Ein Mann, Exilrusse, versucht das wahre Leben seines Halbbruders, des Schriftstellers Sebastian Knight, zu rekonstruieren. Als er sich ans Werk macht, besitzt er nichts als ein paar Jugenderinnerungen, einige magere Informationen, eine intime Kenntnis der Knightschen Bücher - und sehr viel Bewunderung, Liebe und Enthusiasmus. Eine abenteuerliche literarische Detektivgeschichte nimmt ihren Anfang.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Zwei Springer auf einem Pferd
Berührt, geführt: Vladimir Nabokovs "Sebastian Knight" spielt Schach / Von Michael Maar
Jules Verne soll über ein Buch seines Kollegen Wells entrüstet ausgerufen haben: "Il invente!" Was hätte er erst zu Nabokov gesagt, der eine Biographie nicht nur erfand, sondern auch noch als "Das wahre Leben" ausgab? "The Real Life of Sebastian Knight", von Dieter E. Zimmer in revidierter Übersetzung neu herausgegeben, spielt mit allen Bluffs und Erfindungen, die dem Meister der Mimikry zu Gebote standen. Der gewöhnliche Leser liebt dieses Spiel, mögen sich Jules Verne auch die Haare im Grab sträuben. Der "Sebastian Knight" ist, wie nicht jeder Roman Nabokovs, spannend. Was ihn so zugänglich macht, ist seine Nähe zur Detektivgeschichte, die er parodiert, wie schon Chesterton sie im "Father Brown" parodierte - ein Autor, den Nabokov schätzte und über dessen Wirken hinter der Szene des "Knight" dies und das zu vermuten ist. Detektivisch wirkt die Anlage deshalb, weil zwar nicht ein Mörder, aber eine schöne Hexe gesucht wird und weil die Suche über die vielen falschen Fährten führt, die man vom Genre erwarten kann.
Der "Sebastian Knight" ist aber auch ein Künstlerroman und verfährt mit den Genres überhaupt wie die Wespenlarve mit dem paralysierten Engerling: Er verleibt sie sich ein, läßt sie ausgehöhlt zurück, und nach der Metamorphose überfliegt er sie. Auch im Vergleich mit Nabokovs größten Werken bleibt sein "Sebastian Knight" ein schöner, komplexer Roman; mit geringen Schwächen dort, wo Nabokov ein gewisses ungutes Etwas, ein leichtes Leoncavallo-Air auf seinen Autor Sebastian überträgt - Nabokov hat ein kleines Problem mit dem Motivkreis von Bettler, Zigeuner, Zauberer, Zirkus und traurigem Clown, das er bis zum Schluß nicht ganz los wird und das ein kluger Leser wie Cheever als das "Gezuckerte, Veilchenhafte" bei ihm empfand; mit einem Leitmotiv des "Sebastian Knight", wie Cheever vermutlich nicht wußte. In seiner Kunst der Komposition, den magischen Scharaden, bei denen wie bei Knight das Blendende in den Lücken liegt, die der Leser ausfüllen muß, ist Nabokov in seinem ersten englischen Roman ganz auf seinem Niveau, und das heißt auf dem Gipfel, auf den ihm so schnell keiner folgt.
Anders als die Studie über Gogol, die Nabokov mit dem Tod des Helden beginnen läßt, beginnt der "Sebastian Knight" ordentlich mit dessen Geburt. Sie findet an einem schönen windstillen Morgen statt, wie der Erzähler dem Tagebuch einer Frau entnimmt, die täglich das Petersburger Wetter protokolliert hat und ungenannt bleiben will, deren Namen der Erzähler eine halbe Seite später aber dann doch verrät. So anonym, wie die Wetterfrau es bleiben wollte, bleibt auch er selbst, Sebastians Halbbruder, der sich nur V. abkürzt; bis ganz am Schluß auch bei ihm das Inkognito gelüftet und seine Identität mit dem Schriftsteller verraten wird, der sich sterbend in den Russen "Sevastian" rückverwandelt, von dem sich V. das Kürzel geborgt haben kann. Vielleicht hat er es auch von seinem Autor Vladimir, der auf die Anfrage, was das V. abkürze - etwa das, was jeder zuerst denke -, erklärt hatte, es stehe für "Viktor" - was die Frage nur in eine neue Schleife schickt, weil eben "Viktor", wie man den "Selected Letters" entnehmen kann, ein privater Scherzname des dementierenden Vladimir war.
Was Nabokov wohl unbestritten gelassen hätte, sind die Ähnlichkeiten und Symmetrien zwischen seinem Genie und dem des erdachten Knight. Und wie V. es von Sebastian sagt, fällt es auch bei ihm schwer zu begreifen, "wie ein Mann, der von Gefühlen schreibt, die ihn zur Zeit der Niederschrift selber bewegen, über die Kraft verfügen konnte, zur gleichen Zeit - und aus ebenden Dingen, die ihn bedrückten - eine erfundene und leicht absurde Figur zu machen". Genau das ist das Thema im "Knight", den Nabokov im Januar 1939 unter größtem äußeren und inneren Druck nach nur zwei Monaten Schreibzeit beendete: die Spiegelung des Lebens im Imaginären. In der Mitte der Spiegelachse bleibt das Rätsel, das Unsichtbare - das achte der fünfzehn Bücher auf dem Bücherbord Sebastian Knights, die Mitte der Bibliothek, ist "The Invisible Man". Das zielt nicht nur auf Sebastian, sondern auch auf V., der sich "aus irgendeinem unbekannten Grund", also einem wichtigen, vor den Spiegel stellt, als er vom sterbenden "Sevastian" liest. Er ist nicht komplett ohne die Spiegelhälfte und umgekehrt - Sebastian stirbt mit sechsunddreißig Jahren, nach biblischer Auskunft wird der Mensch siebzig; er ist ein halber Mann und erst zusammen mit V. der ganze.
Allen Demutstopoi zum Trotz ist dieser V. nicht nur der bescheidene Bruder, der sein Leben dem fremden Genie verschreibt. Vielleicht ist V. sogar die abgründigere Figur als die des offiziell abgründigen Knight. Aber er ist der Erzähler; wir müssen aus seinen Augen sehen, und auch wenn wir uns verrenken, um aus den Winkeln zu schielen, erfahren wir nur schwer etwas über das, was hinter seinem Rücken passiert. Wie sollen wir erkennen, was jenseits des Horizontes liegt, den wir zwangsläufig mit ihm teilen? Das ist die Problemstellung, der Nabokov so viel Reiz und Größe abgewann, in "Pnin", "Lolita", "Pale Fire" und auch im "Sebastian Knight": Er muß das Wahre und das Falsche zugleich erzählen, durch den Mund eines Ich, das sich selbst verdächtig macht.
V. scheint ein netter aufrechter Kerl; erst ganz allmählich kommt man dahinter, daß er vielleicht auch ein falscher Knochen ist. Im großen Finale wird er zum Sterbebett Knights gerufen und erreicht ihn zu spät. Aber nicht das Schicksal ist daran schuld, sondern unter anderem sein Geiz: Er hätte das Flugzeug nehmen können, nimmt aber den Zug, weil er immer das billigste Mittel wählt. Dieser Geiz könnte sogar ein Mikro-Indiz dafür sein, daß er den Halbbruder überhaupt nur erfindet. (Eine der möglichen sechs oder sieben Lesarten.) Er müßte dann auch die Proben erfinden, die er von Sebastians Romanen gibt, und darein würden ihm gelegentlich Gedanken rutschen, die viel besser zu ihm als zu dem Bild Sebastians passen. Eine dieser möglicherweise verräterischen Stellen findet sich in dem Roman, in dem Sebastian die Trennung von seiner treuen Gefährtin Clare Bishop verarbeitet (deren Vornamen man spiegeln muß, um das Urbild der Vera zu erkennen).
Er verläßt sie, weil er in den Bann einer andern gerät, die ihn unglücklich machen wird, und schreibt einen seinem Helden unterschobenen Abschiedsbrief voller großer und schöner Worte, die auch Nabokov selbst hätte benutzen können, wenn er in ähnlicher Lage gewesen wäre (was er war, wie der Leser, der die Biographie Brian Boyds nicht kennt, durch Zimmers wie immer vorzüglichen Kommentar erfährt). Eines aber hatten weder Nabokov noch der Sebastian Knight, wie V. ihn sonst schildert, an den Schluß dieses Briefes gesetzt: "Ich glaube, Du hast noch ein oder zwei Bücher von mir - aber das ist nicht wirklich von Bedeutung." Paßt diese Mahnung, die alle Wirkung des Briefs zerstört, nicht gut zu einem Erzähler, der auch im dramatischsten Moment noch an die Fahrtkosten denkt?
Vielleicht ist V. ein Geizer, vielleicht ist er ein Heuchler. Vielleicht ist er noch Schlimmeres. Die Motivreihe, die diesen Verdacht weckt und V. als Handlanger von Madame Lamort erscheinen läßt, beginnt ganz harmlos mit einem Schnupfen. Als V. Clare Bishop in Paris kennenlernt, ist sie heiser und schwer erkältet. Nach Sebastians Tod drängt es V. danach, Clare zu sprechen und über Sebastian auszuhorchen. Er sucht sie in ihrer neuen Wohnung auf, wo Clare mit einem Mann verheiratet lebt, der zufällig wie sie "Bishop" heißt. Mr. Bishop lehnt es aber ab, V. vorzulassen; seine Frau wünscht keinen Kontakt mehr mit der Vergangenheit. V. bemerkt, daß Bishop schwer erkältet ist, und der unsinnige Gedanke schießt ihm durch den Kopf, ob der Gatte sich nicht von der rotnasigen, verschnupften Clare, wie er sie vor zwölf Jahren in Paris kennenlernte, angesteckt habe. Er hält sich dann nicht an Bishops Verbot und versucht, Clare auf der Straße abzupassen; sein Buch ist ihm wichtiger als die Pietät. Im letzten Moment aber sieht er, daß Clare hochschwanger ist, zuckt zurück und drückt ihr geistesgegenwärtig, weil er schon auf ihre Straßenseite gewechselt hat, einen rasch aus der Tasche gezogenen Gegenstand in die Hand: ob sie das da verloren hätte? Die kurzsichtige Clare berührt ihn kurz, verneint und stirbt wenige Wochen danach im Kindbett. V. fragt sich und den Leser: Warum mußte die Arme sterben? Die Antwort hat Nabokov mit dem Schnupfen vorbereitet, der über die Jahre hinweg ansteckt. Was V. aus der Tasche geangelt hat, kam aus der Vergangenheit, vor der Clare sich vergeblich zu schützen versucht: es war der Wohnungsschlüssel Sebastian Knights, "den sie mit ihren unschuldigen, blinden Fingern berührt hatte . . ." Auch ohne die drei Pünktchen verstünde man: der Geliebte reißt sie ins Grab, die Vergangenheit übt magischen Zwang, der Kontakt wirkt tödlich - nicht anders als bei Sebastians letzter Geliebten, durch deren Berührung die Blumen verdorren, die Männer verderben und selbst die Blondschöpfe der Bediensteten vorzeitig graue Strähnen ausbilden.
Das Motiv des Doppelschnupfens ist typisch für die Kunst Nabokovs: einerseits hübsch ganz für sich, andererseits wichtig für die realistische Lesart (es macht es etwas wahrscheinlicher, daß die arme Clare sterben muß, wenn sie schon immer blaß und kränklich war), dritterseits ein verschwiegener Diener seines Herrn, des großen Themas Zauber und Zwang der Vergangenheit; des Zwangs, der auch Sebastian Knight an seine früh verstorbene Mutter bindet und ihn die Vergangenheit wie fern- oder jenseitsgelenkt wiederholen läßt. Noch Sebastians letzte Geliebte, für die er Clare verläßt, ein Vampirwesen aus dem Geschlecht der Lamien, die ihre männlichen Opfer durch Liebreiz anlocken und ihnen das Blut aussaugen - "sie hat mich ausgesaugt, in mehr als einer Beziehung", sagt ihr erstes Opfer von ihr -, noch diese letzte gnadenlose Dame ist mit ihren veilchenfarbenen Augenlidern eine Wiedergängerin der früh verstorbenen Mutter, von der Sebastian eine Dose kandierter Veilchen als Reliquie bewahrt.
Es ist nicht V., von dem wir die Geschichten dieser Seelenzwänge erfahren. Es sind die Motivketten, durch deren Einfädelung der stumme Autor das Problem löst, an dem Ich-Erzähler vorbei zu erzählen. V. ahnt nichts von Veilchen- oder Schnupfenzwang und ist blind für die Muster, die der Autor ihm auslegt. Wenn er erzählt, der jugendliche Sebastian habe mit dem Bild des "Knight", dem Springer, signiert, weiß er doch nicht, daß er sich selbst in einer von Vladimir komponierten Partie bewegt. Sonst hätte er nicht die Frage gestellt, warum Clare Bishop sterben mußte. Warum wohl hieß ihr Mann ebenfalls Bishop?
Die beiden sind ein Läuferpaar, und das kann im Endspiel unangenehm werden, weshalb es selten so lange überlebt. V. kann nach der Berührung nichts mehr zurücknehmen - berührt, geführt: V. führt den Knight zu Bishop, der Springer sprengt das Läuferpaar, wie jeder Schachspieler es getan hätte, und Clare muß zurück ins Kästchen - auf diese Deutung hat Nabokov bis zu Knights Ende auf dem "damier" mit so vielen Zügen vorbereitet, daß man seinen Freund Wilson verstehen kann, der den ganzen Roman als Schachpartie las.
Vor allem in der Führung der Hauptintrige hat der "Knight" das Charakteristische des Springers, der sein Ziel nicht direkt ansteuern kann, sondern erst in die falsche Richtung muß und dann plötzlich zur Seite schwenkt. In der zweiten Hälfte des Romans sucht V. Sebastians ominöse letzte Geliebte, die aussaugende Hexe; er hat eine Liste der drei möglichen Kandidatinnen und hakt sie nun der Reihe nach ab. Der finale Kniff dieser Intrige, einer der elegantesten in Nabokovs Gesamtwerk, ähnelt dem Vorrücken der Nebenfigur, die sich auf der Grundlinie in die Dame verwandelt, die Dame sans Merci, der V. nur um ein Haar entkommt. Ein kleiner Zug, und die unwichtige Nebenfigur B. erweist sich als die lange erwartete Hauptfigur A. Es ist ein Trick, den Nabokov aber nicht nur in der Schachliteratur fand.
Sein Knight ist nicht nur Springer, er ist auch Ritter und pfeildurchbohrter Heiliger - der heilige Sebastian, von dem auch die "Father Brown"-Geschichte "The Arrow of Heaven" handelt, die wie so viele andere den Chestertonschen Spezialtrick vorführt, das plötzliche Identischwerden zweier bis dahin separater Figuren. Mit ihm endet nicht nur Nabokovs Suchintrige, sondern "The Real Life of Sebastian Knight": Offenbar waren die beiden immer eins, V. war Sebastian, Sebastian war V.; offenbar also saßen, wie Chesterton sagt, "two knights on one horse".
Der Satz fällt in Chestertons Biographie eines Heiligen, der ein geheimes Doppelleben führt. Sein wahres Leben ist das spirituelle. Sebastians wahres Leben ist das in der Kunst. Der Unterschied ist nicht so gewaltig, und er wird ganz winzig, wenn man die Kuppel sieht, die beide überwölbt. Chestertons Kapitel über das Doppelleben seines Heiligen trägt die Überschrift "The Real Life of St. Thomas". Nabokov war findig und wußte, aus welchen Krimis sich etwas lernen ließ. Jules Verne hätte ausgerufen: "Il vole!"
Vladimir Nabokov: "Das wahre Leben des Sebastian Knight". Gesammelte Werke Band VI. Aus dem Englischen übersetzt von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996. 299 S., geb., 42,- DM.
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Berührt, geführt: Vladimir Nabokovs "Sebastian Knight" spielt Schach / Von Michael Maar
Jules Verne soll über ein Buch seines Kollegen Wells entrüstet ausgerufen haben: "Il invente!" Was hätte er erst zu Nabokov gesagt, der eine Biographie nicht nur erfand, sondern auch noch als "Das wahre Leben" ausgab? "The Real Life of Sebastian Knight", von Dieter E. Zimmer in revidierter Übersetzung neu herausgegeben, spielt mit allen Bluffs und Erfindungen, die dem Meister der Mimikry zu Gebote standen. Der gewöhnliche Leser liebt dieses Spiel, mögen sich Jules Verne auch die Haare im Grab sträuben. Der "Sebastian Knight" ist, wie nicht jeder Roman Nabokovs, spannend. Was ihn so zugänglich macht, ist seine Nähe zur Detektivgeschichte, die er parodiert, wie schon Chesterton sie im "Father Brown" parodierte - ein Autor, den Nabokov schätzte und über dessen Wirken hinter der Szene des "Knight" dies und das zu vermuten ist. Detektivisch wirkt die Anlage deshalb, weil zwar nicht ein Mörder, aber eine schöne Hexe gesucht wird und weil die Suche über die vielen falschen Fährten führt, die man vom Genre erwarten kann.
Der "Sebastian Knight" ist aber auch ein Künstlerroman und verfährt mit den Genres überhaupt wie die Wespenlarve mit dem paralysierten Engerling: Er verleibt sie sich ein, läßt sie ausgehöhlt zurück, und nach der Metamorphose überfliegt er sie. Auch im Vergleich mit Nabokovs größten Werken bleibt sein "Sebastian Knight" ein schöner, komplexer Roman; mit geringen Schwächen dort, wo Nabokov ein gewisses ungutes Etwas, ein leichtes Leoncavallo-Air auf seinen Autor Sebastian überträgt - Nabokov hat ein kleines Problem mit dem Motivkreis von Bettler, Zigeuner, Zauberer, Zirkus und traurigem Clown, das er bis zum Schluß nicht ganz los wird und das ein kluger Leser wie Cheever als das "Gezuckerte, Veilchenhafte" bei ihm empfand; mit einem Leitmotiv des "Sebastian Knight", wie Cheever vermutlich nicht wußte. In seiner Kunst der Komposition, den magischen Scharaden, bei denen wie bei Knight das Blendende in den Lücken liegt, die der Leser ausfüllen muß, ist Nabokov in seinem ersten englischen Roman ganz auf seinem Niveau, und das heißt auf dem Gipfel, auf den ihm so schnell keiner folgt.
Anders als die Studie über Gogol, die Nabokov mit dem Tod des Helden beginnen läßt, beginnt der "Sebastian Knight" ordentlich mit dessen Geburt. Sie findet an einem schönen windstillen Morgen statt, wie der Erzähler dem Tagebuch einer Frau entnimmt, die täglich das Petersburger Wetter protokolliert hat und ungenannt bleiben will, deren Namen der Erzähler eine halbe Seite später aber dann doch verrät. So anonym, wie die Wetterfrau es bleiben wollte, bleibt auch er selbst, Sebastians Halbbruder, der sich nur V. abkürzt; bis ganz am Schluß auch bei ihm das Inkognito gelüftet und seine Identität mit dem Schriftsteller verraten wird, der sich sterbend in den Russen "Sevastian" rückverwandelt, von dem sich V. das Kürzel geborgt haben kann. Vielleicht hat er es auch von seinem Autor Vladimir, der auf die Anfrage, was das V. abkürze - etwa das, was jeder zuerst denke -, erklärt hatte, es stehe für "Viktor" - was die Frage nur in eine neue Schleife schickt, weil eben "Viktor", wie man den "Selected Letters" entnehmen kann, ein privater Scherzname des dementierenden Vladimir war.
Was Nabokov wohl unbestritten gelassen hätte, sind die Ähnlichkeiten und Symmetrien zwischen seinem Genie und dem des erdachten Knight. Und wie V. es von Sebastian sagt, fällt es auch bei ihm schwer zu begreifen, "wie ein Mann, der von Gefühlen schreibt, die ihn zur Zeit der Niederschrift selber bewegen, über die Kraft verfügen konnte, zur gleichen Zeit - und aus ebenden Dingen, die ihn bedrückten - eine erfundene und leicht absurde Figur zu machen". Genau das ist das Thema im "Knight", den Nabokov im Januar 1939 unter größtem äußeren und inneren Druck nach nur zwei Monaten Schreibzeit beendete: die Spiegelung des Lebens im Imaginären. In der Mitte der Spiegelachse bleibt das Rätsel, das Unsichtbare - das achte der fünfzehn Bücher auf dem Bücherbord Sebastian Knights, die Mitte der Bibliothek, ist "The Invisible Man". Das zielt nicht nur auf Sebastian, sondern auch auf V., der sich "aus irgendeinem unbekannten Grund", also einem wichtigen, vor den Spiegel stellt, als er vom sterbenden "Sevastian" liest. Er ist nicht komplett ohne die Spiegelhälfte und umgekehrt - Sebastian stirbt mit sechsunddreißig Jahren, nach biblischer Auskunft wird der Mensch siebzig; er ist ein halber Mann und erst zusammen mit V. der ganze.
Allen Demutstopoi zum Trotz ist dieser V. nicht nur der bescheidene Bruder, der sein Leben dem fremden Genie verschreibt. Vielleicht ist V. sogar die abgründigere Figur als die des offiziell abgründigen Knight. Aber er ist der Erzähler; wir müssen aus seinen Augen sehen, und auch wenn wir uns verrenken, um aus den Winkeln zu schielen, erfahren wir nur schwer etwas über das, was hinter seinem Rücken passiert. Wie sollen wir erkennen, was jenseits des Horizontes liegt, den wir zwangsläufig mit ihm teilen? Das ist die Problemstellung, der Nabokov so viel Reiz und Größe abgewann, in "Pnin", "Lolita", "Pale Fire" und auch im "Sebastian Knight": Er muß das Wahre und das Falsche zugleich erzählen, durch den Mund eines Ich, das sich selbst verdächtig macht.
V. scheint ein netter aufrechter Kerl; erst ganz allmählich kommt man dahinter, daß er vielleicht auch ein falscher Knochen ist. Im großen Finale wird er zum Sterbebett Knights gerufen und erreicht ihn zu spät. Aber nicht das Schicksal ist daran schuld, sondern unter anderem sein Geiz: Er hätte das Flugzeug nehmen können, nimmt aber den Zug, weil er immer das billigste Mittel wählt. Dieser Geiz könnte sogar ein Mikro-Indiz dafür sein, daß er den Halbbruder überhaupt nur erfindet. (Eine der möglichen sechs oder sieben Lesarten.) Er müßte dann auch die Proben erfinden, die er von Sebastians Romanen gibt, und darein würden ihm gelegentlich Gedanken rutschen, die viel besser zu ihm als zu dem Bild Sebastians passen. Eine dieser möglicherweise verräterischen Stellen findet sich in dem Roman, in dem Sebastian die Trennung von seiner treuen Gefährtin Clare Bishop verarbeitet (deren Vornamen man spiegeln muß, um das Urbild der Vera zu erkennen).
Er verläßt sie, weil er in den Bann einer andern gerät, die ihn unglücklich machen wird, und schreibt einen seinem Helden unterschobenen Abschiedsbrief voller großer und schöner Worte, die auch Nabokov selbst hätte benutzen können, wenn er in ähnlicher Lage gewesen wäre (was er war, wie der Leser, der die Biographie Brian Boyds nicht kennt, durch Zimmers wie immer vorzüglichen Kommentar erfährt). Eines aber hatten weder Nabokov noch der Sebastian Knight, wie V. ihn sonst schildert, an den Schluß dieses Briefes gesetzt: "Ich glaube, Du hast noch ein oder zwei Bücher von mir - aber das ist nicht wirklich von Bedeutung." Paßt diese Mahnung, die alle Wirkung des Briefs zerstört, nicht gut zu einem Erzähler, der auch im dramatischsten Moment noch an die Fahrtkosten denkt?
Vielleicht ist V. ein Geizer, vielleicht ist er ein Heuchler. Vielleicht ist er noch Schlimmeres. Die Motivreihe, die diesen Verdacht weckt und V. als Handlanger von Madame Lamort erscheinen läßt, beginnt ganz harmlos mit einem Schnupfen. Als V. Clare Bishop in Paris kennenlernt, ist sie heiser und schwer erkältet. Nach Sebastians Tod drängt es V. danach, Clare zu sprechen und über Sebastian auszuhorchen. Er sucht sie in ihrer neuen Wohnung auf, wo Clare mit einem Mann verheiratet lebt, der zufällig wie sie "Bishop" heißt. Mr. Bishop lehnt es aber ab, V. vorzulassen; seine Frau wünscht keinen Kontakt mehr mit der Vergangenheit. V. bemerkt, daß Bishop schwer erkältet ist, und der unsinnige Gedanke schießt ihm durch den Kopf, ob der Gatte sich nicht von der rotnasigen, verschnupften Clare, wie er sie vor zwölf Jahren in Paris kennenlernte, angesteckt habe. Er hält sich dann nicht an Bishops Verbot und versucht, Clare auf der Straße abzupassen; sein Buch ist ihm wichtiger als die Pietät. Im letzten Moment aber sieht er, daß Clare hochschwanger ist, zuckt zurück und drückt ihr geistesgegenwärtig, weil er schon auf ihre Straßenseite gewechselt hat, einen rasch aus der Tasche gezogenen Gegenstand in die Hand: ob sie das da verloren hätte? Die kurzsichtige Clare berührt ihn kurz, verneint und stirbt wenige Wochen danach im Kindbett. V. fragt sich und den Leser: Warum mußte die Arme sterben? Die Antwort hat Nabokov mit dem Schnupfen vorbereitet, der über die Jahre hinweg ansteckt. Was V. aus der Tasche geangelt hat, kam aus der Vergangenheit, vor der Clare sich vergeblich zu schützen versucht: es war der Wohnungsschlüssel Sebastian Knights, "den sie mit ihren unschuldigen, blinden Fingern berührt hatte . . ." Auch ohne die drei Pünktchen verstünde man: der Geliebte reißt sie ins Grab, die Vergangenheit übt magischen Zwang, der Kontakt wirkt tödlich - nicht anders als bei Sebastians letzter Geliebten, durch deren Berührung die Blumen verdorren, die Männer verderben und selbst die Blondschöpfe der Bediensteten vorzeitig graue Strähnen ausbilden.
Das Motiv des Doppelschnupfens ist typisch für die Kunst Nabokovs: einerseits hübsch ganz für sich, andererseits wichtig für die realistische Lesart (es macht es etwas wahrscheinlicher, daß die arme Clare sterben muß, wenn sie schon immer blaß und kränklich war), dritterseits ein verschwiegener Diener seines Herrn, des großen Themas Zauber und Zwang der Vergangenheit; des Zwangs, der auch Sebastian Knight an seine früh verstorbene Mutter bindet und ihn die Vergangenheit wie fern- oder jenseitsgelenkt wiederholen läßt. Noch Sebastians letzte Geliebte, für die er Clare verläßt, ein Vampirwesen aus dem Geschlecht der Lamien, die ihre männlichen Opfer durch Liebreiz anlocken und ihnen das Blut aussaugen - "sie hat mich ausgesaugt, in mehr als einer Beziehung", sagt ihr erstes Opfer von ihr -, noch diese letzte gnadenlose Dame ist mit ihren veilchenfarbenen Augenlidern eine Wiedergängerin der früh verstorbenen Mutter, von der Sebastian eine Dose kandierter Veilchen als Reliquie bewahrt.
Es ist nicht V., von dem wir die Geschichten dieser Seelenzwänge erfahren. Es sind die Motivketten, durch deren Einfädelung der stumme Autor das Problem löst, an dem Ich-Erzähler vorbei zu erzählen. V. ahnt nichts von Veilchen- oder Schnupfenzwang und ist blind für die Muster, die der Autor ihm auslegt. Wenn er erzählt, der jugendliche Sebastian habe mit dem Bild des "Knight", dem Springer, signiert, weiß er doch nicht, daß er sich selbst in einer von Vladimir komponierten Partie bewegt. Sonst hätte er nicht die Frage gestellt, warum Clare Bishop sterben mußte. Warum wohl hieß ihr Mann ebenfalls Bishop?
Die beiden sind ein Läuferpaar, und das kann im Endspiel unangenehm werden, weshalb es selten so lange überlebt. V. kann nach der Berührung nichts mehr zurücknehmen - berührt, geführt: V. führt den Knight zu Bishop, der Springer sprengt das Läuferpaar, wie jeder Schachspieler es getan hätte, und Clare muß zurück ins Kästchen - auf diese Deutung hat Nabokov bis zu Knights Ende auf dem "damier" mit so vielen Zügen vorbereitet, daß man seinen Freund Wilson verstehen kann, der den ganzen Roman als Schachpartie las.
Vor allem in der Führung der Hauptintrige hat der "Knight" das Charakteristische des Springers, der sein Ziel nicht direkt ansteuern kann, sondern erst in die falsche Richtung muß und dann plötzlich zur Seite schwenkt. In der zweiten Hälfte des Romans sucht V. Sebastians ominöse letzte Geliebte, die aussaugende Hexe; er hat eine Liste der drei möglichen Kandidatinnen und hakt sie nun der Reihe nach ab. Der finale Kniff dieser Intrige, einer der elegantesten in Nabokovs Gesamtwerk, ähnelt dem Vorrücken der Nebenfigur, die sich auf der Grundlinie in die Dame verwandelt, die Dame sans Merci, der V. nur um ein Haar entkommt. Ein kleiner Zug, und die unwichtige Nebenfigur B. erweist sich als die lange erwartete Hauptfigur A. Es ist ein Trick, den Nabokov aber nicht nur in der Schachliteratur fand.
Sein Knight ist nicht nur Springer, er ist auch Ritter und pfeildurchbohrter Heiliger - der heilige Sebastian, von dem auch die "Father Brown"-Geschichte "The Arrow of Heaven" handelt, die wie so viele andere den Chestertonschen Spezialtrick vorführt, das plötzliche Identischwerden zweier bis dahin separater Figuren. Mit ihm endet nicht nur Nabokovs Suchintrige, sondern "The Real Life of Sebastian Knight": Offenbar waren die beiden immer eins, V. war Sebastian, Sebastian war V.; offenbar also saßen, wie Chesterton sagt, "two knights on one horse".
Der Satz fällt in Chestertons Biographie eines Heiligen, der ein geheimes Doppelleben führt. Sein wahres Leben ist das spirituelle. Sebastians wahres Leben ist das in der Kunst. Der Unterschied ist nicht so gewaltig, und er wird ganz winzig, wenn man die Kuppel sieht, die beide überwölbt. Chestertons Kapitel über das Doppelleben seines Heiligen trägt die Überschrift "The Real Life of St. Thomas". Nabokov war findig und wußte, aus welchen Krimis sich etwas lernen ließ. Jules Verne hätte ausgerufen: "Il vole!"
Vladimir Nabokov: "Das wahre Leben des Sebastian Knight". Gesammelte Werke Band VI. Aus dem Englischen übersetzt von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996. 299 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main