NachträgeSiebter Band. Erster Teil:Frühe Schriften / Sonette / Rundfunkgeschichten für Kinder / Literarische Rundfunkvorträge / Geschichten und Rätsel / »Das kalte Herz« / Nachtrag zu den Brecht-Kommentaren / »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« - Zweite Fassung / »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« - Fassung letzter HandAnhang: Verzeichnis der gelesenen Schritten / Bibliographie der zu Lebzeiten gedruckten ArbeitenSiebter Band. Zweiter Teil:Anmerkungen der Herausgeber / Nachträge zu den Anmerkungen der Rande I bis VI / Zum Abschluß der Ausgabe / Inhaltsverzeichnis Band VII / Gesamtinhaltsverzeichnis der Bände I bis VII
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.1999Emil und die Melancholiker
Eine Detektivgeschichte: Walter Benjamin, Erich Kästner und eine unbekannte Tagebuch-Notiz aus dem Jahr 1941
Walter Benjamin wollte sich 1925 mit einer Abhandlung über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" an der Universität Frankfurt habilitieren. Doch wurde das Gesuch, das zunächst im Fach Literaturgeschichte und dann im Fach Ästhetik vorgesehen war, von der Philosophischen Fakultät abgelehnt. Der Vorgang wurde zu einem Topos der Benjamin-Literatur, nachdem er in den sechziger Jahren bekannt geworden war. Benjamins Freund und Briefpartner Gershom Scholem hat darüber erstmals in einem Aufsatz der "Neuen Rundschau" von 1965 berichtet. Scholem sprach von der "Schmach der Universität", die eine der "bedeutendsten und bahnbrechendsten Habilitationsschriften" abgelehnt habe, "die je einer philosophischen Fakultät vorgelegt" worden sei.
Zwei Jahrzehnte vergingen, bis Einzelheiten bekannt wurden. Anfang der achtziger Jahre hatte Burkhardt Lindner die Akten im Frankfurter Universitätsarchiv eingesehen und berichtete darüber 1985 in dem Band "Walter Benjamin im Kontext". Die hier gedruckten Dokumente zeigten, daß Benjamins Habilitation gescheitert war, weil der Philosoph Hans Cornelius die Arbeit und ein nachträglich vom Verfasser angefordertes Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet hatte, so daß dem Antragsteller vom Dekan der Philosophischen Fakultät, dem Germanisten Franz Schultz, empfohlen wurde, das Gesuch zurückzuziehen. Daß Max Horkheimer als Assistent des Gutachters an der Ablehnung beteiligt gewesen ist, war die Sensation von Lindners Mitteilungen. Auch Horkheimer hatte nach Darstellung von Cornelius das Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet.
Was seit Mitte der sechziger Jahre in Briefen und Dokumenten zutage kam, hatte man seit 1931 allerdings in einem Roman nachlesen können, der zu einem der bekanntesten Werke der Weimarer Republik wurde: Erich Kästners "Fabian". Benjamins Geschichte wird hier so detailliert verarbeitet, daß die Ausführungen den Informationsstand der Gegenwart erreichen. Die drohende Ablehnung einer germanistischen Habilitationsschrift steht im Mittelpunkt der Handlung und wird ausführlich dargestellt. Der Habilitand heißt im Roman Stephan Labude und ist als Freund des Titelhelden Jakob Fabian die zweite Hauptfigur des Buches. Bevor Labude als Person Kontur bekommt, wird die drohende Ablehnung seiner Habilitationsschrift zum Thema eines Gesprächs. "Ich fürchte", so Labude auf die Frage Fabians, ob die Gutachter die Arbeit inzwischen gelesen hätten, "sie werden sich zu sehr wundern."
Schon Werner Fuld hat 1979 in seiner Benjamin-Biographie "Zwischen den Stühlen" auf Ähnlichkeiten zwischen Benjamin und Labude hingewiesen. Sie müßten "jedem Leser sofort klar sein". Doch damit stieß er auf den Widerspruch von Helmuth Kiesel, der in seinem 1981 erschienenen Buch über Erich Kästner von "leichtfertigen Mutmaßungen" sprach, die "durch keinerlei externe Belege abgesichert" seien und "jeglicher Stringenz" entbehrten. Kiesel berief sich auf Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, die in ihrer 1966 erschienenen Rowohlt-Monographie Kästners Freund Ralph Zucker als Vorbild der Labude-Figur bezeichnet hatte. Begründet wurde die Zuweisung nicht.
Die Frage, ob Kästner das akademische Scheitern Benjamins verarbeitet hat, ist seither offen geblieben. Zwar stimmt Sven Hanuschek in seiner hervorragenden Kästner-Biographie (Carl Hanser, 1999) der Auffassung Fulds in einer Fußnote zu. Doch hat sich Beate Pinkerneil, die Bearbeiterin des "Fabian" in der 1998 erschienenen neunbändigen Hanser-Ausgabe der Werke Kästners, ebenfalls auf Luiselotte Enderle berufen. Ihr Stellenkommentar wird jenen Teilen des Romans nicht gerecht, in denen Kästner die Lebensweise, die Auffassungen und den Habilitationsversuch Labudes beschreibt. Werner Fuld hatte dazu in seiner Biographie Vorarbeiten geleistet und mehrere Anspielungen entschlüsselt. Sie können durch die Fortschritte der Benjamin-Forschung inzwischen erweitert und konkretisiert werden.
Wie Labude, so hatte auch Benjamin wohlhabende Eltern, die eine "Villa" im "Grunewald" besaßen und dort "Gesellschaften" gaben (Benjamin berichtet darüber 1932 in der "Berliner Kindheit"). Wie Labude hatte auch Benjamin eine "zweite Wohnung im Zentrum" von Berlin, wo er seinen "wissenschaftlichen und sozialen Neigungen" nachging. Wie Labude hatte Benjamin viele Auseinandersetzungen mit seinem Vater (Benjamin berichtet darüber in Briefen an Scholem). Wie Labude hatte Benjamin eine unglückliche Liebesbeziehung zu einer Frau in einer anderen Stadt (die Leda im Roman verweist schon im Namen auf Benjamins Moskauer Freundin Asja). Und wie Labude liebte Benjamin Spaziergänge "durch Berlin" und natürlich "Paris" (Kästner könnte hier anspielen auf das 1929 erschienene Buch von Benjamins Freund Franz Hessel "Spazieren in Berlin", deren gemeinsamen Pariser Aufenthalt und Benjamins großes Buchprojekt).
Auch in den philosophischen und politischen Positionen, die Labude vertritt, kann man die bildungsbürgerliche und theologische Deutung des Marxismus erkennen, um die sich Benjamin seit den zwanziger Jahren bemühte. "Du willst", so wirft Fabian dem Freund vor, "das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst zu helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht." Sogar die Habilitationsschriften Labudes und Benjamins berühren sich in der Thematik des Trauerspiels (bei Labude ist es Lessing, bei Benjamin das 17. Jahrhundert) und in der antihistoristischen Ausrichtung der Darstellung, die sich in Benjamins Briefen wie in Kästners Roman als antiakademischer Habitus präsentiert. "Die geweihte Logik eines Schriftstellers psychologisch auswerten", so Labude über seine Arbeit, "den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir es ab."
Die Ahnung der Verärgerung der Gutachter wird in Kästners Roman zum Gerücht über die Ablehnung der Arbeit, die zum Selbstmord des Kandidaten führt. Wie bei Benjamin ein Assistent des Gutachters an der Urteilsbildung beteiligt war, so ist es im Roman ein Assistent an der Bildung und Verbreitung des Gerüchts. "Lieber Jakob", so heißt es in Labudes Abschiedsbrief an Fabian, "als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden . . . Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen."
Da die fiktive Lebensgeschichte Labudes in vielen Zügen mit der Lebensgeschichte Benjamins übereinstimmt, sind die Abweichungen des Romans nur als bewußte Abweichungen des Autors zu deuten. Kästner, der seit 1927 in Berlin lebte, muß demnach gut über Benjamins Biographie und sein akademisches Schicksal informiert gewesen sein. Da Benjamin zu Lebzeiten nur wenigen Freunden und Lesern bekannt war, konnten die Anspielungen von den meisten Lesern nicht verstanden werden, bis die postume Rezeption Benjamins aus Kästners Roman einen Schlüsselroman machte.
Daß der Roman von Benjamin selbst als Angriff oder Verleumdung aufgefaßt wurde, könnte man aus jener Rezension schließen, die er im Oktober 1930 über Kästners Gedichtband "Ein Mann gibt Auskunft" schrieb. Denn der vernichtende Gestus des Textes, der nicht nur auf die Lyrik, sondern auch auf die literarische Existenz des Autors zielte, deutet eher auf persönliche Betroffenheit als auf literarischen Unmut. "Kästners Gedichte", so schreibt Benjamin unter anderem, "sind Sachen für Großverdiener, jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht."
Obwohl Benjamin in mehreren Briefen an das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" um eine baldige Publikation der Besprechung bat, lehnte die Redaktion den Druck ab. Der Text erschien deshalb im Frühjahr 1931 in der sozialdemokratischen Theorie-Zeitschrift "Die Gesellschaft". Zitiert wird er erst seit der Wiederentdeckung Benjamins. Dabei ist der Titel "Linke Melancholie" bekannter geworden als der Text selbst. Benjamin nimmt hier ein Stichwort auf, das Kästner bereits in seinem Roman verwendet, um die Haltung Fabians zu charakterisieren: "Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren."
Ob Benjamin den Roman ganz oder in Teilen vor der Publikation kannte, ist nicht nachweisbar, da die Belege fehlen. Das Archiv der Deutschen Verlags-Anstalt ist 1944 verbrannt, und Benjamins Briefe bis 1933 sind mit seinem Berliner Nachlaß seit der Emigration verschollen. Als Racheakt an Benjamins Rezension, wie bisweilen geschehen, kann Kästners Roman aber nicht gedeutet werden, weil sich die Niederschrift zeitlich mit der Abfassung der Besprechung überschneidet. Als Benjamin den Text seiner Rezension im Oktober 1930 an die "Frankfurter Zeitung" schickte, arbeitete Kästner noch an seinem Manuskript, das er erst im Juli 1931 an den Verlag gab.
Benjamin wird also von Kästners Romanvorhaben gehört haben, wie Kästner sich zuvor über Benjamin informiert haben kann, da sich die Berliner Freundschaften und die Aufenthaltsorte der Betroffenen in vielfältiger Weise überschnitten. Dennoch gibt es ein bisher unveröffentlichtes Dokument, das den komplexen Zusammenhang zwischen Romangeschehen und Benjamins Biographie erhellen kann. Es handelt sich um ein Tagebuch, das Kästner vom 16. Januar bis Ende September 1941 in Gabelsberger Kurzschrift führte. Teile daraus werden im Anhang zum sechsten Band der Werke Kästners zitiert oder referiert. Kästner hatte seit Kriegsbeginn Publikationsverbot, lebte aber in Berlin, nachdem seine Bücher, darunter auch der "Fabian", 1933 von den Nazis verbrannt und verboten worden waren.
Am 19. Januar 1941 notiert Kästner in seinem Tagebuch, daß Benjamin sich "umgebracht" habe, was in Deutschland niemand wissen konnte. Zwar ist die Ortsangabe "Südfrankreich" nicht genau und die Angabe der Todesursache falsch, da sich Benjamin nicht die "Pulsadern aufgeschnitten" hatte, wie Kästner schreibt, sondern vermutlich an den Folgen einer Überdosis Morphium starb, die er auf der Flucht aus Frankreich im spanischen Grenzort Port Bou am 26. September 1940 genommen hatte. Doch deutet allein die Tatsache der Notiz darauf hin, daß Kästner Benjamin besser kannte, als bisher anzunehmen war.
Ebenso aufschlußreich für das Romangeschehen im "Fabian" ist der Hinweis auf die Quelle der Information in Kästners Tagebuch. Es handelt sich um Maria Speyer, die Frau des Schriftstellers Wilhelm Speyer, der mit Benjamin befreundet war. Benjamin hatte zusammen mit Speyer in den zwanziger Jahren mehrere Auto-Reisen nach Italien unternommen und gegen Bezahlung an einigen der sehr erfolgreichen Romane und Stücke Speyers mitgearbeitet, wie im Katalog der Marbacher BenjaminAusstellung von 1990 erstmals dokumentiert wurde und inzwischen in der bei Suhrkamp erscheinenden, gut kommentierten Ausgabe der "Gesammelten Briefe" Benjamins nachzulesen ist.
Da Speyer ebenso wie Kästner seit Ende der zwanziger Jahre auch als Jugendbuch-Autor erfolgreich war, dürften sich beide gut gekannt haben. 1927 erschien Speyers "Kampf der Tertia" und 1928 Kästners "Emil und die Detektive"", die beide verfilmt wurden. Kästner und Speyer hatten zum Teil dieselben Verlage und dieselben Illustratoren. Benjamin hat die Beziehung zu Speyer erst Ende 1933 abgebrochen, nachdem dieser die vereinbarten Honorare für die Mitarbeit an einem Kriminalstück nicht mehr bezahlen wollte, während 1932 noch gute Kontakte bestanden, so daß er sich von Speyer in bezug auf Kästners Roman offenbar nicht hintergangen fühlte.
Im Gegensatz zu Wilhelm Speyer, der 1940 nach der Fürsprache von Thomas Mann aus einem Internierungslager in Südfrankreich entlassen wurde und in die Vereinigten Staaten emigrieren konnte, kehrte seine Frau Maria nach Berlin zurück. Auf welchen Wegen das geschah, ist unbekannt. Hier berichtete sie Kästner wenig später über ihre Emigrationserfahrungen und prangerte dabei die Verhältnisse in den französischen Internierungslagern an. Der Hinweis auf Benjamins Selbstmord steht im Zusammenhang mit diesem Bericht. Kästner bezieht sich auf ein Gespräch mit einer Bekannten, die er offenbar bei einem Fest getroffen hatte und die über die Vorgänge informiert war.
Das Tagebuch Kästners wird auf der Ausstellung zum hundertsten Geburtstag ab 23. Februar 1999 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt. Die Tagebuch-Stelle kann hier zum ersten Mal wörtlich mitgeteilt werden (das Copyright liegt bei Thomas Kästner). Sie lautet: "Beate und ich sprachen auch über Maria Speyer, die vor einigen Wochen als Rückwanderer aus dem unbesetzten Frankreich zurückgekehrt ist. Die dortigen Verhältnisse seien so schrecklich gewesen, daß emigrierte deutsche ,Fachleute' erklärt hätten, sie möchten lieber nach Dachau zurück. So behandeln die Franzosen die Nicht-Nationalsozialisten aus Deutschland. Eine interessante Tatsache.
XY (Name ist nicht lesbar) und Walter Benjamin brachten sich dort in Südfrankreich, an der heiteren Riviera, um. Benjamin schnitt sich die Pulsadern auf, obwohl er noch Tage vorher der Speyer gegenüber erklärt hatte: Wenn er sich wirklich einmal umbrächte, dann auf jede andere Weise. Maria Speyer erklärte mir, wie umständlich diese Todesart sei. Denn die Arterien lägen tief unter den Sehnen des Handgelenks. Man müsse also sehr tief schneiden." Im Roman hat sich Labude erschossen. Romangeschehen und Wirklichkeit kommen also mit Abweichungen zusammen. DETLEV SCHÖTTKER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Detektivgeschichte: Walter Benjamin, Erich Kästner und eine unbekannte Tagebuch-Notiz aus dem Jahr 1941
Walter Benjamin wollte sich 1925 mit einer Abhandlung über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" an der Universität Frankfurt habilitieren. Doch wurde das Gesuch, das zunächst im Fach Literaturgeschichte und dann im Fach Ästhetik vorgesehen war, von der Philosophischen Fakultät abgelehnt. Der Vorgang wurde zu einem Topos der Benjamin-Literatur, nachdem er in den sechziger Jahren bekannt geworden war. Benjamins Freund und Briefpartner Gershom Scholem hat darüber erstmals in einem Aufsatz der "Neuen Rundschau" von 1965 berichtet. Scholem sprach von der "Schmach der Universität", die eine der "bedeutendsten und bahnbrechendsten Habilitationsschriften" abgelehnt habe, "die je einer philosophischen Fakultät vorgelegt" worden sei.
Zwei Jahrzehnte vergingen, bis Einzelheiten bekannt wurden. Anfang der achtziger Jahre hatte Burkhardt Lindner die Akten im Frankfurter Universitätsarchiv eingesehen und berichtete darüber 1985 in dem Band "Walter Benjamin im Kontext". Die hier gedruckten Dokumente zeigten, daß Benjamins Habilitation gescheitert war, weil der Philosoph Hans Cornelius die Arbeit und ein nachträglich vom Verfasser angefordertes Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet hatte, so daß dem Antragsteller vom Dekan der Philosophischen Fakultät, dem Germanisten Franz Schultz, empfohlen wurde, das Gesuch zurückzuziehen. Daß Max Horkheimer als Assistent des Gutachters an der Ablehnung beteiligt gewesen ist, war die Sensation von Lindners Mitteilungen. Auch Horkheimer hatte nach Darstellung von Cornelius das Exposé als "nicht verstehbar" bezeichnet.
Was seit Mitte der sechziger Jahre in Briefen und Dokumenten zutage kam, hatte man seit 1931 allerdings in einem Roman nachlesen können, der zu einem der bekanntesten Werke der Weimarer Republik wurde: Erich Kästners "Fabian". Benjamins Geschichte wird hier so detailliert verarbeitet, daß die Ausführungen den Informationsstand der Gegenwart erreichen. Die drohende Ablehnung einer germanistischen Habilitationsschrift steht im Mittelpunkt der Handlung und wird ausführlich dargestellt. Der Habilitand heißt im Roman Stephan Labude und ist als Freund des Titelhelden Jakob Fabian die zweite Hauptfigur des Buches. Bevor Labude als Person Kontur bekommt, wird die drohende Ablehnung seiner Habilitationsschrift zum Thema eines Gesprächs. "Ich fürchte", so Labude auf die Frage Fabians, ob die Gutachter die Arbeit inzwischen gelesen hätten, "sie werden sich zu sehr wundern."
Schon Werner Fuld hat 1979 in seiner Benjamin-Biographie "Zwischen den Stühlen" auf Ähnlichkeiten zwischen Benjamin und Labude hingewiesen. Sie müßten "jedem Leser sofort klar sein". Doch damit stieß er auf den Widerspruch von Helmuth Kiesel, der in seinem 1981 erschienenen Buch über Erich Kästner von "leichtfertigen Mutmaßungen" sprach, die "durch keinerlei externe Belege abgesichert" seien und "jeglicher Stringenz" entbehrten. Kiesel berief sich auf Kästners Lebensgefährtin Luiselotte Enderle, die in ihrer 1966 erschienenen Rowohlt-Monographie Kästners Freund Ralph Zucker als Vorbild der Labude-Figur bezeichnet hatte. Begründet wurde die Zuweisung nicht.
Die Frage, ob Kästner das akademische Scheitern Benjamins verarbeitet hat, ist seither offen geblieben. Zwar stimmt Sven Hanuschek in seiner hervorragenden Kästner-Biographie (Carl Hanser, 1999) der Auffassung Fulds in einer Fußnote zu. Doch hat sich Beate Pinkerneil, die Bearbeiterin des "Fabian" in der 1998 erschienenen neunbändigen Hanser-Ausgabe der Werke Kästners, ebenfalls auf Luiselotte Enderle berufen. Ihr Stellenkommentar wird jenen Teilen des Romans nicht gerecht, in denen Kästner die Lebensweise, die Auffassungen und den Habilitationsversuch Labudes beschreibt. Werner Fuld hatte dazu in seiner Biographie Vorarbeiten geleistet und mehrere Anspielungen entschlüsselt. Sie können durch die Fortschritte der Benjamin-Forschung inzwischen erweitert und konkretisiert werden.
Wie Labude, so hatte auch Benjamin wohlhabende Eltern, die eine "Villa" im "Grunewald" besaßen und dort "Gesellschaften" gaben (Benjamin berichtet darüber 1932 in der "Berliner Kindheit"). Wie Labude hatte auch Benjamin eine "zweite Wohnung im Zentrum" von Berlin, wo er seinen "wissenschaftlichen und sozialen Neigungen" nachging. Wie Labude hatte Benjamin viele Auseinandersetzungen mit seinem Vater (Benjamin berichtet darüber in Briefen an Scholem). Wie Labude hatte Benjamin eine unglückliche Liebesbeziehung zu einer Frau in einer anderen Stadt (die Leda im Roman verweist schon im Namen auf Benjamins Moskauer Freundin Asja). Und wie Labude liebte Benjamin Spaziergänge "durch Berlin" und natürlich "Paris" (Kästner könnte hier anspielen auf das 1929 erschienene Buch von Benjamins Freund Franz Hessel "Spazieren in Berlin", deren gemeinsamen Pariser Aufenthalt und Benjamins großes Buchprojekt).
Auch in den philosophischen und politischen Positionen, die Labude vertritt, kann man die bildungsbürgerliche und theologische Deutung des Marxismus erkennen, um die sich Benjamin seit den zwanziger Jahren bemühte. "Du willst", so wirft Fabian dem Freund vor, "das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst zu helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht." Sogar die Habilitationsschriften Labudes und Benjamins berühren sich in der Thematik des Trauerspiels (bei Labude ist es Lessing, bei Benjamin das 17. Jahrhundert) und in der antihistoristischen Ausrichtung der Darstellung, die sich in Benjamins Briefen wie in Kästners Roman als antiakademischer Habitus präsentiert. "Die geweihte Logik eines Schriftstellers psychologisch auswerten", so Labude über seine Arbeit, "den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir es ab."
Die Ahnung der Verärgerung der Gutachter wird in Kästners Roman zum Gerücht über die Ablehnung der Arbeit, die zum Selbstmord des Kandidaten führt. Wie bei Benjamin ein Assistent des Gutachters an der Urteilsbildung beteiligt war, so ist es im Roman ein Assistent an der Bildung und Verbreitung des Gerüchts. "Lieber Jakob", so heißt es in Labudes Abschiedsbrief an Fabian, "als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden . . . Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen."
Da die fiktive Lebensgeschichte Labudes in vielen Zügen mit der Lebensgeschichte Benjamins übereinstimmt, sind die Abweichungen des Romans nur als bewußte Abweichungen des Autors zu deuten. Kästner, der seit 1927 in Berlin lebte, muß demnach gut über Benjamins Biographie und sein akademisches Schicksal informiert gewesen sein. Da Benjamin zu Lebzeiten nur wenigen Freunden und Lesern bekannt war, konnten die Anspielungen von den meisten Lesern nicht verstanden werden, bis die postume Rezeption Benjamins aus Kästners Roman einen Schlüsselroman machte.
Daß der Roman von Benjamin selbst als Angriff oder Verleumdung aufgefaßt wurde, könnte man aus jener Rezension schließen, die er im Oktober 1930 über Kästners Gedichtband "Ein Mann gibt Auskunft" schrieb. Denn der vernichtende Gestus des Textes, der nicht nur auf die Lyrik, sondern auch auf die literarische Existenz des Autors zielte, deutet eher auf persönliche Betroffenheit als auf literarischen Unmut. "Kästners Gedichte", so schreibt Benjamin unter anderem, "sind Sachen für Großverdiener, jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht."
Obwohl Benjamin in mehreren Briefen an das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" um eine baldige Publikation der Besprechung bat, lehnte die Redaktion den Druck ab. Der Text erschien deshalb im Frühjahr 1931 in der sozialdemokratischen Theorie-Zeitschrift "Die Gesellschaft". Zitiert wird er erst seit der Wiederentdeckung Benjamins. Dabei ist der Titel "Linke Melancholie" bekannter geworden als der Text selbst. Benjamin nimmt hier ein Stichwort auf, das Kästner bereits in seinem Roman verwendet, um die Haltung Fabians zu charakterisieren: "Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren."
Ob Benjamin den Roman ganz oder in Teilen vor der Publikation kannte, ist nicht nachweisbar, da die Belege fehlen. Das Archiv der Deutschen Verlags-Anstalt ist 1944 verbrannt, und Benjamins Briefe bis 1933 sind mit seinem Berliner Nachlaß seit der Emigration verschollen. Als Racheakt an Benjamins Rezension, wie bisweilen geschehen, kann Kästners Roman aber nicht gedeutet werden, weil sich die Niederschrift zeitlich mit der Abfassung der Besprechung überschneidet. Als Benjamin den Text seiner Rezension im Oktober 1930 an die "Frankfurter Zeitung" schickte, arbeitete Kästner noch an seinem Manuskript, das er erst im Juli 1931 an den Verlag gab.
Benjamin wird also von Kästners Romanvorhaben gehört haben, wie Kästner sich zuvor über Benjamin informiert haben kann, da sich die Berliner Freundschaften und die Aufenthaltsorte der Betroffenen in vielfältiger Weise überschnitten. Dennoch gibt es ein bisher unveröffentlichtes Dokument, das den komplexen Zusammenhang zwischen Romangeschehen und Benjamins Biographie erhellen kann. Es handelt sich um ein Tagebuch, das Kästner vom 16. Januar bis Ende September 1941 in Gabelsberger Kurzschrift führte. Teile daraus werden im Anhang zum sechsten Band der Werke Kästners zitiert oder referiert. Kästner hatte seit Kriegsbeginn Publikationsverbot, lebte aber in Berlin, nachdem seine Bücher, darunter auch der "Fabian", 1933 von den Nazis verbrannt und verboten worden waren.
Am 19. Januar 1941 notiert Kästner in seinem Tagebuch, daß Benjamin sich "umgebracht" habe, was in Deutschland niemand wissen konnte. Zwar ist die Ortsangabe "Südfrankreich" nicht genau und die Angabe der Todesursache falsch, da sich Benjamin nicht die "Pulsadern aufgeschnitten" hatte, wie Kästner schreibt, sondern vermutlich an den Folgen einer Überdosis Morphium starb, die er auf der Flucht aus Frankreich im spanischen Grenzort Port Bou am 26. September 1940 genommen hatte. Doch deutet allein die Tatsache der Notiz darauf hin, daß Kästner Benjamin besser kannte, als bisher anzunehmen war.
Ebenso aufschlußreich für das Romangeschehen im "Fabian" ist der Hinweis auf die Quelle der Information in Kästners Tagebuch. Es handelt sich um Maria Speyer, die Frau des Schriftstellers Wilhelm Speyer, der mit Benjamin befreundet war. Benjamin hatte zusammen mit Speyer in den zwanziger Jahren mehrere Auto-Reisen nach Italien unternommen und gegen Bezahlung an einigen der sehr erfolgreichen Romane und Stücke Speyers mitgearbeitet, wie im Katalog der Marbacher BenjaminAusstellung von 1990 erstmals dokumentiert wurde und inzwischen in der bei Suhrkamp erscheinenden, gut kommentierten Ausgabe der "Gesammelten Briefe" Benjamins nachzulesen ist.
Da Speyer ebenso wie Kästner seit Ende der zwanziger Jahre auch als Jugendbuch-Autor erfolgreich war, dürften sich beide gut gekannt haben. 1927 erschien Speyers "Kampf der Tertia" und 1928 Kästners "Emil und die Detektive"", die beide verfilmt wurden. Kästner und Speyer hatten zum Teil dieselben Verlage und dieselben Illustratoren. Benjamin hat die Beziehung zu Speyer erst Ende 1933 abgebrochen, nachdem dieser die vereinbarten Honorare für die Mitarbeit an einem Kriminalstück nicht mehr bezahlen wollte, während 1932 noch gute Kontakte bestanden, so daß er sich von Speyer in bezug auf Kästners Roman offenbar nicht hintergangen fühlte.
Im Gegensatz zu Wilhelm Speyer, der 1940 nach der Fürsprache von Thomas Mann aus einem Internierungslager in Südfrankreich entlassen wurde und in die Vereinigten Staaten emigrieren konnte, kehrte seine Frau Maria nach Berlin zurück. Auf welchen Wegen das geschah, ist unbekannt. Hier berichtete sie Kästner wenig später über ihre Emigrationserfahrungen und prangerte dabei die Verhältnisse in den französischen Internierungslagern an. Der Hinweis auf Benjamins Selbstmord steht im Zusammenhang mit diesem Bericht. Kästner bezieht sich auf ein Gespräch mit einer Bekannten, die er offenbar bei einem Fest getroffen hatte und die über die Vorgänge informiert war.
Das Tagebuch Kästners wird auf der Ausstellung zum hundertsten Geburtstag ab 23. Februar 1999 im Deutschen Historischen Museum in Berlin gezeigt. Die Tagebuch-Stelle kann hier zum ersten Mal wörtlich mitgeteilt werden (das Copyright liegt bei Thomas Kästner). Sie lautet: "Beate und ich sprachen auch über Maria Speyer, die vor einigen Wochen als Rückwanderer aus dem unbesetzten Frankreich zurückgekehrt ist. Die dortigen Verhältnisse seien so schrecklich gewesen, daß emigrierte deutsche ,Fachleute' erklärt hätten, sie möchten lieber nach Dachau zurück. So behandeln die Franzosen die Nicht-Nationalsozialisten aus Deutschland. Eine interessante Tatsache.
XY (Name ist nicht lesbar) und Walter Benjamin brachten sich dort in Südfrankreich, an der heiteren Riviera, um. Benjamin schnitt sich die Pulsadern auf, obwohl er noch Tage vorher der Speyer gegenüber erklärt hatte: Wenn er sich wirklich einmal umbrächte, dann auf jede andere Weise. Maria Speyer erklärte mir, wie umständlich diese Todesart sei. Denn die Arterien lägen tief unter den Sehnen des Handgelenks. Man müsse also sehr tief schneiden." Im Roman hat sich Labude erschossen. Romangeschehen und Wirklichkeit kommen also mit Abweichungen zusammen. DETLEV SCHÖTTKER
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2009Wanderer im Gedankenmassiv
Doch ohne Superlative: Jean-Michel Palmier unternimmt eine Gesamtschau des Werkes von Walter Benjamin
Vor wenigen Monaten legte die amerikanische Philosophin Cathrine H. Zuckert eine 900-seitige Untersuchung vor, die auf ungemein scharfsichtige Weise die Korrespondenz der platonischen Dialoge untereinander nachwies. Doch nicht nur das: Zuckert las die Werke konsequent mit dem Spätwerk beginnend hin zum Erstling, und konnte bei aller Fragmentierung der Argumente und der Themenvielfalt eine innere Stimmigkeit von Platons Denken feststellen.
Es mag befremden, wenn man von Platon spricht, wo es um Walter Benjamin gehen soll. Und dennoch gibt es einen triftigen Grund. Denn was Zuckert zum wiederholten Male für Platon leistet, das hat der 1998 verstorbene Philosoph und Literaturwissenschaftler Jean-Michel Palmier erstmals für Benjamin unternommen. Eine Gesamtschau dieses vielfach gebrochenen Werkes, die sich nur sachlichen Kriterien unterwirft, suchte man bislang vergebens. Die Interpretation nahezu sämtlicher Texte, die den von ihnen aufgerufenen Zusammenhängen nachgeht und all dem gegenüber eine eigenständige Position einnimmt, darin schien ein größenwahnsinniges Moment zu stecken. Doch Palmier nahm sich durchgehend erfolgreich der Aufgabe an. In der herausragenden Übersetzung von Horst Brühmann, der die Tugend der Klarheit hier zum wiederholten Male zu seinem Maßstab gemacht hat, erhält der deutsche Leser jetzt gleichwohl ein gigantisches Gedankenmassiv, dessen Besteigung und Durchwandern ein intellektuelles Vergnügen bereitet. Palmier hat nicht Benjamins Rätsel gelöst, ihn aber vom Kopf auf die Füße gestellt. Ein brillanter, ebenso tastender wie dogmatischer Autor wird in dieser reichen Biographie mitsamt seinen Irrungen und Wirrungen in einer Sprache präsentiert, die nichts Suggestives hat. Gute Lesbarkeit wird hier erreicht, weil der Autor seine Zettelkästen im Griff hat. Entgegen dem jüngsten Trend biographischer Anstrengungen, der darauf vertraut, dass der Leser jede Banalität und Obsession so interessant finden muss wie der Autor, gilt bei Palmier intellektuelle Redlichkeit als oberstes Darstellungsprinzip.
Im Unterschied zu den meisten seiner Deutungskonkurrenten war Palmier ein intimer Kenner der deutschen Geistesgeschichte seit 1900. Die Studien unter anderem zum Expressionismus, zu Herbert Marcuse, Thomas Mann und Ernst Jünger, vor allem aber seine zweibändige Untersuchung zu den deutschsprachigen Emigranten, zeigen einen aufmerksamen Interpreten komplizierter Denkwege und politischer Gemengelagen. Nach der Lektüre der Biographie wird man bedauern, dass keines von Palmiers anderen Büchern übersetzt ist.
Aufgrund dieser Arbeiten weiß der Biograph sehr genau, wie bedeutsam für Benjamin die verschiedenen Netze sind, in denen er sich bewegt. Es sind vor allem Gershom Scholem, Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht, die Einfluss auf Benjamin nehmen, die wiederum er prägt und die nach seinem Tode 1940 maßgeblich das Nachleben bestimmten. Inzwischen ist dieses in herzlicher gegenseitiger Ablehnung miteinander verbundene Trio um andere Personen erweitert worden. Außerdem hat man wichtige Gründe gefunden, deren Überlieferungen zu misstrauen, auch um Benjamins Argumente in den Debatten unserer Tage präsent zu halten. Doch Palmier weiß das natürlich. Sein Kurs zwischen den diversen Parteien bleibt gerade deshalb ein unabhängiger. Es ist sogar ein Glücksfall, dass er die diversen Heiligsprechungen Benjamins nicht mehr erleben musste. Der neben Hannah Arendt häufig als Paradigma des jüdischen Intellektuellen im 20. Jahrhunderts missbrauchte Benjamin wird bei Palmier noch ganz nüchtern als Theoretiker des Barock-Dramas, Interpret Goethes, Literaturkritiker, Übersetzer Baudelaires und Prousts, schließlich als häretischer Marxist und Spurenleser der Entstehungsbedingungen der Moderne verstanden. Dazu liest Palmier die Vereinnahmungsversuche seiner Freunde gegen den Strich, weiß aber sehr genau, wie wichtig deren Einsichten in eine so enigmatischen Persönlichkeit sind. So wird unsere Vorstellung von Benjamin nie mehr von Scholems Benjamin-Darstellungen zu trennen sein.
Wer Palmiers riesigen Torso zur Hand nimmt, wird sich an einer weiteren Eigenheit erfreuen dürfen. Das vom Autor selbst nicht mehr redigierte Manuskript enthält zwar zahlreiche Wiederholungen, doch dafür entschädigt sein Buch durch eine geistige Selbständigkeit. Palmier ist Chronist, der unparteiisch die Entwicklungslinien seines Protagonisten nachzeichnet und dabei Benjamin klug in die Zusammenhänge seiner Zeit stellt. Dort, wo er sich freimacht von den Zeitgenossen, folgt ihm Palmier aufmerksam. So erscheint Benjamin nicht als der einzige Flaneur seiner Zeit, doch als derjenige, der diese Haltung als geistige Physiognomie auf Architektur, Geräusche oder dem Flüchtigen der Großstadt zu übertragen versteht. Sein Interesse an der eigenen Kindheit, die Begeisterung an Kinderbüchern, das Nachhorchen moderner Mythen, all das wird in dieser unvollendeten Biographie in ein schwieriges Gesamt eingeordnet. Aber dies geschieht schließlich so, dass Palmier keine Superlative einsetzt, keine bloße Ahnung vortäuscht, wenn die Sätze und Ideensplitter Benjamins sich im grammatikalischen Dickicht verlaufen oder ihre allzu deutlich gewordene Zeitgebundenheit offenbaren. Im Gegenteil: jenseits aller Fallen, die mögliche Identifikationen bereithalten, klärt Palmier im besten Sinne des Wortes den Leser auf.
Besonders wohltuend ist Palmiers Desinteresse an einer Feier des Intellektuellen Walter Benjamin. Man liest nichts über dessen vermeintlich einzigartige Theorie des jüdischen Messianismus, muss nicht den Kopf schütteln über anmaßende Stilisierungen, die seine Thesen zur Übersetzung erfahren haben und erfreut sich daran, dass Palmier keinerlei Bedürfnis verspürt, dem Widersprüchlichen aus dem Weg zu gehen.
Kritik an Benjamin auf hohem Niveau, das ist noch immer eine Seltenheit. Denn auf der anderen Seite der immer gleichen bewundernden Rekonstruktion, die sich allzu gerne im Korpus des Werkes wohlfühlt, haben sich Altherrenwitze etabliert, die von „Sackgassen” sprechen, wo Benjamin glaubte „Einbahnstraßen” der Moderne erkennen zu können. Palmier kennt auch diese Nebenwege der Rezeption und gewinnt ihnen kluge Einsichten ab. Seine Kritik ist aus anderem Holz geschnitzt. Da Palmier die marxistischen Diskurse der Zeit kennt, macht er Benjamins Eklektizismus und seine Anpassungsbereitschaft an den Jargon mühelos aus. Der weitaus schwieriger zu beurteilenden Qualität seiner Textanalysen begegnet der Biograph mit großer Umsicht. Dazu trennt er offensichtlich Naives von jenen Überlegungen, die tiefenhermeneutische Züge tragen. So etwa, wenn Benjamin versucht, mittels Zitat-Collage dem Paris des 19. Jahrhundert näherzukommen, weil er dort die Keimzelle jener historischen Transformation vermutet, die noch seine Zeit bestimmt. Denn in diesem Paris wird die Vergangenheit eine, die die Gegenwart prägt, weil sie auf die Zukunft ausgerichtet ist. So könnte in einer Kurzformel das sogenannte „Passagen”-Werk Benjamins zusammengefasst werden. Palmiers Beobachtungen tragen wesentlich zu einem ersten Verstehen dieses großen Vorhabens bei, gerade eben weil er die einzelnen Stufen dieser lebenslang verfolgten Idee auf ihre Kohärenz prüft. Kleine Gesten sind Palmiers Sache, nicht das generelle und große Ganze.
Als willkommenes Begleitbuch zu Palmiers überragender Darstellung nimmt man die Edition der „Einbahnstraße” durch Detlev Schöttker in der neuen Werkausgabe in die Hand. Besondere Aufmerksamkeit werden die neuen Funde Schöttkers verdienen, worunter feine Details zu Benjamins Briefmarkeninteresse hervorzuheben sind. Auch wenn die Edition mit Faksimiles geizt, das Druckbild durch deutlichere Hervorhebungen und Unterscheidungen noch verbessert werden könnte, so liegt hier eine schöne Ergänzung zu Palmiers Biographie bei. Wer Benjamin endlich (besser) kennenlernen möchte – hier ist die Gelegenheit dazu. THOMAS MEYER
JEAN-MICHEL PALMIER: Walter Benjamin. Leben und Werk. Vorwort v. Florent Perrier. Aus dem Französischen v. Horst Brühmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009. 1372 S., 64 Euro.
WALTER BENJAMIN: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Band 8: Einbahnstraße. Hrsg. v. Detlev Schöttker unter Mitarbeit v. Steffen Haug. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009. 610 Seiten, 34,80 Euro.
Gute Lesbarkeit wird hier erreicht, weil der Autor seine Zettelkästen im Griff hat
Wohltuend ist Palmiers Desinteresse an einer Feier des Intellektuellen Walter Benjamin
Ein Gegenstand verschiedener Heiligsprechungsverfahren: Walter Benjamin (1892–1940). Foto: Effigie/Bilderberg
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Doch ohne Superlative: Jean-Michel Palmier unternimmt eine Gesamtschau des Werkes von Walter Benjamin
Vor wenigen Monaten legte die amerikanische Philosophin Cathrine H. Zuckert eine 900-seitige Untersuchung vor, die auf ungemein scharfsichtige Weise die Korrespondenz der platonischen Dialoge untereinander nachwies. Doch nicht nur das: Zuckert las die Werke konsequent mit dem Spätwerk beginnend hin zum Erstling, und konnte bei aller Fragmentierung der Argumente und der Themenvielfalt eine innere Stimmigkeit von Platons Denken feststellen.
Es mag befremden, wenn man von Platon spricht, wo es um Walter Benjamin gehen soll. Und dennoch gibt es einen triftigen Grund. Denn was Zuckert zum wiederholten Male für Platon leistet, das hat der 1998 verstorbene Philosoph und Literaturwissenschaftler Jean-Michel Palmier erstmals für Benjamin unternommen. Eine Gesamtschau dieses vielfach gebrochenen Werkes, die sich nur sachlichen Kriterien unterwirft, suchte man bislang vergebens. Die Interpretation nahezu sämtlicher Texte, die den von ihnen aufgerufenen Zusammenhängen nachgeht und all dem gegenüber eine eigenständige Position einnimmt, darin schien ein größenwahnsinniges Moment zu stecken. Doch Palmier nahm sich durchgehend erfolgreich der Aufgabe an. In der herausragenden Übersetzung von Horst Brühmann, der die Tugend der Klarheit hier zum wiederholten Male zu seinem Maßstab gemacht hat, erhält der deutsche Leser jetzt gleichwohl ein gigantisches Gedankenmassiv, dessen Besteigung und Durchwandern ein intellektuelles Vergnügen bereitet. Palmier hat nicht Benjamins Rätsel gelöst, ihn aber vom Kopf auf die Füße gestellt. Ein brillanter, ebenso tastender wie dogmatischer Autor wird in dieser reichen Biographie mitsamt seinen Irrungen und Wirrungen in einer Sprache präsentiert, die nichts Suggestives hat. Gute Lesbarkeit wird hier erreicht, weil der Autor seine Zettelkästen im Griff hat. Entgegen dem jüngsten Trend biographischer Anstrengungen, der darauf vertraut, dass der Leser jede Banalität und Obsession so interessant finden muss wie der Autor, gilt bei Palmier intellektuelle Redlichkeit als oberstes Darstellungsprinzip.
Im Unterschied zu den meisten seiner Deutungskonkurrenten war Palmier ein intimer Kenner der deutschen Geistesgeschichte seit 1900. Die Studien unter anderem zum Expressionismus, zu Herbert Marcuse, Thomas Mann und Ernst Jünger, vor allem aber seine zweibändige Untersuchung zu den deutschsprachigen Emigranten, zeigen einen aufmerksamen Interpreten komplizierter Denkwege und politischer Gemengelagen. Nach der Lektüre der Biographie wird man bedauern, dass keines von Palmiers anderen Büchern übersetzt ist.
Aufgrund dieser Arbeiten weiß der Biograph sehr genau, wie bedeutsam für Benjamin die verschiedenen Netze sind, in denen er sich bewegt. Es sind vor allem Gershom Scholem, Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht, die Einfluss auf Benjamin nehmen, die wiederum er prägt und die nach seinem Tode 1940 maßgeblich das Nachleben bestimmten. Inzwischen ist dieses in herzlicher gegenseitiger Ablehnung miteinander verbundene Trio um andere Personen erweitert worden. Außerdem hat man wichtige Gründe gefunden, deren Überlieferungen zu misstrauen, auch um Benjamins Argumente in den Debatten unserer Tage präsent zu halten. Doch Palmier weiß das natürlich. Sein Kurs zwischen den diversen Parteien bleibt gerade deshalb ein unabhängiger. Es ist sogar ein Glücksfall, dass er die diversen Heiligsprechungen Benjamins nicht mehr erleben musste. Der neben Hannah Arendt häufig als Paradigma des jüdischen Intellektuellen im 20. Jahrhunderts missbrauchte Benjamin wird bei Palmier noch ganz nüchtern als Theoretiker des Barock-Dramas, Interpret Goethes, Literaturkritiker, Übersetzer Baudelaires und Prousts, schließlich als häretischer Marxist und Spurenleser der Entstehungsbedingungen der Moderne verstanden. Dazu liest Palmier die Vereinnahmungsversuche seiner Freunde gegen den Strich, weiß aber sehr genau, wie wichtig deren Einsichten in eine so enigmatischen Persönlichkeit sind. So wird unsere Vorstellung von Benjamin nie mehr von Scholems Benjamin-Darstellungen zu trennen sein.
Wer Palmiers riesigen Torso zur Hand nimmt, wird sich an einer weiteren Eigenheit erfreuen dürfen. Das vom Autor selbst nicht mehr redigierte Manuskript enthält zwar zahlreiche Wiederholungen, doch dafür entschädigt sein Buch durch eine geistige Selbständigkeit. Palmier ist Chronist, der unparteiisch die Entwicklungslinien seines Protagonisten nachzeichnet und dabei Benjamin klug in die Zusammenhänge seiner Zeit stellt. Dort, wo er sich freimacht von den Zeitgenossen, folgt ihm Palmier aufmerksam. So erscheint Benjamin nicht als der einzige Flaneur seiner Zeit, doch als derjenige, der diese Haltung als geistige Physiognomie auf Architektur, Geräusche oder dem Flüchtigen der Großstadt zu übertragen versteht. Sein Interesse an der eigenen Kindheit, die Begeisterung an Kinderbüchern, das Nachhorchen moderner Mythen, all das wird in dieser unvollendeten Biographie in ein schwieriges Gesamt eingeordnet. Aber dies geschieht schließlich so, dass Palmier keine Superlative einsetzt, keine bloße Ahnung vortäuscht, wenn die Sätze und Ideensplitter Benjamins sich im grammatikalischen Dickicht verlaufen oder ihre allzu deutlich gewordene Zeitgebundenheit offenbaren. Im Gegenteil: jenseits aller Fallen, die mögliche Identifikationen bereithalten, klärt Palmier im besten Sinne des Wortes den Leser auf.
Besonders wohltuend ist Palmiers Desinteresse an einer Feier des Intellektuellen Walter Benjamin. Man liest nichts über dessen vermeintlich einzigartige Theorie des jüdischen Messianismus, muss nicht den Kopf schütteln über anmaßende Stilisierungen, die seine Thesen zur Übersetzung erfahren haben und erfreut sich daran, dass Palmier keinerlei Bedürfnis verspürt, dem Widersprüchlichen aus dem Weg zu gehen.
Kritik an Benjamin auf hohem Niveau, das ist noch immer eine Seltenheit. Denn auf der anderen Seite der immer gleichen bewundernden Rekonstruktion, die sich allzu gerne im Korpus des Werkes wohlfühlt, haben sich Altherrenwitze etabliert, die von „Sackgassen” sprechen, wo Benjamin glaubte „Einbahnstraßen” der Moderne erkennen zu können. Palmier kennt auch diese Nebenwege der Rezeption und gewinnt ihnen kluge Einsichten ab. Seine Kritik ist aus anderem Holz geschnitzt. Da Palmier die marxistischen Diskurse der Zeit kennt, macht er Benjamins Eklektizismus und seine Anpassungsbereitschaft an den Jargon mühelos aus. Der weitaus schwieriger zu beurteilenden Qualität seiner Textanalysen begegnet der Biograph mit großer Umsicht. Dazu trennt er offensichtlich Naives von jenen Überlegungen, die tiefenhermeneutische Züge tragen. So etwa, wenn Benjamin versucht, mittels Zitat-Collage dem Paris des 19. Jahrhundert näherzukommen, weil er dort die Keimzelle jener historischen Transformation vermutet, die noch seine Zeit bestimmt. Denn in diesem Paris wird die Vergangenheit eine, die die Gegenwart prägt, weil sie auf die Zukunft ausgerichtet ist. So könnte in einer Kurzformel das sogenannte „Passagen”-Werk Benjamins zusammengefasst werden. Palmiers Beobachtungen tragen wesentlich zu einem ersten Verstehen dieses großen Vorhabens bei, gerade eben weil er die einzelnen Stufen dieser lebenslang verfolgten Idee auf ihre Kohärenz prüft. Kleine Gesten sind Palmiers Sache, nicht das generelle und große Ganze.
Als willkommenes Begleitbuch zu Palmiers überragender Darstellung nimmt man die Edition der „Einbahnstraße” durch Detlev Schöttker in der neuen Werkausgabe in die Hand. Besondere Aufmerksamkeit werden die neuen Funde Schöttkers verdienen, worunter feine Details zu Benjamins Briefmarkeninteresse hervorzuheben sind. Auch wenn die Edition mit Faksimiles geizt, das Druckbild durch deutlichere Hervorhebungen und Unterscheidungen noch verbessert werden könnte, so liegt hier eine schöne Ergänzung zu Palmiers Biographie bei. Wer Benjamin endlich (besser) kennenlernen möchte – hier ist die Gelegenheit dazu. THOMAS MEYER
JEAN-MICHEL PALMIER: Walter Benjamin. Leben und Werk. Vorwort v. Florent Perrier. Aus dem Französischen v. Horst Brühmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009. 1372 S., 64 Euro.
WALTER BENJAMIN: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Band 8: Einbahnstraße. Hrsg. v. Detlev Schöttker unter Mitarbeit v. Steffen Haug. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009. 610 Seiten, 34,80 Euro.
Gute Lesbarkeit wird hier erreicht, weil der Autor seine Zettelkästen im Griff hat
Wohltuend ist Palmiers Desinteresse an einer Feier des Intellektuellen Walter Benjamin
Ein Gegenstand verschiedener Heiligsprechungsverfahren: Walter Benjamin (1892–1940). Foto: Effigie/Bilderberg
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