»Aber muß ich Ihnen sagen, daß die Aussicht auf einen fast sicheren Überfall Deutschlands auf ein isoliertes Rußland [...] mich wirklich verzweifeln macht? Ist denn dieser Planet wirklich und vollkommen in die Hölle hineingeraten? Es ist keine Phrase, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht weiß, wie ich diese Realität länger ertragen soll, es denn in der Gemeinschaft mit Ihnen.«Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, 12. Oktober 1936»Der letzte Absatz Ihres Briefes über die gegenwärtige Wirklichkeit entspricht in jeder Nuance meinem eigenen Gefühl.«Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, 22. Oktober 1936
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995Freundlichkeit des Chefs
Max Horkheimers Briefwechsel bis 1936 / Von Kurt Flasch
Die sogenannte Frankfurter Schule hat zahlreiche Kontroversen ausgelöst. Wie es bei Polemiken zu gehen pflegt, wurde sie von außen häufig verzerrt wahrgenommen und von innen zu einheitlich stilisiert. Seit gut zwanzig Jahren historisiert sie sich selbst. Befreit vom Druck defensiver Selbstdarstellung, gibt sie den Blick frei auf eine Vielzahl intellektueller Physiognomien; sie macht zunehmend deutlich, daß sie im Kontext der Denkformen und Redestile der zwanziger und dreißiger Jahre zu lesen ist. Die internen Unterschiede vergrößern sich dadurch. Das Fortschreiten der Werkausgaben von Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, von Erich Fromm und Max Horkheimer, von Leo Löwenthal und Herbert Marcuse öffnet den Blick in eine bewegte Gruppe von Intellektuellen.
Die Horkheimer-Ausgabe ist soeben bei der Edition seiner Briefe angekommen; der erste von vier vorgesehenen Briefbänden liegt vor. Sein Schwerpunkt liegt bei den Jahren 1934 bis 1936: Er zeigt Horkheimer als die zentrale Figur der Emigrantengruppe. Zusammen mit Friedrich Pollock etabliert er das Frankfurter Institut für Sozialforschung neu, in Genf und in Paris, zuletzt in New York. Er führt unter erschwerten Bedingungen die "Zeitschrift für Sozialforschung" weiter; er ermutigt, dirigiert und finanziert die in aller Welt zerstreuten Mitarbeiter. Straff, aber immer diplomatisch geschickt hält er die inhomogene Gruppe zusammen.
Der neue Band enthält Bettelbriefe heute weltberühmter Autoren, darunter von Walter Benjamin. Er publiziert wichtige Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Schule - die bürokratisch-schroffe Beurlaubung Horkheimers vom 13. April 1933, seine folgenlose Einrede dagegen, in der er dem Minister seine Auffassung vom Amt des Philosophieprofessors erklärt, dann die Beschlagnahmung des Instituts und die Entlassung vom 22. September 1933. Von den späteren Schreiben verdient der Brief an Raymond Aron vom 20. November 1936 besonderes Interesse, in dem Horkheimer die Arbeiten des New Yorker Instituts beschreibt.
Diagnosen der politischen Situation wechseln ab mit der Diskussion philosophischer und soziologischer Probleme; dazwischen stehen schlichte Beschreibungen der Erfahrungen eines Emigranten. Adorno lebte damals noch in Oxford. Dadurch ergab sich ein intensiver Briefwechsel, denn Adorno wollte nach New York, um dort mit Horkheimer und Pollock gleichrangig das Institut zu leiten. Unverkennbar beurteilte Adorno die politische Situation in Deutschland von 1933 bis 1936 weniger pessimistisch als der realistischere Horkheimer. Schon im April 1933 bat Horkheimer Benjamin, er solle versuchen, die Zuversicht Adornos zu korrigieren, in Deutschland weiter arbeiten zu können, "ohne mich zu nennen und in höchst vorsichtiger Form".
Leicht fühlte Adorno sich gekränkt und zurückgesetzt; er glaubte, er müsse Horkheimer von seinen Qualitäten auch dadurch überzeugen, daß er andere Institutsmitarbeiter herabsetzte. So schrieb er im Mai 1935 an Horkheimer, Herbert Marcuse sei ein nur "durch sein Judentum verhinderter Faszist". Zu Franz Borkenau fiel ihm nur ein: "Pfui Teufel". Adorno kämpfte mit harten Bandagen um seine Stellung im Institut. Auch sonst war er mit Verurteilungen nicht zimperlich; so erklärte er, er halte Ernst Cassirer "für völlig vertrottelt". Während Horkheimer ständig zu vermitteln sucht, ergeht Adorno sich in schroff-abfälligen Urteilen über andere Emigranten: Er polemisiert bei Horkheimer gegen Ernst Bloch und Paul Tillich, besonders gegen Landsberg und Reich. Er kann den Namen Carnaps nicht richtig schreiben, aber er nennt ihn einen "Trottel"; man muß fürchten, er habe ihn nicht gelesen.
Aber keineswegs erschöpft sich die Sache in persönlichen Rangeleien und Diffamierungen, die übrigens nie von dem immer abwägenden und vermittelnden Horkheimer ausgehen. Selbst in bedrängten Situationen spricht Horkheimer aus einem originären philosophischen Interesse. Gerade im Briefwechsel mit Adorno geht es ihm um das, was er "unseren Standpunkt" nennt; er diskutiert mit ihm die Präzisierung der gemeinsamen Position; er regt an zu ihrer Weiterentwicklung; er drängt auf ihre umfassende Anwendung.
Die Freunde sind sich einig in einem starken antiidealistischen Pathos.
Einzig der Materialismus, dessen dialektischer Charakter gegen alle Ontologien und Ewigkeitsphilosophien zu stärken sei, erlaube es, in der Gegenwart die Aufgabe der Philosophie zu erfüllen; der dogmatische Marxismus der Stalinisten sei dazu unfähig. Adorno diskutiert mit Horkheimer über dessen "Atheismus": Er, Adorno, könne daran immer weniger glauben, je vollkommener Horkheimer ihn expliziere, "denn mit jeder Explikation steigt seine metaphysische Gewalt". Adorno gibt die programmatische Erklärung ab, das Zentralmotiv seiner Arbeit sei "eine historische Verzeichnung des Leidens und des Nicht-gewordenen"; sein Ziel sei "die Rettung des Hoffnungslosen" (25. 2. 1935). Horkheimer diskutiert die Bedeutung Nietzsches; er will ihn nicht den Nazis überlassen: "Ich habe ihn seit einigen Jahren wiederholt studiert und dabei gemerkt, wie lächerlich wenig man bisher von ihm weiß" (24. 2. 1936).
Der Band ist ein Zeitdokument hohen Ranges. Er belegt Gespräche über die Nietzsche-, aber auch über die Freud-Rezeption bei undogmatischen Marxisten der dreißiger Jahre. Er dokumentiert den Austausch unter exilierten Intellektuellen wie Albert Einstein, Walter Benjamin, Herbert und Ludwig Marcuse, Ernst Bloch, Hans Mayer und vielen anderen.
Die editorische Arbeit läßt sich aufgrund des ersten Bandes nicht abschließend beurteilen. Einen editorischen Nachbericht soll erst der 18. Band der "Gesammelten Schriften" bringen. Wir erfahren also vorerst nichts über editorische Prinzipien. Das ist ungewöhnlich und macht mißtrauisch. Der Leser hätte gar zu gerne gewußt, welche Briefe ihm vorenthalten werden. Es fällt kein Wort über die Kriterien der Auswahl. Es kommt sogar vor, daß ein Brief Horkheimers vom Juni 1936, also aus unserem Zeitraum, auszugsweise in den Anmerkungen zitiert wird - dieser Brief ist also offenbar interessant -, ohne daß er in die Auswahl aufgenommen wurde. Warum nicht? Raumgründe können es nicht gewesen sein, denn der Band enthält überflüssigerweise Übersetzungen der englisch und französisch geschriebenen Briefe Horkheimers. Wenn Horkheimer englische und französische Briefe schreiben konnte, dann werden seine Adepten sie doch wenigstens noch lesen können. Und wenn nicht? Nun, dann hat eine vierbändige Briefausgabe nicht zugleich die Aufgabe einer Vulgarisation. Dies alles deutet auf Unklarheit in den Prinzipien der Herausgeber, vielleicht gar auf gravierende Defizite. Der Verdacht auf hausinterne Rücksichten liegt bei derart heiklen Dokumenten nahe. Man kann nur hoffen, daß der Nachbericht bald erscheint und Klarheit bringt.
Die Briefe sind mit Anmerkungen versehen, die durchweg nützlich sind, soweit es um interne Verweise innerhalb der Frankfurter Gruppe geht. Sobald mehr gefordert wäre, werden sie blaß und nichtssagend. Der Herausgeberhorizont bleibt auf die Frankfurter Schulperspektive beschränkt und verfehlt dadurch sogar wichtige Frankfurter Zusammenhänge. Sobald es um die allgemeine Wissenschaftsgeschichte der dreißiger Jahre geht, versagt die Kommentierung. Selbst so bedeutende Gelehrte wie Hans Baron (der auf Seite 500 nicht einmal identifiziert werden konnte) oder Raymond Klibansky bleiben Schemen.
Dies ist am befremdlichsten im Fall von Kurt Riezler. Dieser bedeutende Philologe und Philosoph war als Intimus des deutschen Reichskanzlers von 1914 eine wichtige Figur der neueren deutschen Geschichte. Jeder Historiker kennt die sogenannten "Riezler-Papiere", die über die Intentionen der Reichsregierung im August 1914 Auskunft geben. Die Herausgeber wissen nichts von ihnen. In den zwanziger Jahren hatte Riezler auf die Geschicke der Frankfurter Universität maßgebenden Einfluß; die Anmerkung erklärt das nicht und stellt schon gar nicht den abschätzigen Tonfall richtig, in dem Adorno auch über Riezler herzieht. Riezler hat übrigens am Anfang der fünfziger Jahre in Frankfurt Vorlesungen gehalten, bis ins Institut für Sozialforschung scheint die Kunde davon nicht vorgedrungen zu sein; der Leser erfährt davon nichts; er wird wie bei Husserl und vielen anderen mit ein paar Lexikondaten abgespeist, bei denen die akademische Karriere wichtiger ist als die theoretischen Werke.
Der neue Horkheimer-Band ist gleichwohl kostbar. Er wird eröffnet durch eine Reihe wunderbarer Liebesbriefe Horkheimers an seine spätere Frau, an Rosa Riekher. Sie zeigen einen intim-warmherzigen Horkheimer, einen Horkheimer ohne alle Diplomatie. Eindrucksvoll, wie der junge Horkheimer das Kriegsgeschrei vom Sommer 1914 durchschaut und kritisiert. Die frühen Briefe illustrieren die intellektuelle Welt, die der Horkheimer-Leser aus dem ersten Band der "Gesammelten Schriften" kennt. Sie zeigen die frühe Präsenz Schopenhauers, dessen Rückkehr bei dem Horkheimer der fünfziger Jahre manche seiner Schüler überrascht hat. Dies waren Motive, die über jede Orthodoxie, gerade auch über die marxistische, hinausdrängten. Es war wohl 1954, daß Horkheimer einmal seine Vorlesung mit der Frage beschloß: "Und denken wir selbst den Fall, alle gesellschaftlichen Antagonismen seien überwunden - wäre unser Denken dann damit befriedigt, daß jetzt die Menschheit nichts anderes mehr wäre als eine konfliktlose Aktionsgesellschaft zur gemeinsamen Ausbeutung der Natur?" Diese sensibel-offene Art des Fragens war kein vereinzelter Einfall der fünfziger Jahre. Dies war, wie die frühen Briefe zeigen, die warme Stimme seiner Herkunft.
Max Horkheimer: "Gesammelte Schriften". Band 15: "Briefwechsel 1913-1936". Herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr.
S. FischerVerlag, Frankfurt am Main 1995. 815 S., geb., 98,- DM (auch als Taschenbuch für 29,90 DM).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Max Horkheimers Briefwechsel bis 1936 / Von Kurt Flasch
Die sogenannte Frankfurter Schule hat zahlreiche Kontroversen ausgelöst. Wie es bei Polemiken zu gehen pflegt, wurde sie von außen häufig verzerrt wahrgenommen und von innen zu einheitlich stilisiert. Seit gut zwanzig Jahren historisiert sie sich selbst. Befreit vom Druck defensiver Selbstdarstellung, gibt sie den Blick frei auf eine Vielzahl intellektueller Physiognomien; sie macht zunehmend deutlich, daß sie im Kontext der Denkformen und Redestile der zwanziger und dreißiger Jahre zu lesen ist. Die internen Unterschiede vergrößern sich dadurch. Das Fortschreiten der Werkausgaben von Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, von Erich Fromm und Max Horkheimer, von Leo Löwenthal und Herbert Marcuse öffnet den Blick in eine bewegte Gruppe von Intellektuellen.
Die Horkheimer-Ausgabe ist soeben bei der Edition seiner Briefe angekommen; der erste von vier vorgesehenen Briefbänden liegt vor. Sein Schwerpunkt liegt bei den Jahren 1934 bis 1936: Er zeigt Horkheimer als die zentrale Figur der Emigrantengruppe. Zusammen mit Friedrich Pollock etabliert er das Frankfurter Institut für Sozialforschung neu, in Genf und in Paris, zuletzt in New York. Er führt unter erschwerten Bedingungen die "Zeitschrift für Sozialforschung" weiter; er ermutigt, dirigiert und finanziert die in aller Welt zerstreuten Mitarbeiter. Straff, aber immer diplomatisch geschickt hält er die inhomogene Gruppe zusammen.
Der neue Band enthält Bettelbriefe heute weltberühmter Autoren, darunter von Walter Benjamin. Er publiziert wichtige Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Schule - die bürokratisch-schroffe Beurlaubung Horkheimers vom 13. April 1933, seine folgenlose Einrede dagegen, in der er dem Minister seine Auffassung vom Amt des Philosophieprofessors erklärt, dann die Beschlagnahmung des Instituts und die Entlassung vom 22. September 1933. Von den späteren Schreiben verdient der Brief an Raymond Aron vom 20. November 1936 besonderes Interesse, in dem Horkheimer die Arbeiten des New Yorker Instituts beschreibt.
Diagnosen der politischen Situation wechseln ab mit der Diskussion philosophischer und soziologischer Probleme; dazwischen stehen schlichte Beschreibungen der Erfahrungen eines Emigranten. Adorno lebte damals noch in Oxford. Dadurch ergab sich ein intensiver Briefwechsel, denn Adorno wollte nach New York, um dort mit Horkheimer und Pollock gleichrangig das Institut zu leiten. Unverkennbar beurteilte Adorno die politische Situation in Deutschland von 1933 bis 1936 weniger pessimistisch als der realistischere Horkheimer. Schon im April 1933 bat Horkheimer Benjamin, er solle versuchen, die Zuversicht Adornos zu korrigieren, in Deutschland weiter arbeiten zu können, "ohne mich zu nennen und in höchst vorsichtiger Form".
Leicht fühlte Adorno sich gekränkt und zurückgesetzt; er glaubte, er müsse Horkheimer von seinen Qualitäten auch dadurch überzeugen, daß er andere Institutsmitarbeiter herabsetzte. So schrieb er im Mai 1935 an Horkheimer, Herbert Marcuse sei ein nur "durch sein Judentum verhinderter Faszist". Zu Franz Borkenau fiel ihm nur ein: "Pfui Teufel". Adorno kämpfte mit harten Bandagen um seine Stellung im Institut. Auch sonst war er mit Verurteilungen nicht zimperlich; so erklärte er, er halte Ernst Cassirer "für völlig vertrottelt". Während Horkheimer ständig zu vermitteln sucht, ergeht Adorno sich in schroff-abfälligen Urteilen über andere Emigranten: Er polemisiert bei Horkheimer gegen Ernst Bloch und Paul Tillich, besonders gegen Landsberg und Reich. Er kann den Namen Carnaps nicht richtig schreiben, aber er nennt ihn einen "Trottel"; man muß fürchten, er habe ihn nicht gelesen.
Aber keineswegs erschöpft sich die Sache in persönlichen Rangeleien und Diffamierungen, die übrigens nie von dem immer abwägenden und vermittelnden Horkheimer ausgehen. Selbst in bedrängten Situationen spricht Horkheimer aus einem originären philosophischen Interesse. Gerade im Briefwechsel mit Adorno geht es ihm um das, was er "unseren Standpunkt" nennt; er diskutiert mit ihm die Präzisierung der gemeinsamen Position; er regt an zu ihrer Weiterentwicklung; er drängt auf ihre umfassende Anwendung.
Die Freunde sind sich einig in einem starken antiidealistischen Pathos.
Einzig der Materialismus, dessen dialektischer Charakter gegen alle Ontologien und Ewigkeitsphilosophien zu stärken sei, erlaube es, in der Gegenwart die Aufgabe der Philosophie zu erfüllen; der dogmatische Marxismus der Stalinisten sei dazu unfähig. Adorno diskutiert mit Horkheimer über dessen "Atheismus": Er, Adorno, könne daran immer weniger glauben, je vollkommener Horkheimer ihn expliziere, "denn mit jeder Explikation steigt seine metaphysische Gewalt". Adorno gibt die programmatische Erklärung ab, das Zentralmotiv seiner Arbeit sei "eine historische Verzeichnung des Leidens und des Nicht-gewordenen"; sein Ziel sei "die Rettung des Hoffnungslosen" (25. 2. 1935). Horkheimer diskutiert die Bedeutung Nietzsches; er will ihn nicht den Nazis überlassen: "Ich habe ihn seit einigen Jahren wiederholt studiert und dabei gemerkt, wie lächerlich wenig man bisher von ihm weiß" (24. 2. 1936).
Der Band ist ein Zeitdokument hohen Ranges. Er belegt Gespräche über die Nietzsche-, aber auch über die Freud-Rezeption bei undogmatischen Marxisten der dreißiger Jahre. Er dokumentiert den Austausch unter exilierten Intellektuellen wie Albert Einstein, Walter Benjamin, Herbert und Ludwig Marcuse, Ernst Bloch, Hans Mayer und vielen anderen.
Die editorische Arbeit läßt sich aufgrund des ersten Bandes nicht abschließend beurteilen. Einen editorischen Nachbericht soll erst der 18. Band der "Gesammelten Schriften" bringen. Wir erfahren also vorerst nichts über editorische Prinzipien. Das ist ungewöhnlich und macht mißtrauisch. Der Leser hätte gar zu gerne gewußt, welche Briefe ihm vorenthalten werden. Es fällt kein Wort über die Kriterien der Auswahl. Es kommt sogar vor, daß ein Brief Horkheimers vom Juni 1936, also aus unserem Zeitraum, auszugsweise in den Anmerkungen zitiert wird - dieser Brief ist also offenbar interessant -, ohne daß er in die Auswahl aufgenommen wurde. Warum nicht? Raumgründe können es nicht gewesen sein, denn der Band enthält überflüssigerweise Übersetzungen der englisch und französisch geschriebenen Briefe Horkheimers. Wenn Horkheimer englische und französische Briefe schreiben konnte, dann werden seine Adepten sie doch wenigstens noch lesen können. Und wenn nicht? Nun, dann hat eine vierbändige Briefausgabe nicht zugleich die Aufgabe einer Vulgarisation. Dies alles deutet auf Unklarheit in den Prinzipien der Herausgeber, vielleicht gar auf gravierende Defizite. Der Verdacht auf hausinterne Rücksichten liegt bei derart heiklen Dokumenten nahe. Man kann nur hoffen, daß der Nachbericht bald erscheint und Klarheit bringt.
Die Briefe sind mit Anmerkungen versehen, die durchweg nützlich sind, soweit es um interne Verweise innerhalb der Frankfurter Gruppe geht. Sobald mehr gefordert wäre, werden sie blaß und nichtssagend. Der Herausgeberhorizont bleibt auf die Frankfurter Schulperspektive beschränkt und verfehlt dadurch sogar wichtige Frankfurter Zusammenhänge. Sobald es um die allgemeine Wissenschaftsgeschichte der dreißiger Jahre geht, versagt die Kommentierung. Selbst so bedeutende Gelehrte wie Hans Baron (der auf Seite 500 nicht einmal identifiziert werden konnte) oder Raymond Klibansky bleiben Schemen.
Dies ist am befremdlichsten im Fall von Kurt Riezler. Dieser bedeutende Philologe und Philosoph war als Intimus des deutschen Reichskanzlers von 1914 eine wichtige Figur der neueren deutschen Geschichte. Jeder Historiker kennt die sogenannten "Riezler-Papiere", die über die Intentionen der Reichsregierung im August 1914 Auskunft geben. Die Herausgeber wissen nichts von ihnen. In den zwanziger Jahren hatte Riezler auf die Geschicke der Frankfurter Universität maßgebenden Einfluß; die Anmerkung erklärt das nicht und stellt schon gar nicht den abschätzigen Tonfall richtig, in dem Adorno auch über Riezler herzieht. Riezler hat übrigens am Anfang der fünfziger Jahre in Frankfurt Vorlesungen gehalten, bis ins Institut für Sozialforschung scheint die Kunde davon nicht vorgedrungen zu sein; der Leser erfährt davon nichts; er wird wie bei Husserl und vielen anderen mit ein paar Lexikondaten abgespeist, bei denen die akademische Karriere wichtiger ist als die theoretischen Werke.
Der neue Horkheimer-Band ist gleichwohl kostbar. Er wird eröffnet durch eine Reihe wunderbarer Liebesbriefe Horkheimers an seine spätere Frau, an Rosa Riekher. Sie zeigen einen intim-warmherzigen Horkheimer, einen Horkheimer ohne alle Diplomatie. Eindrucksvoll, wie der junge Horkheimer das Kriegsgeschrei vom Sommer 1914 durchschaut und kritisiert. Die frühen Briefe illustrieren die intellektuelle Welt, die der Horkheimer-Leser aus dem ersten Band der "Gesammelten Schriften" kennt. Sie zeigen die frühe Präsenz Schopenhauers, dessen Rückkehr bei dem Horkheimer der fünfziger Jahre manche seiner Schüler überrascht hat. Dies waren Motive, die über jede Orthodoxie, gerade auch über die marxistische, hinausdrängten. Es war wohl 1954, daß Horkheimer einmal seine Vorlesung mit der Frage beschloß: "Und denken wir selbst den Fall, alle gesellschaftlichen Antagonismen seien überwunden - wäre unser Denken dann damit befriedigt, daß jetzt die Menschheit nichts anderes mehr wäre als eine konfliktlose Aktionsgesellschaft zur gemeinsamen Ausbeutung der Natur?" Diese sensibel-offene Art des Fragens war kein vereinzelter Einfall der fünfziger Jahre. Dies war, wie die frühen Briefe zeigen, die warme Stimme seiner Herkunft.
Max Horkheimer: "Gesammelte Schriften". Band 15: "Briefwechsel 1913-1936". Herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr.
S. FischerVerlag, Frankfurt am Main 1995. 815 S., geb., 98,- DM (auch als Taschenbuch für 29,90 DM).
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