NachträgeSiebter Band. Erster Teil:Frühe Schriften / Sonette / Rundfunkgeschichten für Kinder / Literarische Rundfunkvorträge / Geschichten und Rätsel / »Das kalte Herz« / Nachtrag zu den Brecht-Kommentaren / »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« - Zweite Fassung / »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« - Fassung letzter HandAnhang: Verzeichnis der gelesenen Schritten / Bibliographie der zu Lebzeiten gedruckten ArbeitenSiebter Band. Zweiter Teil:Anmerkungen der Herausgeber / Nachträge zu den Anmerkungen der Rande I bis VI / Zum Abschluß der Ausgabe / Inhaltsverzeichnis Band VII / Gesamtinhaltsverzeichnis der Bände I bis VII
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.1999Emil und die Melancholiker
Eine Detektivgeschichte: Walter Benjamin, Erich Kästner und eine unbekannte Tagebuch-Notiz aus dem Jahr 1941
Walter Benjamin wollte sich 1925 mit einer Abhandlung über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" an der Universität Frankfurt habilitieren. Doch wurde das Gesuch, das zunächst im Fach Literaturgeschichte und dann im Fach Ästhetik vorgesehen war, von der Philosophischen Fakultät abgelehnt. Der Vorgang wurde zu einem Topos der Benjamin-Literatur, nachdem er in den sechziger Jahren bekannt geworden war. Benjamins Freund und Briefpartner Gershom Scholem hat darüber erstmals in einem Aufsatz der "Neuen Rundschau" von 1965 berichtet. Scholem sprach von der "Schmach der Universität", die eine der "bedeutendsten und bahnbrechendsten Habilitationsschriften" abgelehnt habe, "die je einer philosophischen Fakultät vorgelegt" worden sei.
Zwei Jahrzehnte vergingen, bis Einzelheiten bekannt wurden. Anfang der achtziger Jahre hatte Burkhardt Lindner die Akten im Frankfurter Universitätsarchiv eingesehen und berichtete darüber 1985 in dem Band "Walter Benjamin im Kontext". Die hier gedruckten Dokumente zeigten, daß Benjamins Habilitation gescheitert war, weil der Philosoph Hans Cornelius die Arbeit und ein nachträglich vom Verfasser angefordertes Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet hatte, so daß dem Antragsteller vom Dekan der Philosophischen Fakultät, dem Germanisten Franz Schultz, empfohlen wurde, das Gesuch zurückzuziehen. Daß Max Horkheimer als Assistent des Gutachters an der Ablehnung beteiligt gewesen ist, war die Sensation von Lindners Mitteilungen. Auch Horkheimer hatte nach Darstellung von Cornelius das Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet.
Was seit Mitte der sechziger Jahre in Briefen und Dokumenten zutage kam, hatte man seit 1931 allerdings in einem Roman nachlesen können, der zu einem der bekanntesten Werke der Weimarer Republik wurde: Erich Kästners "Fabian". Benjamins Geschichte wird hier so detailliert verarbeitet, daß die Ausführungen den Informationsstand der Gegenwart erreichen. Die drohende Ablehnung einer germanistischen Habilitationsschrift steht im Mittelpunkt der Handlung und wird ausführlich dargestellt. Der Habilitand heißt im Roman Stephan Labude und ist als Freund des Titelhelden Jakob Fabian die zweite Hauptfigur des Buches. Bevor Labude als Person Kontur bekommt, wird die drohende Ablehnung seiner Habilitationsschrift zum Thema eines Gesprächs. "Ich fürchte", so Labude auf die Frage Fabians, ob die Gutachter die Arbeit inzwischen gelesen hätten, "sie werden sich zu sehr wundern."
Schon Werner Fuld hat 1979 in seiner Benjamin-Biographie "Zwischen den Stühlen" auf Ähnlichkeiten zwischen Benjamin und Labude hingewiesen. Sie müßten "jedem Leser sofort klar sein". Doch damit stieß er auf den Widerspruch von Helmuth Kiesel, der in seinem 1981 erschienenen Buch über Erich Kästner von "leichtfertigen Mutmaßungen" sprach, die "durch keinerlei externe Belege abgesichert" seien und "jeglicher Stringenz" entbehrten. Kiesel berief sich auf Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, die in ihrer 1966 erschienenen Rowohlt-Monographie Kästners Freund Ralph Zucker als Vorbild der Labude-Figur bezeichnet hatte. Begründet wurde die Zuweisung nicht.
Die Frage, ob Kästner das akademische Scheitern Benjamins verarbeitet hat, ist seither offen geblieben. Zwar stimmt Sven Hanuschek in seiner hervorragenden Kästner-Biographie (Carl Hanser, 1999) der Auffassung Fulds in einer Fußnote zu. Doch hat sich Beate Pinkerneil, die Bearbeiterin des "Fabian" in der 1998 erschienenen neunbändigen Hanser-Ausgabe der Werke Kästners, ebenfalls auf Luiselotte Enderle berufen. Ihr Stellenkommentar wird jenen Teilen des Romans nicht gerecht, in denen Kästner die Lebensweise, die Auffassungen und den Habilitationsversuch Labudes beschreibt. Werner Fuld hatte dazu in seiner Biographie Vorarbeiten geleistet und mehrere Anspielungen entschlüsselt. Sie können durch die Fortschritte der Benjamin-Forschung inzwischen erweitert und konkretisiert werden.
Wie Labude, so hatte auch Benjamin wohlhabende Eltern, die eine "Villa" im "Grunewald" besaßen und dort "Gesellschaften" gaben (Benjamin berichtet darüber 1932 in der "Berliner Kindheit"). Wie Labude hatte auch Benjamin eine "zweite Wohnung im Zentrum" von Berlin, wo er seinen "wissenschaftlichen und sozialen Neigungen" nachging. Wie Labude hatte Benjamin viele Auseinandersetzungen mit seinem Vater (Benjamin berichtet darüber in Briefen an Scholem). Wie Labude hatte Benjamin eine unglückliche Liebesbeziehung zu einer Frau in einer anderen Stadt (die Leda im Roman verweist schon im Namen auf Benjamins Moskauer Freundin Asja). Und wie Labude liebte Benjamin Spaziergänge "durch Berlin" und natürlich "Paris" (Kästner könnte hier anspielen auf das 1929 erschienene Buch von Benjamins Freund Franz Hessel "Spazieren in Berlin", deren gemeinsamen Pariser Aufenthalt und Benjamins großes Buchprojekt).
Auch in den philosophischen und politischen Positionen, die Labude vertritt, kann man die bildungsbürgerliche und theologische Deutung des Marxismus erkennen, um die sich Benjamin seit den zwanziger Jahren bemühte. "Du willst", so wirft Fabian dem Freund vor, "das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst zu helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht." Sogar die Habilitationsschriften Labudes und Benjamins berühren sich in der Thematik des Trauerspiels (bei Labude ist es Lessing, bei Benjamin das 17. Jahrhundert) und in der antihistoristischen Ausrichtung der Darstellung, die sich in Benjamins Briefen wie in Kästners Roman als antiakademischer Habitus präsentiert. "Die geweihte Logik eines Schriftstellers psychologisch auswerten", so Labude über seine Arbeit, "den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir es ab."
Die Ahnung der Verärgerung der Gutachter wird in Kästners Roman zum Gerücht über die Ablehnung der Arbeit, die zum Selbstmord des Kandidaten führt. Wie bei Benjamin ein Assistent des Gutachters an der Urteilsbildung beteiligt war, so ist es im Roman ein Assistent an der Bildung und Verbreitung des Gerüchts. "Lieber Jakob", so heißt es in Labudes Abschiedsbrief an Fabian, "als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden . . . Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen."
Da die fiktive Lebensgeschichte Labudes in vielen Zügen mit der Lebensgeschichte Benjamins übereinstimmt, sind die Abweichungen des Romans nur als bewußte Abweichungen des Autors zu deuten. Kästner, der seit 1927 in Berlin lebte, muß demnach gut über Benjamins Biographie und sein akademisches Schicksal informiert gewesen sein. Da Benjamin zu Lebzeiten nur wenigen Freunden und Lesern bekannt war, konnten die Anspielungen von den meisten Lesern nicht verstanden werden, bis die postume Rezeption Benjamins aus Kästners Roman einen Schlüsselroman machte.
Daß der Roman von Benjamin selbst als Angriff oder Verleumdung aufgefaßt wurde, könnte man aus jener Rezension schließen, die er im Oktober 1930 über Kästners Gedichtband "Ein Mann gibt Auskunft" schrieb. Denn der vernichtende Gestus des Textes, der nicht nur auf die Lyrik, sondern auch auf die literarische Existenz des Autors zielte, deutet eher auf persönliche Betroffenheit als auf literarischen Unmut. "Kästners Gedichte", so schreibt Benjamin unter anderem, "sind Sachen für Großverdiener, jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht."
Obwohl Benjamin in mehreren Briefen an das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" um eine baldige Publikation der Besprechung bat, lehnte die Redaktion den Druck ab. Der Text erschien deshalb im Frühjahr 1931 in der sozialdemokratischen Theorie-Zeitschrift "Die Gesellschaft". Zitiert wird er erst seit der Wiederentdeckung Benjamins. Dabei ist der Titel "Linke Melancholie" bekannter geworden als der Text selbst. Benjamin nimmt hier ein Stichwort auf, das Kästner bereits in seinem Roman verwendet, um die Haltung Fabians zu charakterisieren: "Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren."
Ob Benjamin den Roman ganz oder in Teilen vor der Publikation kannte, ist nicht nachweisbar, da die Belege fehlen. Das Archiv der Deutschen Verlags-Anstalt ist 1944 verbrannt, und Benjamins Briefe bis 1933 sind mit seinem Berliner Nachlaß seit der Emigration verschollen. Als Racheakt an Benjamins Rezension, wie bisweilen geschehen, kann Kästners Roman aber nicht gedeutet werden, weil sich die Niederschrift zeitlich mit der Abfassung der Besprechung überschneidet. Als Benjamin den Text seiner Rezension im Oktober 1930 an die "Frankfurter Zeitung" schickte, arbeitete Kästner noch an seinem Manuskript, das er erst im Juli 1931 an den Verlag gab.
Benjamin wird also von Kästners Romanvorhaben gehört haben, wie Kästner sich zuvor über Benjamin informiert haben kann, da sich die Berliner Freundschaften und die Aufenthaltsorte der Betroffenen in vielfältiger Weise überschnitten. Dennoch gibt es ein bisher unveröffentlichtes Dokument, das den komplexen Zusammenhang zwischen Romangeschehen und Benjamins Biographie erhellen kann. Es handelt sich um ein Tagebuch, das Kästner vom 16. Januar bis Ende September 1941 in Gabelsberger Kurzschrift führte. Teile daraus werden im Anhang zum sechsten Band der Werke Kästners zitiert oder referiert. Kästner hatte seit Kriegsbeginn Publikationsverbot, lebte aber in Berlin, nachdem seine Bücher, darunter auch der "Fabian", 1933 von den Nazis verbrannt und verboten worden waren.
Am 19. Januar 1941 notiert Kästner in seinem Tagebuch, daß Benjamin sich "umgebracht" habe, was in Deutschland niemand wissen konnte. Zwar ist die Ortsangabe "Südfrankreich" nicht genau und die Angabe der Todesursache falsch, da sich Benjamin nicht die "Pulsadern aufgeschnitten" hatte, wie Kästner schreibt, sondern vermutlich an den Folgen einer Überdosis Morphium starb, die er auf der Flucht aus Frankreich im spanischen Grenzort Port Bou am 26. September 1940 genommen hatte. Doch deutet allein die Tatsache der Notiz darauf hin, daß Kästner Benjamin besser kannte, als bisher anzunehmen war.
Ebenso aufschlußreich für das Romangeschehen im "Fabian" ist der Hinweis auf die Quelle der Information in Kästners Tagebuch. Es handelt sich um Maria Speyer, die Frau des Schriftstellers Wilhelm Speyer, der mit Benjamin befreundet war. Benjamin hatte zusammen mit Speyer in den zwanziger Jahren mehrere Auto-Reisen nach Italien unternommen und gegen Bezahlung an einigen der sehr erfolgreichen Romane und Stücke Speyers mitgearbeitet, wie im Katalog der Marbacher BenjaminAusstellung von 1990 erstmals dokumentiert wurde und inzwischen in der bei Suhrkamp erscheinenden, gut kommentierten Ausgabe der "Gesammelten Briefe" Benjamins nachzulesen ist.
Da Speyer ebenso wie Kästner seit Ende der zwanziger Jahre auch als Jugendbuch-Autor erfolgreich war, dürften sich beide gut gekannt haben. 1927 erschien Speyers "Kampf der Tertia" und 1928 Kästners "Emil und die Detektive"", die beide verfilmt wurden. Kästner und Speyer hatten zum Teil dieselben Verlage und dieselben Illustratoren. Benjamin hat die Beziehung zu Speyer erst Ende 1933 abgebrochen, nachdem dieser die vereinbarten Honorare für die Mitarbeit an einem Kriminalstück nicht mehr bezahlen wollte, während 1932 noch gute Kontakte bestanden, so daß er sich von Speyer in bezug auf Kästners Roman offenbar nicht hintergangen fühlte.
Im Gegensatz zu Wilhelm Speyer, der 1940 nach der Fürsprache von Thomas Mann aus einem Internierungslager in Südfrankreich entlassen wurde und in die Vereinigten Staaten emigrieren konnte, kehrte seine Frau Maria nach Berlin zurück. Auf welchen Wegen das geschah, ist unbekannt. Hier berichtete sie Kästner wenig später über ihre Emigrationserfahrungen und prangerte dabei die Verhältnisse in den französischen Internierungslagern an. Der Hinweis auf Benjamins Selbstmord steht im Zusammenhang mit diesem Bericht. Kästner bezieht sich auf ein Gespräch mit einer Bekannten, die er offenbar bei einem Fest getroffen hatte und die über die Vorgänge informiert war.
Das Tagebuch Kästners wird auf der Ausstellung zum hundertsten Geburtstag ab 23. Februar 1999 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt. Die Tagebuch-Stelle kann hier zum ersten Mal wörtlich mitgeteilt werden (das Copyright liegt bei Thomas Kästner). Sie lautet: "Beate und ich sprachen auch über Maria Speyer, die vor einigen Wochen als Rückwanderer aus dem unbesetzten Frankreich zurückgekehrt ist. Die dortigen Verhältnisse seien so schrecklich gewesen, daß emigrierte deutsche ,Fachleute' erklärt hätten, sie möchten lieber nach Dachau zurück. So behandeln die Franzosen die Nicht-Nationalsozialisten aus Deutschland. Eine interessante Tatsache.
XY (Name ist nicht lesbar) und Walter Benjamin brachten sich dort in Südfrankreich, an der heiteren Riviera, um. Benjamin schnitt sich die Pulsadern auf, obwohl er noch Tage vorher der Speyer gegenüber erklärt hatte: Wenn er sich wirklich einmal umbrächte, dann auf jede andere Weise. Maria Speyer erklärte mir, wie umständlich diese Todesart sei. Denn die Arterien lägen tief unter den Sehnen des Handgelenks. Man müsse also sehr tief schneiden." Im Roman hat sich Labude erschossen. Romangeschehen und Wirklichkeit kommen also mit Abweichungen zusammen. DETLEV SCHÖTTKER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Detektivgeschichte: Walter Benjamin, Erich Kästner und eine unbekannte Tagebuch-Notiz aus dem Jahr 1941
Walter Benjamin wollte sich 1925 mit einer Abhandlung über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" an der Universität Frankfurt habilitieren. Doch wurde das Gesuch, das zunächst im Fach Literaturgeschichte und dann im Fach Ästhetik vorgesehen war, von der Philosophischen Fakultät abgelehnt. Der Vorgang wurde zu einem Topos der Benjamin-Literatur, nachdem er in den sechziger Jahren bekannt geworden war. Benjamins Freund und Briefpartner Gershom Scholem hat darüber erstmals in einem Aufsatz der "Neuen Rundschau" von 1965 berichtet. Scholem sprach von der "Schmach der Universität", die eine der "bedeutendsten und bahnbrechendsten Habilitationsschriften" abgelehnt habe, "die je einer philosophischen Fakultät vorgelegt" worden sei.
Zwei Jahrzehnte vergingen, bis Einzelheiten bekannt wurden. Anfang der achtziger Jahre hatte Burkhardt Lindner die Akten im Frankfurter Universitätsarchiv eingesehen und berichtete darüber 1985 in dem Band "Walter Benjamin im Kontext". Die hier gedruckten Dokumente zeigten, daß Benjamins Habilitation gescheitert war, weil der Philosoph Hans Cornelius die Arbeit und ein nachträglich vom Verfasser angefordertes Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet hatte, so daß dem Antragsteller vom Dekan der Philosophischen Fakultät, dem Germanisten Franz Schultz, empfohlen wurde, das Gesuch zurückzuziehen. Daß Max Horkheimer als Assistent des Gutachters an der Ablehnung beteiligt gewesen ist, war die Sensation von Lindners Mitteilungen. Auch Horkheimer hatte nach Darstellung von Cornelius das Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet.
Was seit Mitte der sechziger Jahre in Briefen und Dokumenten zutage kam, hatte man seit 1931 allerdings in einem Roman nachlesen können, der zu einem der bekanntesten Werke der Weimarer Republik wurde: Erich Kästners "Fabian". Benjamins Geschichte wird hier so detailliert verarbeitet, daß die Ausführungen den Informationsstand der Gegenwart erreichen. Die drohende Ablehnung einer germanistischen Habilitationsschrift steht im Mittelpunkt der Handlung und wird ausführlich dargestellt. Der Habilitand heißt im Roman Stephan Labude und ist als Freund des Titelhelden Jakob Fabian die zweite Hauptfigur des Buches. Bevor Labude als Person Kontur bekommt, wird die drohende Ablehnung seiner Habilitationsschrift zum Thema eines Gesprächs. "Ich fürchte", so Labude auf die Frage Fabians, ob die Gutachter die Arbeit inzwischen gelesen hätten, "sie werden sich zu sehr wundern."
Schon Werner Fuld hat 1979 in seiner Benjamin-Biographie "Zwischen den Stühlen" auf Ähnlichkeiten zwischen Benjamin und Labude hingewiesen. Sie müßten "jedem Leser sofort klar sein". Doch damit stieß er auf den Widerspruch von Helmuth Kiesel, der in seinem 1981 erschienenen Buch über Erich Kästner von "leichtfertigen Mutmaßungen" sprach, die "durch keinerlei externe Belege abgesichert" seien und "jeglicher Stringenz" entbehrten. Kiesel berief sich auf Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, die in ihrer 1966 erschienenen Rowohlt-Monographie Kästners Freund Ralph Zucker als Vorbild der Labude-Figur bezeichnet hatte. Begründet wurde die Zuweisung nicht.
Die Frage, ob Kästner das akademische Scheitern Benjamins verarbeitet hat, ist seither offen geblieben. Zwar stimmt Sven Hanuschek in seiner hervorragenden Kästner-Biographie (Carl Hanser, 1999) der Auffassung Fulds in einer Fußnote zu. Doch hat sich Beate Pinkerneil, die Bearbeiterin des "Fabian" in der 1998 erschienenen neunbändigen Hanser-Ausgabe der Werke Kästners, ebenfalls auf Luiselotte Enderle berufen. Ihr Stellenkommentar wird jenen Teilen des Romans nicht gerecht, in denen Kästner die Lebensweise, die Auffassungen und den Habilitationsversuch Labudes beschreibt. Werner Fuld hatte dazu in seiner Biographie Vorarbeiten geleistet und mehrere Anspielungen entschlüsselt. Sie können durch die Fortschritte der Benjamin-Forschung inzwischen erweitert und konkretisiert werden.
Wie Labude, so hatte auch Benjamin wohlhabende Eltern, die eine "Villa" im "Grunewald" besaßen und dort "Gesellschaften" gaben (Benjamin berichtet darüber 1932 in der "Berliner Kindheit"). Wie Labude hatte auch Benjamin eine "zweite Wohnung im Zentrum" von Berlin, wo er seinen "wissenschaftlichen und sozialen Neigungen" nachging. Wie Labude hatte Benjamin viele Auseinandersetzungen mit seinem Vater (Benjamin berichtet darüber in Briefen an Scholem). Wie Labude hatte Benjamin eine unglückliche Liebesbeziehung zu einer Frau in einer anderen Stadt (die Leda im Roman verweist schon im Namen auf Benjamins Moskauer Freundin Asja). Und wie Labude liebte Benjamin Spaziergänge "durch Berlin" und natürlich "Paris" (Kästner könnte hier anspielen auf das 1929 erschienene Buch von Benjamins Freund Franz Hessel "Spazieren in Berlin", deren gemeinsamen Pariser Aufenthalt und Benjamins großes Buchprojekt).
Auch in den philosophischen und politischen Positionen, die Labude vertritt, kann man die bildungsbürgerliche und theologische Deutung des Marxismus erkennen, um die sich Benjamin seit den zwanziger Jahren bemühte. "Du willst", so wirft Fabian dem Freund vor, "das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst zu helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht." Sogar die Habilitationsschriften Labudes und Benjamins berühren sich in der Thematik des Trauerspiels (bei Labude ist es Lessing, bei Benjamin das 17. Jahrhundert) und in der antihistoristischen Ausrichtung der Darstellung, die sich in Benjamins Briefen wie in Kästners Roman als antiakademischer Habitus präsentiert. "Die geweihte Logik eines Schriftstellers psychologisch auswerten", so Labude über seine Arbeit, "den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir es ab."
Die Ahnung der Verärgerung der Gutachter wird in Kästners Roman zum Gerücht über die Ablehnung der Arbeit, die zum Selbstmord des Kandidaten führt. Wie bei Benjamin ein Assistent des Gutachters an der Urteilsbildung beteiligt war, so ist es im Roman ein Assistent an der Bildung und Verbreitung des Gerüchts. "Lieber Jakob", so heißt es in Labudes Abschiedsbrief an Fabian, "als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden . . . Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen."
Da die fiktive Lebensgeschichte Labudes in vielen Zügen mit der Lebensgeschichte Benjamins übereinstimmt, sind die Abweichungen des Romans nur als bewußte Abweichungen des Autors zu deuten. Kästner, der seit 1927 in Berlin lebte, muß demnach gut über Benjamins Biographie und sein akademisches Schicksal informiert gewesen sein. Da Benjamin zu Lebzeiten nur wenigen Freunden und Lesern bekannt war, konnten die Anspielungen von den meisten Lesern nicht verstanden werden, bis die postume Rezeption Benjamins aus Kästners Roman einen Schlüsselroman machte.
Daß der Roman von Benjamin selbst als Angriff oder Verleumdung aufgefaßt wurde, könnte man aus jener Rezension schließen, die er im Oktober 1930 über Kästners Gedichtband "Ein Mann gibt Auskunft" schrieb. Denn der vernichtende Gestus des Textes, der nicht nur auf die Lyrik, sondern auch auf die literarische Existenz des Autors zielte, deutet eher auf persönliche Betroffenheit als auf literarischen Unmut. "Kästners Gedichte", so schreibt Benjamin unter anderem, "sind Sachen für Großverdiener, jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht."
Obwohl Benjamin in mehreren Briefen an das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" um eine baldige Publikation der Besprechung bat, lehnte die Redaktion den Druck ab. Der Text erschien deshalb im Frühjahr 1931 in der sozialdemokratischen Theorie-Zeitschrift "Die Gesellschaft". Zitiert wird er erst seit der Wiederentdeckung Benjamins. Dabei ist der Titel "Linke Melancholie" bekannter geworden als der Text selbst. Benjamin nimmt hier ein Stichwort auf, das Kästner bereits in seinem Roman verwendet, um die Haltung Fabians zu charakterisieren: "Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren."
Ob Benjamin den Roman ganz oder in Teilen vor der Publikation kannte, ist nicht nachweisbar, da die Belege fehlen. Das Archiv der Deutschen Verlags-Anstalt ist 1944 verbrannt, und Benjamins Briefe bis 1933 sind mit seinem Berliner Nachlaß seit der Emigration verschollen. Als Racheakt an Benjamins Rezension, wie bisweilen geschehen, kann Kästners Roman aber nicht gedeutet werden, weil sich die Niederschrift zeitlich mit der Abfassung der Besprechung überschneidet. Als Benjamin den Text seiner Rezension im Oktober 1930 an die "Frankfurter Zeitung" schickte, arbeitete Kästner noch an seinem Manuskript, das er erst im Juli 1931 an den Verlag gab.
Benjamin wird also von Kästners Romanvorhaben gehört haben, wie Kästner sich zuvor über Benjamin informiert haben kann, da sich die Berliner Freundschaften und die Aufenthaltsorte der Betroffenen in vielfältiger Weise überschnitten. Dennoch gibt es ein bisher unveröffentlichtes Dokument, das den komplexen Zusammenhang zwischen Romangeschehen und Benjamins Biographie erhellen kann. Es handelt sich um ein Tagebuch, das Kästner vom 16. Januar bis Ende September 1941 in Gabelsberger Kurzschrift führte. Teile daraus werden im Anhang zum sechsten Band der Werke Kästners zitiert oder referiert. Kästner hatte seit Kriegsbeginn Publikationsverbot, lebte aber in Berlin, nachdem seine Bücher, darunter auch der "Fabian", 1933 von den Nazis verbrannt und verboten worden waren.
Am 19. Januar 1941 notiert Kästner in seinem Tagebuch, daß Benjamin sich "umgebracht" habe, was in Deutschland niemand wissen konnte. Zwar ist die Ortsangabe "Südfrankreich" nicht genau und die Angabe der Todesursache falsch, da sich Benjamin nicht die "Pulsadern aufgeschnitten" hatte, wie Kästner schreibt, sondern vermutlich an den Folgen einer Überdosis Morphium starb, die er auf der Flucht aus Frankreich im spanischen Grenzort Port Bou am 26. September 1940 genommen hatte. Doch deutet allein die Tatsache der Notiz darauf hin, daß Kästner Benjamin besser kannte, als bisher anzunehmen war.
Ebenso aufschlußreich für das Romangeschehen im "Fabian" ist der Hinweis auf die Quelle der Information in Kästners Tagebuch. Es handelt sich um Maria Speyer, die Frau des Schriftstellers Wilhelm Speyer, der mit Benjamin befreundet war. Benjamin hatte zusammen mit Speyer in den zwanziger Jahren mehrere Auto-Reisen nach Italien unternommen und gegen Bezahlung an einigen der sehr erfolgreichen Romane und Stücke Speyers mitgearbeitet, wie im Katalog der Marbacher BenjaminAusstellung von 1990 erstmals dokumentiert wurde und inzwischen in der bei Suhrkamp erscheinenden, gut kommentierten Ausgabe der "Gesammelten Briefe" Benjamins nachzulesen ist.
Da Speyer ebenso wie Kästner seit Ende der zwanziger Jahre auch als Jugendbuch-Autor erfolgreich war, dürften sich beide gut gekannt haben. 1927 erschien Speyers "Kampf der Tertia" und 1928 Kästners "Emil und die Detektive"", die beide verfilmt wurden. Kästner und Speyer hatten zum Teil dieselben Verlage und dieselben Illustratoren. Benjamin hat die Beziehung zu Speyer erst Ende 1933 abgebrochen, nachdem dieser die vereinbarten Honorare für die Mitarbeit an einem Kriminalstück nicht mehr bezahlen wollte, während 1932 noch gute Kontakte bestanden, so daß er sich von Speyer in bezug auf Kästners Roman offenbar nicht hintergangen fühlte.
Im Gegensatz zu Wilhelm Speyer, der 1940 nach der Fürsprache von Thomas Mann aus einem Internierungslager in Südfrankreich entlassen wurde und in die Vereinigten Staaten emigrieren konnte, kehrte seine Frau Maria nach Berlin zurück. Auf welchen Wegen das geschah, ist unbekannt. Hier berichtete sie Kästner wenig später über ihre Emigrationserfahrungen und prangerte dabei die Verhältnisse in den französischen Internierungslagern an. Der Hinweis auf Benjamins Selbstmord steht im Zusammenhang mit diesem Bericht. Kästner bezieht sich auf ein Gespräch mit einer Bekannten, die er offenbar bei einem Fest getroffen hatte und die über die Vorgänge informiert war.
Das Tagebuch Kästners wird auf der Ausstellung zum hundertsten Geburtstag ab 23. Februar 1999 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt. Die Tagebuch-Stelle kann hier zum ersten Mal wörtlich mitgeteilt werden (das Copyright liegt bei Thomas Kästner). Sie lautet: "Beate und ich sprachen auch über Maria Speyer, die vor einigen Wochen als Rückwanderer aus dem unbesetzten Frankreich zurückgekehrt ist. Die dortigen Verhältnisse seien so schrecklich gewesen, daß emigrierte deutsche ,Fachleute' erklärt hätten, sie möchten lieber nach Dachau zurück. So behandeln die Franzosen die Nicht-Nationalsozialisten aus Deutschland. Eine interessante Tatsache.
XY (Name ist nicht lesbar) und Walter Benjamin brachten sich dort in Südfrankreich, an der heiteren Riviera, um. Benjamin schnitt sich die Pulsadern auf, obwohl er noch Tage vorher der Speyer gegenüber erklärt hatte: Wenn er sich wirklich einmal umbrächte, dann auf jede andere Weise. Maria Speyer erklärte mir, wie umständlich diese Todesart sei. Denn die Arterien lägen tief unter den Sehnen des Handgelenks. Man müsse also sehr tief schneiden." Im Roman hat sich Labude erschossen. Romangeschehen und Wirklichkeit kommen also mit Abweichungen zusammen. DETLEV SCHÖTTKER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main