziehen und adeliges Landleben, ästhetisch parfümiert, zu genießen.
Hugo Preuß, der Freund der Freiheit und der Selbstverwaltung, vermag sich für den großen Aufbruch der Franzosen im Sommer 1789 verhalten zu begeistern. Aber abgesehen von Gewalttätigkeiten, die das Verlangen nach Freiheit begleiteten, ist er vor allem davon erschüttert, dass die Idee der Freiheit in den hundert Jahren danach in Frankreich schwächer blieb als die Staatsgesinnung königlich autoritärer Herkunft. Die französische Republik seiner Gegenwart galt ihm als trauriges Beispiel dafür, wie Demokratie und Obrigkeitsstaat innigst ineinander verschmelzen. Das hatte schon früher Alexis de Tocqueville beunruhigt, der in Frankreich die Selbstverwaltung als Grundlage der Freiheit vermisste.
Im Vergleich zu Frankreich wirkte das kaiserliche Deutschland mit seinen Gemeindefreiheiten, seinen provinziellen Sonderformen und Partikularismen auf Hugo Preuß doch wieder als ein Land, dem Freiheit nicht unbekannt sei. Der Selbstverwaltung deutscher Kommunen entsprach höchstens das selfgovernment englischer Grafschaften. Ganz so anders wie die andern war Deutschland für ihn dann doch wieder nicht. .
Der liberale Jurist, der dem Staat misstraute und energisch für die Freiheit kämpfte, verwickelte sich in manche Widersprüche. Die Freiheit, die er meinte, das war die bürgerlicher Freiheit wie um 1848. Der Linksliberale, der den verbürgerlichten Sozialisten oder Sozialdemokraten schon unter Wilhelm II. weit entgegenkam, um ihnen dabei zu helfen, sich aus engem Klassenbewusstsein zu lösen und zu freier Staatsbürgerlichkeit zu finden, geriet nie in Versuchung, seine Gedanken vielleicht für klassenspezifische zu halten. Hugo Preuß, der liberale Bildungsbürger, machte sich über vieles Sorgen, nur nicht über „das Kapital” und dessen unübersichtliche Macht.
Sein Bürger ist eine freundlicher Jurist, der sein Wohlwollen mit allen und seine tätige Lebensfreude freilich verliert, sobald es um das Ersparte geht, um das einzig Heilige, was ihm geblieben ist, das Eigentum. Dann wird auch der politikverdrossene Zeitgenosse aktiv. Hugo Preuß, der dauernde Feind des Obrigkeitsstaates, unterstützte sofort den Sozialdemokraten Friedrich Ebert im November 1918 bei der Bemühung, mit Hilfe der Beamten und Soldaten von oben die Revolution zu unterdrücken und damit den Versuch, einen Volksstaat von unten auf unbürokratischen Wegen durchzusetzen. Der umsichtige Jurist verhielt sich wie die „48er”. Denn der Bürger braucht vor allem Sicherheit, um in aller Ruhe seinen Geschäften nachgehen zu können. Die Sicherheit ist heute der mächtigste Vorwand bei der Bemühung, die Freiheitsrechte allmählich um ihre Substanz zu bringen, sodass sie zu „konstitutionellen Gemütsergötzlichkeiten” schrumpfen. Die Sicherheit schützt vor allem die Freiheit des Marktes. Insofern verdient Hugo Preuß ein Prunkgrab mit der Ausgabe seiner Schriften, in denen der Mensch mit dem Bürger und noch nicht mit dem Verbraucher verwechselt wird. EBERHARD STRAUB
HUGO PREUSS: Gesammelte Schriften. Erster Band: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Mohr Siebeck Tübingen, 2007. 811 Seiten, 89 Euro.
Hugo Preuß, der erste Innenminister der Weimarer Republik. Foto: Megele
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Er gilt als Vater der Weimarer Reichsverfassung: Jetzt erscheinen die gesammelten Schriften des liberalen Juristen Hugo Preuß
Der deutsche Liberalismus hatte schon ein verwelktes Ansehen, bevor er als Wirtschaftsliberalismus richtig aufblühte. Während in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 leidenschaftlich über die beste aller möglichen Verfassungen gestritten wurde, war doch längst schon die „soziale Verfassung” erschüttert. Ist die soziale Konstitution geschwächt, dann kommt sie mit „konstitutionellen Gemütsergötzlichkeiten” nicht wieder zu Kräften, wie der katholische Mittelstandspolitiker Karl Georg Winkelblech damals zu bedenken gab. Doch die deutschen Bürger und Liberalen suchten gerade darin ihren Halt.
Deshalb haderte ein später Liberaler; Hugo Preuß ( 1860 - 1925 ), mit ihnen, der maßgeblich für die Weimarer Verfassung von 1919 verantwortlich war. Seine meist vergessenen Schriften werden jetzt wieder in fünf Bänden zugänglich gemacht, deren erster indessen vorliegt. In den Aufsätzen zu „Politik und Gesellschaft im Kaiserreich”, von dem Historiker Lothar Albertin herausgegeben und eingeleitet, beklagt der Staatsrechtler und praktische Kommunalpolitiker in Berlin ununterbrochen den unzulänglich entwickelten Bürgergeist selbst unter liberalen Zeitgenossen, die es sich im Schatten des Obrigkeitsstaates bequem machten. Der beunruhigte Nationalliberale haderte mit der deutschen Geschichte, die den Bürger immer in kleinsten Verhältnissen festhielt und ihm den Enthusiasmus für große Gemeinschaftsaufgaben vorenthielt. Ohne ihn kann sich keine Nation zu einem all seine Glieder belebenden Volksstaat entwickeln. Davon war Hugo Preuß überzeugt.
Den Volksstaat verstand er wie sein großes Ideal, der Freiherr vom Stein, als einen Verband, der von der Gemeinde und den Kreisen über die Provinzen bis hin zur Nationalvertretung in wechselnden, einander ergänzenden Formen bürgerliche Selbsttätigkeit und Selbstverwaltung ermöglicht und verlangt. Die hochgebildete Bürokratie hemmte, wie Preuss immer wieder bedauerte, einen freien, selbstbewussten Gemeingeist. Denn die Beamten des monarchischen Staates verstanden sich zusammen mit der Krone als neutrale Sachwalter des Allgemeinwohls. Sie koordinierten, beschränkten oder kontrollierten die immer bewegten und miteinander ringenden gesellschaftlichen Kräften zum Vorteil einer öffentlichen Ordnung und Ruhe, wie sie sich diese in olympischer Unaufgeregtheit dachten. Über die Bürokratie gewannen Bürger als Beamte erheblichen Anteil an der Wirksamkeit des Staates, ohne unbedingt daran interessiert zu sein, diese einzuschränken und damit die eigenen Machtvollkommenheiten.
Beamte konnten sich allemal vorstellen, zum Vorteil der Person „des Staates als solchen”, den Monarchen als Staatsorgan weitgehend zu entmächtigen. Sie waren zu erheblichen Veränderungen bereit und fähig, solange diese unter ihrer Regie und Aufsicht vorbereitet und „durchgeführt” wurden. Die Bürokratie war eine ungemein innovative Kraft, was Hugo Preuß anerkannte, die aber von oben durchsetzte, was eigentlich von unten erzwungen werden müsste. Bürgerliche Freiheit glich dann mehr einer obrigkeitlichen Verordnung – wie in Preußen – als einer Selbstermächtigung des mündig gewordenen Untertanen. Deutsche Beamte wie deutsche Bürger hatten eine fürchterliche Angst vor Unordnung und Temperamentsausbrüchen.
Die sogenannte Revolution von 1848, die Hugo Preuß als einen sehr erfolgreichen Versuch einschätzt, eine Revolution gerade zu verhindern, wurde von Beamten gemacht. Sie waren stolz darauf, die unruhigen Klassen und demokratische Bestrebungen, Gott sei Lob und Dank, beruhigt und unschädlich gemacht zu haben. Die deutschen Bürger wichen bewusst vor der entscheidenden Frage nach dem Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt aus, also der Frage, wer der Souverän sei, der Monarch oder das Volk. Sie begnügten sich mit einem die Entscheidung aufschiebenden Kompromiss von Monarchie und Demokratie, der sich bis 1918 bewährte oder – wie Hugo Preuß vermutete – die „innere Einheit”, in der einen Nation sich zum freien Bürger zu bilden, verzögerte. Darin erkannte er den Grund für die Isolation der Deutschen in der westlich aufgeklärten Welt, wie sie spätestens im großen Krieg ab 1914 offensichtlich wurde.
Inständig grübelnd über das „Anderssein” der Deutschen wurde er vollends zum Opfer liberaler Mythen und Legenden in historischem Kostüm. Das Bürgertum war immer und überall eine vorsichtige Klasse, die sich prächtig mit den staatsabsolutistischen Tendenzen seit dem Beginn der Neuzeit arrangierte. Könige und Bürger hatten gemeinsam ein Ziel: den Einfluss des Adels einzuschränken. Außerdem konnte, wer wollte, reich werden im Dienst seines Königs. Der bürgerliche Ehrgeiz galt immer dem Bestreben, aus Geld noch mehr Geld zu machen und dann – als steinreicher Mann zum Baron erhoben –, sich von den Geschäften zurückzuziehen und adeliges Landleben, ästhetisch parfümiert, zu genießen.
Hugo Preuß, der Freund der Freiheit und der Selbstverwaltung, vermag sich für den großen Aufbruch der Franzosen im Sommer 1789 verhalten zu begeistern. Aber abgesehen von Gewalttätigkeiten, die das Verlangen nach Freiheit begleiteten, ist er vor allem davon erschüttert, dass die Idee der Freiheit in den hundert Jahren danach in Frankreich schwächer blieb als die Staatsgesinnung königlich autoritärer Herkunft. Die französische Republik seiner Gegenwart galt ihm als trauriges Beispiel dafür, wie Demokratie und Obrigkeitsstaat innigst ineinander verschmelzen. Das hatte schon früher Alexis de Tocqueville beunruhigt, der in Frankreich die Selbstverwaltung als Grundlage der Freiheit vermisste.
Im Vergleich zu Frankreich wirkte das kaiserliche Deutschland mit seinen Gemeindefreiheiten, seinen provinziellen Sonderformen und Partikularismen auf Hugo Preuß doch wieder als ein Land, dem Freiheit nicht unbekannt sei. Der Selbstverwaltung deutscher Kommunen entsprach höchstens das selfgovernment englischer Grafschaften. Ganz so anders wie die andern war Deutschland für ihn dann doch wieder nicht. .
Der liberale Jurist, der dem Staat misstraute und energisch für die Freiheit kämpfte, verwickelte sich in manche Widersprüche. Die Freiheit, die er meinte, das war die bürgerlicher Freiheit wie um 1848. Der Linksliberale, der den verbürgerlichten Sozialisten oder Sozialdemokraten schon unter Wilhelm II. weit entgegenkam, um ihnen dabei zu helfen, sich aus engem Klassenbewusstsein zu lösen und zu freier Staatsbürgerlichkeit zu finden, geriet nie in Versuchung, seine Gedanken vielleicht für klassenspezifische zu halten. Hugo Preuß, der liberale Bildungsbürger, machte sich über vieles Sorgen, nur nicht über „das Kapital” und dessen unübersichtliche Macht.
Sein Bürger ist eine freundlicher Jurist, der sein Wohlwollen mit allen und seine tätige Lebensfreude freilich verliert, sobald es um das Ersparte geht, um das einzig Heilige, was ihm geblieben ist, das Eigentum. Dann wird auch der politikverdrossene Zeitgenosse aktiv. Hugo Preuß, der dauernde Feind des Obrigkeitsstaates, unterstützte sofort den Sozialdemokraten Friedrich Ebert im November 1918 bei der Bemühung, mit Hilfe der Beamten und Soldaten von oben die Revolution zu unterdrücken und damit den Versuch, einen Volksstaat von unten auf unbürokratischen Wegen durchzusetzen. Der umsichtige Jurist verhielt sich wie die „48er”. Denn der Bürger braucht vor allem Sicherheit, um in aller Ruhe seinen Geschäften nachgehen zu können. Die Sicherheit ist heute der mächtigste Vorwand bei der Bemühung, die Freiheitsrechte allmählich um ihre Substanz zu bringen, sodass sie zu „konstitutionellen Gemütsergötzlichkeiten” schrumpfen. Die Sicherheit schützt vor allem die Freiheit des Marktes. Insofern verdient Hugo Preuß ein Prunkgrab mit der Ausgabe seiner Schriften, in denen der Mensch mit dem Bürger und noch nicht mit dem Verbraucher verwechselt wird. EBERHARD STRAUB
HUGO PREUSS: Gesammelte Schriften. Erster Band: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Mohr Siebeck Tübingen, 2007. 811 Seiten, 89 Euro.
Hugo Preuß, der erste Innenminister der Weimarer Republik. Foto: Megele
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Über Jahrzehnte schien der als Vater der Weimarer Verfassung geltende Staatsrechtler Hugo Preuß in Vergessenheit geraten. Um so mehr begrüßt Günther Gillessen den nun vorliegenden ersten Band einer auf fünf Bände angelegten Ausgabe seiner "Gesammelten Schriften", den Lothar Albertin und Christoph Müller herausgegebenen haben. Er schätzt Albertins hervorragende Einführung, die Preuß in den historischen Kontext der linksliberalen Parteien des Kaiserreichs und das Panorama der deutschen Innenpolitik jener Jahre stellt. Auch die reiche Kommentierung des Bands, der alle Artikel und Beiträge von Preuß für Zeitungen und Zeitschriften bis zum Ende des Weltkrieges bietet, bedenkt er mit Lob. Preuß' Überlegungen über gute Regierung und freiheitliche Ordnung scheinen Gillesse nach wie vor von Interesse. Zudem erweise sich der Polemiker Preuß als "eindrucksvoller politischer Lehrer". Besonders hebt Gillesse die Schrift "Das deutsche Volk und die Politik" von 1915 hervor, in der Preuß seine Bedrückung über den Zustand des eigenen Landes im Weltkrieg niedergeschrieben habe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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