Zum Autor:
Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in Sankt Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.
Zum Herausgeber:
Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, von 1955 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit». Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u. a. Nabokov, Joyce, Borges).
Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.
Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in Sankt Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.
Zum Herausgeber:
Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, von 1955 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit». Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u. a. Nabokov, Joyce, Borges).
Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Man sollte von Vladimir Nabokovs "Vorlesungen über die russische Literatur" keine tiefsinnigen, literaturwissenschaftlichen Überlegungen eines literarischen Genies erwarten, warnt Dirk Pilz. Offensichtlich nahm Nabokov seine Vorträge, die er hauptsächlich aus Geldnot anbot, nicht sonderlich ernst, meint der Rezensent, es bleibt bei relativ oberflächlichen Analysen, ein paar biografischen Eckdaten und vor allem: rauen Verrissen. Denn Nabokov lässt kaum ein gutes Haar an den russischen Literaten, so Pilz. Gogols Realismus erscheint ihm naiv, Dostojewski unterstellt er "melodramatische Sentimentalität" und, natürlich ebenfalls naiven, Idealismus, erklärt der Rezensent. Einzig den Stil lobt Nabokov hier und da, das ist das höchste der Gefühle - in erster Linie lässt sich aus diesen Vorlesungen etwas über Nabokov selbst lernen und über die "Wettkämpf in der Literaturarena", meint Pilz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.04.2014Licht und Schatten zu Füßen von Bäumen
Lob des Stils, Kult des Details: Vladimir Nabokovs „Vorlesungen über russische Literatur“ in einer neuen, reichhaltigeren Ausgabe
Ebenso berühmt wie die Bilder, in denen Vladimir Nabokov auf Schmetterlingsjagd geht, sind die Anekdoten, in denen er als Dozent in Amerika auf die Jagd nach den Details in den großen Werken der Weltliteratur geht. Den Kollegen, der gerade einen Kurs über Shakespeare machte, fragt er nach den Namen der drei Hunde des Königs Lear, und in seinen Semesterklausuren hatten die Studenten nur dann eine Chance, wenn sie zumindest einige Gegenstände aus der Handtasche Anna Kareninas aufzählen und Emma Bovarys Augen, Hände, Sonnenschirm, Frisur, Kleid und Schuhe beschreiben konnten. Der schlechte Leser, lehrte Nabokov, identifiziert sich mit den Figuren der Romane, lässt sich von ihren Ideen oder denen des Autors blenden. Der gute Leser achtet auf die Bilder, den Stil und die Struktur eines Textes und kommt so dem Autor auf die Schliche. Der beste Leser war unzweifelhaft Vladimir Nabokov selbst, der Professor, aus dem der mit allen literarischen Wassern gewaschene Autor sprach. Soweit die Mythologie. Und nun zur Frage, was es mit dem Kult der Details auf sich hat.
Kaum war Nabokov 1940 in Amerika angekommen, hatte er begonnen, Vorlesungsmanuskripte zu erarbeiten. Im Herbst 1941 erhielt er eine feste Anstellung am Wellesley College an der Ostküste. 1948 wurde er außerordentlicher Professor an der Cornell University, bis zum Welterfolg seines Romans „Lolita“ (1958) war er auf diese Unterrichtstätigkeit als Einnahmequelle angewiesen. Dass bis Anfang 1959, als er die Universität verließ, die Zahl seiner Studenten stetig angewachsen war, verdankte er seinem Kurs 311-312, „Masters of European Fiction“, in dem er Jane Austen, Flaubert, Robert Louis Stevenson, Proust, Kafka, Joyce und Thomas Mann behandelte. Auch über Puschkin, Gogol, Tolstoi und Tschechow hatte er anfangs in diesem Kurs gesprochen, ab 1952 aber einen eigenständigen Kurs 325-326 „Russische Literatur in englischer Übersetzung“ angeboten. Nabokov selbst, der 1977 starb, hat seine Vorlesungen nicht publiziert. Aus dem Nachlass stellte der Philologe Fredson Bowers 1980 und 1981 zwei Bände – einen zur europäischen und einen zur russischen Literatur – zusammen, die 1984 auch auf deutsch erschienen, jeweils unter dem Titel „Die Kunst des Lesens“. Im Rahmen der großen Nabokov-Werkausgabe hat nun deren Herausgeber Dieter E. Zimmer für das deutsche Publikum eine revidierte und neu übersetzte Ausgabe der „Vorlesungen über russische Literatur“ herausgebracht.
Zimmer erläutert nicht nur die unübersichtliche Überlieferungsgeschichte der Manuskripte, er korrigiert auch zahlreiche editorische Entscheidungen der amerikanischen Ausgabe. So hatte Bowers Passagen aus Nabokovs Buch „Nikolaj Gogol“ (1944) abgedruckt, das in der deutschen Werkausgabe seit 1990 vorliegt. Sie sind hier durch vier bisher unpublizierte Vorlesungsmanuskripte über Gogol ersetzt. Auch die drei Vorlesungen über Michail Lermontow waren bisher unveröffentlicht. So ist diese deutsche Ausgabe reichhaltiger als die amerikanische und deren damaliges deutsches Pendant. Sie ist eine willkommene Gelegenheit zur Wiederbegegnung mit dem Literaturkritiker Nabokov.
Das Lob des Stils und des Elfenbeinturms, die Abdichtung der nur sich selbst verpflichteten Kunst gegen ihre Indienstnahme aus der Perspektive des Historikers oder des Soziologen kann man auch in der Vorlesung über „Madame Bovary“ finden, aber in den „Vorlesungen über russische Literatur“ kommt etwas anderes hinzu. Hier spricht aus dem Literaturkritiker unüberhörbar der von der Oktoberrevolution aus der Heimat vertriebene Exilant, der seinen amerikanischen Studenten die russische Prosa-Literatur bis 1917 als ein untergegangenes Großreich vorstellt, an dessen Stelle die Dürre des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion getreten ist. Nabokovs Grundformel, „dass Literatur kein Muster aus Ideen, sondern aus Bildern ist“, gibt hier ihre polemische Grundrichtung zu erkennen. Sie bringt nicht nur die luziden Kommentare zu den Wahrnehmungsdetails und zur Zeitstruktur in „Anna Karenina“ hervor, die physiognomischen Beobachtungen zum „frischen“ Stil in Lermontows Roman „Ein Held dieser Zeit“, zu den Passagen der „Toten Seelen“, in denen Gogol „das hin und her huschende Muster von Licht und Schatten zu Füßen von Bäumen oder die Farbspiele bemerkt hat, die das Sonnenlicht mit dem Blattwerk veranstaltet“. Nabokovs Kult der Details bringt auch die Aversion gegen Figuren hervor, deren Gedanken ausführlicher beschrieben werden als ihre Kleidung, die sich den Maßstäben nicht fügen, die er im Blick auf Flaubert und Tolstoi gesetzt hat. Im Zentrum dieser Aversion steht wie in zahllosen Nabokov-Anekdoten auch in diesen Vorlesungen Fjodor Dostojewski. Er ist nicht lediglich einer der vielen Autoren von Cervantes über Balzac und Henry James bis zu Pasternak, Thomas Mann und William Faulkner, die Nabokov gern mit Invektiven bedacht hat. Dostojewski ist bei Nabokov der Vorschein der totalitären politischen Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts, mit ihm beginnt „das ideologische Gift“ die russische Literatur zu zersetzen. Kaum ist das Verdikt über ihn gesprochen, er sei trotz seiner slawophilen Obsessionen über die Nachahmung westlicher Modelle wie des Schauerromans, des empfindsamen Romans und des Kriminalromans nie hinausgekommen und seine Tendenz zur „melodramatischen Sentimentalität“ habe ihn zum Autor ohne Stil werden lassen, folgen die Sätze: „Stalin liebte Babys. Lenin schluchzte in der Oper, vor allem bei La Traviata.“ Nabokov-Leser sind in der Regel Nabokov-Bewunderer. Darum wird nur selten erörtert, warum der Literaturkritiker Nabokov sein wichtigstes Instrument so selektiv handhabt. Dieses Instrument war der Stellenkommentar, das „close reading“ der „himmlischen Details“. Es entsprach perfekt seiner Literaturauffassung. Brillant ist Nabokov, wenn er mit diesem Instrument seine Helden erörtert, Puschkin und seinen „Eugen Onegin“, Gogol, Tolstoi und Tschechow. Allenfalls eine Schwundstufe seiner Aufmerksamkeit auf das Detail lässt er Dostojewski zukommen, von dem er allenfalls das frühe Werk „Der Doppelgänger“ halbwegs gelten lassen kann – und das ist ein „Imitat“ Gogols. „Bei Dostojewski finden wir Allgemeinheiten statt spezifischer Charakterzüge“ heißt es in der Vorlesung über die „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“. Eine intensive Suche nach Details kann diesem Satz nicht zugrundeliegen, nur findet man sie in den Romanen Dostojewskis eher in den Gesten, Bewusstseinszuständen und wechselnden Färbungen fiebriger Halluzinationen. Nabokov begnügt sich hier aber mit eher kursorischen Lektüren oder hält sich das „Pathologische“ durch resolute Anwendung von Kategorien aus dem psychiatrischen Lehrbuch vom Hals. So werden seine Studenten sich, wenn sie sich von der Dostojewski-Lektüre nicht abhalten ließen, gewundert haben, was alles in dem Wort „Kristallpalast“ steckt, und dass sowohl vom „Doppelgänger“, der sich wie ein Käfer fühlt, wie vom Mann im Kellerloch, der von seinem Wunsch berichtet, ein Insekt zu werden, gewisse Verbindungslinien zu Gregor Samsa in der Erzählung „Die Verwandlung“ des Dostojewski-Lesers Kafka führen, die ihr Lehrer Nabokov allein mit Flaubert und Gogol in Verbindung gebracht hatte. Die Dostojewski-Verachtung Nabokovs kam stets sehr souverän daher. Sie markiert aber die Grenze seiner Literaturkritik, den Punkt, an dem die Polemik gegen die „Allgemeinbegriffe“ und der Kult des Details dogmatisch erstarren.
LOTHAR MÜLLER
Vladimir Nabokov: Vorlesungen über russische Literatur. Hrsg. von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 747 Seiten, 38 Euro.
Vladimir Nabokov (1899-1977).
Foto: Keystone/Getty Images
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Lob des Stils, Kult des Details: Vladimir Nabokovs „Vorlesungen über russische Literatur“ in einer neuen, reichhaltigeren Ausgabe
Ebenso berühmt wie die Bilder, in denen Vladimir Nabokov auf Schmetterlingsjagd geht, sind die Anekdoten, in denen er als Dozent in Amerika auf die Jagd nach den Details in den großen Werken der Weltliteratur geht. Den Kollegen, der gerade einen Kurs über Shakespeare machte, fragt er nach den Namen der drei Hunde des Königs Lear, und in seinen Semesterklausuren hatten die Studenten nur dann eine Chance, wenn sie zumindest einige Gegenstände aus der Handtasche Anna Kareninas aufzählen und Emma Bovarys Augen, Hände, Sonnenschirm, Frisur, Kleid und Schuhe beschreiben konnten. Der schlechte Leser, lehrte Nabokov, identifiziert sich mit den Figuren der Romane, lässt sich von ihren Ideen oder denen des Autors blenden. Der gute Leser achtet auf die Bilder, den Stil und die Struktur eines Textes und kommt so dem Autor auf die Schliche. Der beste Leser war unzweifelhaft Vladimir Nabokov selbst, der Professor, aus dem der mit allen literarischen Wassern gewaschene Autor sprach. Soweit die Mythologie. Und nun zur Frage, was es mit dem Kult der Details auf sich hat.
Kaum war Nabokov 1940 in Amerika angekommen, hatte er begonnen, Vorlesungsmanuskripte zu erarbeiten. Im Herbst 1941 erhielt er eine feste Anstellung am Wellesley College an der Ostküste. 1948 wurde er außerordentlicher Professor an der Cornell University, bis zum Welterfolg seines Romans „Lolita“ (1958) war er auf diese Unterrichtstätigkeit als Einnahmequelle angewiesen. Dass bis Anfang 1959, als er die Universität verließ, die Zahl seiner Studenten stetig angewachsen war, verdankte er seinem Kurs 311-312, „Masters of European Fiction“, in dem er Jane Austen, Flaubert, Robert Louis Stevenson, Proust, Kafka, Joyce und Thomas Mann behandelte. Auch über Puschkin, Gogol, Tolstoi und Tschechow hatte er anfangs in diesem Kurs gesprochen, ab 1952 aber einen eigenständigen Kurs 325-326 „Russische Literatur in englischer Übersetzung“ angeboten. Nabokov selbst, der 1977 starb, hat seine Vorlesungen nicht publiziert. Aus dem Nachlass stellte der Philologe Fredson Bowers 1980 und 1981 zwei Bände – einen zur europäischen und einen zur russischen Literatur – zusammen, die 1984 auch auf deutsch erschienen, jeweils unter dem Titel „Die Kunst des Lesens“. Im Rahmen der großen Nabokov-Werkausgabe hat nun deren Herausgeber Dieter E. Zimmer für das deutsche Publikum eine revidierte und neu übersetzte Ausgabe der „Vorlesungen über russische Literatur“ herausgebracht.
Zimmer erläutert nicht nur die unübersichtliche Überlieferungsgeschichte der Manuskripte, er korrigiert auch zahlreiche editorische Entscheidungen der amerikanischen Ausgabe. So hatte Bowers Passagen aus Nabokovs Buch „Nikolaj Gogol“ (1944) abgedruckt, das in der deutschen Werkausgabe seit 1990 vorliegt. Sie sind hier durch vier bisher unpublizierte Vorlesungsmanuskripte über Gogol ersetzt. Auch die drei Vorlesungen über Michail Lermontow waren bisher unveröffentlicht. So ist diese deutsche Ausgabe reichhaltiger als die amerikanische und deren damaliges deutsches Pendant. Sie ist eine willkommene Gelegenheit zur Wiederbegegnung mit dem Literaturkritiker Nabokov.
Das Lob des Stils und des Elfenbeinturms, die Abdichtung der nur sich selbst verpflichteten Kunst gegen ihre Indienstnahme aus der Perspektive des Historikers oder des Soziologen kann man auch in der Vorlesung über „Madame Bovary“ finden, aber in den „Vorlesungen über russische Literatur“ kommt etwas anderes hinzu. Hier spricht aus dem Literaturkritiker unüberhörbar der von der Oktoberrevolution aus der Heimat vertriebene Exilant, der seinen amerikanischen Studenten die russische Prosa-Literatur bis 1917 als ein untergegangenes Großreich vorstellt, an dessen Stelle die Dürre des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion getreten ist. Nabokovs Grundformel, „dass Literatur kein Muster aus Ideen, sondern aus Bildern ist“, gibt hier ihre polemische Grundrichtung zu erkennen. Sie bringt nicht nur die luziden Kommentare zu den Wahrnehmungsdetails und zur Zeitstruktur in „Anna Karenina“ hervor, die physiognomischen Beobachtungen zum „frischen“ Stil in Lermontows Roman „Ein Held dieser Zeit“, zu den Passagen der „Toten Seelen“, in denen Gogol „das hin und her huschende Muster von Licht und Schatten zu Füßen von Bäumen oder die Farbspiele bemerkt hat, die das Sonnenlicht mit dem Blattwerk veranstaltet“. Nabokovs Kult der Details bringt auch die Aversion gegen Figuren hervor, deren Gedanken ausführlicher beschrieben werden als ihre Kleidung, die sich den Maßstäben nicht fügen, die er im Blick auf Flaubert und Tolstoi gesetzt hat. Im Zentrum dieser Aversion steht wie in zahllosen Nabokov-Anekdoten auch in diesen Vorlesungen Fjodor Dostojewski. Er ist nicht lediglich einer der vielen Autoren von Cervantes über Balzac und Henry James bis zu Pasternak, Thomas Mann und William Faulkner, die Nabokov gern mit Invektiven bedacht hat. Dostojewski ist bei Nabokov der Vorschein der totalitären politischen Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts, mit ihm beginnt „das ideologische Gift“ die russische Literatur zu zersetzen. Kaum ist das Verdikt über ihn gesprochen, er sei trotz seiner slawophilen Obsessionen über die Nachahmung westlicher Modelle wie des Schauerromans, des empfindsamen Romans und des Kriminalromans nie hinausgekommen und seine Tendenz zur „melodramatischen Sentimentalität“ habe ihn zum Autor ohne Stil werden lassen, folgen die Sätze: „Stalin liebte Babys. Lenin schluchzte in der Oper, vor allem bei La Traviata.“ Nabokov-Leser sind in der Regel Nabokov-Bewunderer. Darum wird nur selten erörtert, warum der Literaturkritiker Nabokov sein wichtigstes Instrument so selektiv handhabt. Dieses Instrument war der Stellenkommentar, das „close reading“ der „himmlischen Details“. Es entsprach perfekt seiner Literaturauffassung. Brillant ist Nabokov, wenn er mit diesem Instrument seine Helden erörtert, Puschkin und seinen „Eugen Onegin“, Gogol, Tolstoi und Tschechow. Allenfalls eine Schwundstufe seiner Aufmerksamkeit auf das Detail lässt er Dostojewski zukommen, von dem er allenfalls das frühe Werk „Der Doppelgänger“ halbwegs gelten lassen kann – und das ist ein „Imitat“ Gogols. „Bei Dostojewski finden wir Allgemeinheiten statt spezifischer Charakterzüge“ heißt es in der Vorlesung über die „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“. Eine intensive Suche nach Details kann diesem Satz nicht zugrundeliegen, nur findet man sie in den Romanen Dostojewskis eher in den Gesten, Bewusstseinszuständen und wechselnden Färbungen fiebriger Halluzinationen. Nabokov begnügt sich hier aber mit eher kursorischen Lektüren oder hält sich das „Pathologische“ durch resolute Anwendung von Kategorien aus dem psychiatrischen Lehrbuch vom Hals. So werden seine Studenten sich, wenn sie sich von der Dostojewski-Lektüre nicht abhalten ließen, gewundert haben, was alles in dem Wort „Kristallpalast“ steckt, und dass sowohl vom „Doppelgänger“, der sich wie ein Käfer fühlt, wie vom Mann im Kellerloch, der von seinem Wunsch berichtet, ein Insekt zu werden, gewisse Verbindungslinien zu Gregor Samsa in der Erzählung „Die Verwandlung“ des Dostojewski-Lesers Kafka führen, die ihr Lehrer Nabokov allein mit Flaubert und Gogol in Verbindung gebracht hatte. Die Dostojewski-Verachtung Nabokovs kam stets sehr souverän daher. Sie markiert aber die Grenze seiner Literaturkritik, den Punkt, an dem die Polemik gegen die „Allgemeinbegriffe“ und der Kult des Details dogmatisch erstarren.
LOTHAR MÜLLER
Vladimir Nabokov: Vorlesungen über russische Literatur. Hrsg. von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 747 Seiten, 38 Euro.
Vladimir Nabokov (1899-1977).
Foto: Keystone/Getty Images
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Wer eine Geschichte «wahr» nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich. Vladimir Nabokov