Im Herbst 2003 erschienen anläßlich des 70. Geburtstags von Cees Nooteboom im Suhrkamp Verlag die ersten drei Bände, zum 75. Geburtstag liegen die Gesammelten Werke in neun Bänden nun vollständig in hochwertiger Ausstattung vor: gebunden in dunkelrotem Leinen, mit eleganten, rein typographisch gestalteten Umschlägen, auf bestem Papier gedruckt, mit Lesebändchen und zahlreichen Abbildungen. Neben den Gedichten und den bekannten Romanen und Erzählungen wie Rituale, Allerseelen oder Die folgende Geschichte versammelt die Ausgabe erstmals sämtliche Reisegeschichten und -reportagen, darunter Der Umweg nach Santiago und Nootebooms Hotel, sowie die ganze Fülle seiner über die Jahre entstandenen Essays und Artikel zur Literatur, Kunst und Politik. Viele Texte wurden für die Gesammelten Werke erstmals ins Deutsche übersetzt, so daß die Entwicklung eines der Großen der Literatur unserer Tage durch fünf Jahrzehnte anschaulich und nachvollziehbar wird. Die Ausgabe zeichnet ein umfassendes Bild dieses so schöpferischen wie vielseitigen Autors, der nicht nur in allen Gegenden der Welt, sondern auch den meisten literarischen Genres zu Hause ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Einhorn mit Engel
Reisen, Schreiben: Wie Cees Nootebooms Texte einander spiegeln, zeigt die große Werkausgabe.
Von Tilman Spreckelsen
Dass es eine enge Beziehung gibt "zwischen dem Geschichtenschreiben und dem Straßenbau", davon zeigt sich der Autor überzeugt: "Irgendwo muss man schließlich ankommen." Das hübsche Aperçu über Handwerk und Vision, Lesen und Fahren gewinnt an Gewicht durch den, der es ausspricht: Wenn es einen Schriftsteller von Weltruf gibt, dessen Schreiben vom Reisen nicht zu trennen ist, dann ist das der fünfundsiebzigjährige Niederländer Cees Nooteboom. Die ihm gewidmete Werkausgabe, die seit 2003 bei Suhrkamp verlegt wird und nun, fürs Erste abgeschlossen, in einer neunbändigen Kassette erschienen ist, dokumentiert das schon durch den Umfang der einzelnen Abteilungen: Einem schmalen Band mit Gedichten und zwei weiteren mit Romanen und Erzählungen stehen vier Bände gegenüber, die, "Auf Reisen" betitelt, weitgefächert von allen Kontinenten berichten.
Ein Reiseschriftsteller, der auch ein paar Romane geschrieben hat, mit "Allerseelen" oder "Die folgende Geschichte freilich außergewöhnlich erfolgreiche? So einfach ist die Sache nicht, und die Schwierigkeit, im Werk des Autors zwischen Reise und Fiktion zu scheiden, macht auch der Herausgeberin zu schaffen: Wenn sich der Paris-Tourist Nooteboom im Musée de Cluny im Anblick der sechs Tapisserien verliert, die jene hinreißende "Dame mit dem Einhorn" zeigen - gehört das in die Abteilung "Reise" oder in den achten Band ("Essays und Feuilletons")? Der gleichnamige Sammelband von 1997, untertitelt mit "Europäische Reisen", wird aus genau diesem Grund für die Werkausgabe entzweigerissen, die Kapitel werden auf unterschiedliche Bände verteilt. Die verfolgte Verbindung von Erleben, Beschreiben und Reflektieren, von Gegenwart und kunsthistorischer Betrachtung wird durch die Orientierung an Genres allerdings behindert.
Gleichzeitig ergibt sich durch diese Edition, eben weil sie auch offenkundig disparate Texte über die Grenzen der Entstehungszeit hinweg in einer Kassette zusammenführt, die reizvolle Möglichkeit, den unterschiedlichen Formen nachzugehen, die bestimmte Gegenstände bei Nooteboom unter jeweils anderen Voraussetzungen des Genres annehmen können: So hinterlässt eine Reise nach Australien und der Besuch eines den Engeln gewidmeten Theaterfestivals mindestens dreifache Spuren - in der direkten Schilderung als Reisefeuilleton ("Die Engel von Perth"), im meisterlichen Roman "Paradies verloren" und vielleicht auch im Essay "Die Rückkehr der Engel" von 2004, den man sich wiederum als Arbeit des Erzählers von "Paradies verloren" denken mag, immerhin erwähnt er, dass er gerade an einem Text zu diesem Thema sitze.
Spiegelt nun der Roman das Reisefeuilleton ab, oder ist es umgekehrt? Erschwert wird die Antwort dadurch, dass Nooteboom bestimmte Reflexionen über die Beschaffenheit der Engel (die er sich im Widerspruch zu aller Dogmatik männlich und jung vorstellt) seiner Romanheldin ebenso in den Mund legt wie dem "Ich" seines Feuilletons. Das ist zuallerletzt als Zeichen von Einfallslosigkeit des Autors zu verstehen (vom Gegenteil legt die Kassette beredt Zeugnis ab, von stupender Belesenheit wie von einem überbordenden Interesse noch für Entlegenstes), es scheint vielmehr der Spielfreude Nootebooms geschuldet, der bestimmte Muster in andere Zusammenhänge stellt und sich selbst davon überraschen lässt, wie anders sie auf einmal wirken - ein Gedanke ist eben nicht derselbe, wenn er von einer brasilianischen Studentin gedacht wird oder von einem europäischen Reiseschriftsteller, der die siebzig überschritten hat.
"Wer das Grab eines Dichters besucht, unternimmt eine Pilgerfahrt zu den gesammelten Werken", schreibt Nooteboom in dem 2006 erschienenen Band "Tumbas". Falls sich der Satz umkehren ließe, träfe er jedenfalls nicht auf diese Werkausgabe zu und nicht auf ihren äußerst produktiven Autor: Noch bevor sie abgeschlossen war, wurde ein umfangreicher Nachtragsband nötig. Mögen ihm viele folgen.
Cees Nooteboom: "Gesammelte Werke". Herausgegeben von Susanne Schaber. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen u a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 9 Bde., zus. 6340 S., geb., 360,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reisen, Schreiben: Wie Cees Nootebooms Texte einander spiegeln, zeigt die große Werkausgabe.
Von Tilman Spreckelsen
Dass es eine enge Beziehung gibt "zwischen dem Geschichtenschreiben und dem Straßenbau", davon zeigt sich der Autor überzeugt: "Irgendwo muss man schließlich ankommen." Das hübsche Aperçu über Handwerk und Vision, Lesen und Fahren gewinnt an Gewicht durch den, der es ausspricht: Wenn es einen Schriftsteller von Weltruf gibt, dessen Schreiben vom Reisen nicht zu trennen ist, dann ist das der fünfundsiebzigjährige Niederländer Cees Nooteboom. Die ihm gewidmete Werkausgabe, die seit 2003 bei Suhrkamp verlegt wird und nun, fürs Erste abgeschlossen, in einer neunbändigen Kassette erschienen ist, dokumentiert das schon durch den Umfang der einzelnen Abteilungen: Einem schmalen Band mit Gedichten und zwei weiteren mit Romanen und Erzählungen stehen vier Bände gegenüber, die, "Auf Reisen" betitelt, weitgefächert von allen Kontinenten berichten.
Ein Reiseschriftsteller, der auch ein paar Romane geschrieben hat, mit "Allerseelen" oder "Die folgende Geschichte freilich außergewöhnlich erfolgreiche? So einfach ist die Sache nicht, und die Schwierigkeit, im Werk des Autors zwischen Reise und Fiktion zu scheiden, macht auch der Herausgeberin zu schaffen: Wenn sich der Paris-Tourist Nooteboom im Musée de Cluny im Anblick der sechs Tapisserien verliert, die jene hinreißende "Dame mit dem Einhorn" zeigen - gehört das in die Abteilung "Reise" oder in den achten Band ("Essays und Feuilletons")? Der gleichnamige Sammelband von 1997, untertitelt mit "Europäische Reisen", wird aus genau diesem Grund für die Werkausgabe entzweigerissen, die Kapitel werden auf unterschiedliche Bände verteilt. Die verfolgte Verbindung von Erleben, Beschreiben und Reflektieren, von Gegenwart und kunsthistorischer Betrachtung wird durch die Orientierung an Genres allerdings behindert.
Gleichzeitig ergibt sich durch diese Edition, eben weil sie auch offenkundig disparate Texte über die Grenzen der Entstehungszeit hinweg in einer Kassette zusammenführt, die reizvolle Möglichkeit, den unterschiedlichen Formen nachzugehen, die bestimmte Gegenstände bei Nooteboom unter jeweils anderen Voraussetzungen des Genres annehmen können: So hinterlässt eine Reise nach Australien und der Besuch eines den Engeln gewidmeten Theaterfestivals mindestens dreifache Spuren - in der direkten Schilderung als Reisefeuilleton ("Die Engel von Perth"), im meisterlichen Roman "Paradies verloren" und vielleicht auch im Essay "Die Rückkehr der Engel" von 2004, den man sich wiederum als Arbeit des Erzählers von "Paradies verloren" denken mag, immerhin erwähnt er, dass er gerade an einem Text zu diesem Thema sitze.
Spiegelt nun der Roman das Reisefeuilleton ab, oder ist es umgekehrt? Erschwert wird die Antwort dadurch, dass Nooteboom bestimmte Reflexionen über die Beschaffenheit der Engel (die er sich im Widerspruch zu aller Dogmatik männlich und jung vorstellt) seiner Romanheldin ebenso in den Mund legt wie dem "Ich" seines Feuilletons. Das ist zuallerletzt als Zeichen von Einfallslosigkeit des Autors zu verstehen (vom Gegenteil legt die Kassette beredt Zeugnis ab, von stupender Belesenheit wie von einem überbordenden Interesse noch für Entlegenstes), es scheint vielmehr der Spielfreude Nootebooms geschuldet, der bestimmte Muster in andere Zusammenhänge stellt und sich selbst davon überraschen lässt, wie anders sie auf einmal wirken - ein Gedanke ist eben nicht derselbe, wenn er von einer brasilianischen Studentin gedacht wird oder von einem europäischen Reiseschriftsteller, der die siebzig überschritten hat.
"Wer das Grab eines Dichters besucht, unternimmt eine Pilgerfahrt zu den gesammelten Werken", schreibt Nooteboom in dem 2006 erschienenen Band "Tumbas". Falls sich der Satz umkehren ließe, träfe er jedenfalls nicht auf diese Werkausgabe zu und nicht auf ihren äußerst produktiven Autor: Noch bevor sie abgeschlossen war, wurde ein umfangreicher Nachtragsband nötig. Mögen ihm viele folgen.
Cees Nooteboom: "Gesammelte Werke". Herausgegeben von Susanne Schaber. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen u a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 9 Bde., zus. 6340 S., geb., 360,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diese Werkausgabe ist kein Grab für den Autor, da ist Tilman Spreckelsen sicher. Zu produktiv, zu sehr unterwegs, räumlich wie intellektuell, erscheint ihm Cees Nooteboom. Dessen Umtriebigkeit nimmt Spreckelsen gleich zum Thema seiner Besprechung, weil es ihm als zentrales Moment erscheint. Schließlich seien allein vier der neun Bände "Auf Reisen" betitelt. Dumm nur, beziehungsweise ganz wunderbar, wie Spreckelsen meint, dass Reise und Fiktion bei diesem Autor beständig ineinander fließen. Da stört die editorische Genrezuordnung etwas, findet Spreckelsen, der allerdings auch gleich begreift, welche Möglichkeiten der Zusammenfassung von zeitlich disparaten Texten "in einer Kassette" innewohnt. So kann er den verschiedenen Formen nachgehen, die der Autor seinen jeweiligen Gegenstand genrespezifisch annehmen lässt, und von Nootebooms Belesenheit und seinem Interesse "noch für Entlegenstes" profitieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH