Ob Canto, diese Hymne an Rom, oder die Ausreißerstory Untertauchen oder Das Jahr der Liebe, in dem Paul Nizon seine Flucht in die Lichterstadt Paris und sein Liebeswerben um die schöne Kapitale beschreibt - all seine Romane und Erzählungen, die virtuose Künstlerbücher und poetische Wunschbiographien zugleich sind, erscheinen wie die Kapitel eines großen Buches: seines Lebensromans.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1999Untergehen in Fassungslosigkeit
Ein Schweizer in Paris: Paul Nizons "Gesammelte Werke"
Es gibt in Paul Nizons Schreiben eine Zeit vor Suhrkamp. Seine erste Prosaveröffentlichung erschien 1959 bei einem Verlag, den man damals nicht mit neuer Literatur in Verbindung brachte: bei Scherz in Bern, der Stadt, in der Nizon vor siebzig Jahren geboren wurde. Der Band trug den Titel "Die gleitenden Plätze" - bei seiner Veröffentlichung war der Autor dreißig. Es war das erste Manuskript, das Nizon einem Verlag anbot, er hatte zehn Jahre daran gearbeitet. Das Buch fand nicht viele Käufer, wurde aber von einflussreichen Persönlichkeiten des Literaturbetriebs wie Ingeborg Bachmann und Max Frisch wahrgenommen. Carl Seelig, der Freund und Vormund Robert Walsers, schrieb eine lobende Kritik und entdeckte ein Talent, um das er sich kümmern konnte. Nizon wurde als erster Schriftsteller an das Schweizer Institut in Rom eingeladen. Zwei Jahre blieb er dort und schrieb "Canto", sein zweites Buch - als Auftragsarbeit für Suhrkamp. Zu diesem Verlag hatte ihn Frisch, den Paul Nizon in Rom kennen lernte, gebracht.
Mit "Canto" beginnt die siebenbändige Ausgabe von Paul Nizons "Gesammelten Werken". Bei seinem Erscheinen in den sechziger Jahren gab es eine Kritik, die den Umschlag von Fleckhaus und die Qualität des Papiers lobte. Wohlmeinendere Rezensenten erkannten eine gewisse Sprachgewalt - aber anfangen konnte kaum einer etwas mit "Canto". Paul Nizon, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr schrieb, nach dem Abitur als Beruf Schriftsteller angab, Kunstgeschichte studierte und auf dem Bau arbeitete, um seine Frau und zwei Kinder durchzubringen, empfand die unfreundliche Aufnahme nach den großen Erwartungen der "Gleitenden Plätze" als Niederlage, ja als Ausschluss aus der deutschen Literatur. Er brauchte lange, um diese Niederlage zu überwinden - prägend ist sie bis heute. Mit Kunstkritiken finanzierte er fortan den Lebensunterhalt der Familie. Doch regelmäßig zog er sich in eine europäische Großstadt zurück, um am nächsten Buch schreiben zu können. "Im Hause enden die Geschichten" brachte Suhrkamp 1971 heraus. Das war sieben Jahre nach "Canto".
Paul Nizon ist ein manischer Schreiber, der jeden Tag mehrere Stunden an seiner Schreibmaschine sitzt. Ohne Schreiben kann er nicht leben. Seine Bücher ringt er der Sprache und einer Existenz ab, die er nur führt, um den Rohstoff für seine Literatur zu bekommen. Die Rahmenbedingungen, Emotionen, Stimmungen, manchmal die Ereignisse seines Lebens fließen meist in das nächste oder übernächste Buch.
In "Stolz" (1975) reichen die Erinnerungen und Erfahrungen weiter zurück. Der Roman, der mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, beginnt mit einer Reise des Werkstudenten - und jungen Vaters - nach Kalabrien. Das Klima seiner Jugend in den dreißiger Jahren in Bern beschreibt der Sohn eines aus Russland stammenden Forschers, der kaum Deutsch sprach, in dem Roman "Im Bauch des Wals" (1989). Einen Ausbruch - aus der Schweiz, aus einer Ehe - schildert er in der vom Fernsehen verfilmten Erzählung "Untertauchen" (1972). Die Geschichte spielt in Barcelona.
Rom, Amsterdam (wohin er wegen van Gogh, über den er promovierte, gereist war), London: aus den Großstädten, die zunächst nur Flucht- und Bezugspunkte waren, wurden feste Wohnsitze. In den Metropolen erlebt er "das ständige Erlebnis des Untergehens bis zur Fassungslosigkeit", das den "Widerstand des Schreibens aus Gründen der schlichten Selbsterhaltung" herausfordert. Er nennt diese Untergangsbedrohung "das vollkommene Verkommen in jeder Hinsicht: geistig, seelisch, sexuell". Die Stadt und die Sexualität sind die Obsessionen seiner Literatur und diese Gegenstand eines eher unzeitgemäßen Kults: Das heilige Schreiben rettet ihn vor den Versuchungen der Hure, denen er dennoch bis ans Ende der Tage erliegen wird. Nizons Verzweiflung ist so unerschütterlich wie sein Glaube an die Literatur, und daran können auch die aufgescheuchten feministischen Kritikerinnen nichts ändern, denen Nizons Bild der Frau längst ein Dorn im Auge ist.
Seine begehrteste Geliebte heißt Paris: Länger als in Bern lebt er inzwischen in der Hauptstadt der Literatur. Die Franzosen verehren den Stilisten und Erotomanen, der in der besten Tradition ihres "culte de l'écriture" steht und ihn mit dem Eifer des frisch Auserwählten zelebriert, gar erneuert. In "Das Jahr der Liebe" (1981) hat er Paris das wohl schönste Porträt in der deutschen Literatur seit Rilkes "Malte Laurids Brigge" gewidmet. Und durch Paris streunt der Dichter als Vagabund auch an der Leine eines imaginären Hundes in seiner bislang letzten Prosaarbeit. Sein "Hund" - eine "Beichte am Mittag" - erschien erstmals vor Jahresfrist und schließt die "Gesammelten Werke" ab.
In dieser ebenso handlichen wie lesbaren Ausgabe fehlen natürlicherweise die kulturpolitischen Schriften und die immensen Aufzeichnungen des Dichters, die Nizon für den wichtigeren Teil seines Schreibens hält und mit deren Publikation der Verlag vor kurzem unter dem Titel "Die Innenseite des Mantels" begonnen hat. Leider fehlen aber auch "Die gleitenden Plätze". Das ist umso bedauerlicher, als die gesammelten Bände von Nizons Literatur die Stationen einer Entwicklung markieren, in der dem Faktor Zeit eine zentrale Bedeutung zukommt.
Paul Nizon hat nie an seiner Berufung, aber zehn - und nach "Canto" nochmals sieben - Jahre lang an seinen Fähigkeiten gezweifelt. An der Sprache arbeitet er wie in einem Steinbruch, als schwitzender Handlanger des Sprengmeisters - und danach als Bildhauer. Die Langsamkeit und die Überschaubarkeit - sieben, acht relativ kurze Texte in vierzig, eigentlich fünfzig Jahren - seines Schreibens laufen den Maßstäben des Kulturbetriebs zuwider. Aber nicht auf ihn, sondern auf die Ewigkeit hat Paul Nizon in seinem ebenso überheblichen wie antiquierten Anspruch sein Schreiben angelegt und ihm alles andere unterworfen. Ein Urteil auf dieser Ebene muss man den Nachgeborenen überlassen. Die erstmals gebündelt publizierten Ausgaben seiner Prosadichtungen machen hic et nunc beim Wiederlesen ein eindrückliches, ein bedeutendes Werk in seiner Entwicklung nachvollziehbar.
JÜRG ALTWEGG.
Paul Nizon: "Gesammelte Werke". Sieben Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. Zus. 1500 S., br., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Schweizer in Paris: Paul Nizons "Gesammelte Werke"
Es gibt in Paul Nizons Schreiben eine Zeit vor Suhrkamp. Seine erste Prosaveröffentlichung erschien 1959 bei einem Verlag, den man damals nicht mit neuer Literatur in Verbindung brachte: bei Scherz in Bern, der Stadt, in der Nizon vor siebzig Jahren geboren wurde. Der Band trug den Titel "Die gleitenden Plätze" - bei seiner Veröffentlichung war der Autor dreißig. Es war das erste Manuskript, das Nizon einem Verlag anbot, er hatte zehn Jahre daran gearbeitet. Das Buch fand nicht viele Käufer, wurde aber von einflussreichen Persönlichkeiten des Literaturbetriebs wie Ingeborg Bachmann und Max Frisch wahrgenommen. Carl Seelig, der Freund und Vormund Robert Walsers, schrieb eine lobende Kritik und entdeckte ein Talent, um das er sich kümmern konnte. Nizon wurde als erster Schriftsteller an das Schweizer Institut in Rom eingeladen. Zwei Jahre blieb er dort und schrieb "Canto", sein zweites Buch - als Auftragsarbeit für Suhrkamp. Zu diesem Verlag hatte ihn Frisch, den Paul Nizon in Rom kennen lernte, gebracht.
Mit "Canto" beginnt die siebenbändige Ausgabe von Paul Nizons "Gesammelten Werken". Bei seinem Erscheinen in den sechziger Jahren gab es eine Kritik, die den Umschlag von Fleckhaus und die Qualität des Papiers lobte. Wohlmeinendere Rezensenten erkannten eine gewisse Sprachgewalt - aber anfangen konnte kaum einer etwas mit "Canto". Paul Nizon, der seit seinem sechzehnten Lebensjahr schrieb, nach dem Abitur als Beruf Schriftsteller angab, Kunstgeschichte studierte und auf dem Bau arbeitete, um seine Frau und zwei Kinder durchzubringen, empfand die unfreundliche Aufnahme nach den großen Erwartungen der "Gleitenden Plätze" als Niederlage, ja als Ausschluss aus der deutschen Literatur. Er brauchte lange, um diese Niederlage zu überwinden - prägend ist sie bis heute. Mit Kunstkritiken finanzierte er fortan den Lebensunterhalt der Familie. Doch regelmäßig zog er sich in eine europäische Großstadt zurück, um am nächsten Buch schreiben zu können. "Im Hause enden die Geschichten" brachte Suhrkamp 1971 heraus. Das war sieben Jahre nach "Canto".
Paul Nizon ist ein manischer Schreiber, der jeden Tag mehrere Stunden an seiner Schreibmaschine sitzt. Ohne Schreiben kann er nicht leben. Seine Bücher ringt er der Sprache und einer Existenz ab, die er nur führt, um den Rohstoff für seine Literatur zu bekommen. Die Rahmenbedingungen, Emotionen, Stimmungen, manchmal die Ereignisse seines Lebens fließen meist in das nächste oder übernächste Buch.
In "Stolz" (1975) reichen die Erinnerungen und Erfahrungen weiter zurück. Der Roman, der mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, beginnt mit einer Reise des Werkstudenten - und jungen Vaters - nach Kalabrien. Das Klima seiner Jugend in den dreißiger Jahren in Bern beschreibt der Sohn eines aus Russland stammenden Forschers, der kaum Deutsch sprach, in dem Roman "Im Bauch des Wals" (1989). Einen Ausbruch - aus der Schweiz, aus einer Ehe - schildert er in der vom Fernsehen verfilmten Erzählung "Untertauchen" (1972). Die Geschichte spielt in Barcelona.
Rom, Amsterdam (wohin er wegen van Gogh, über den er promovierte, gereist war), London: aus den Großstädten, die zunächst nur Flucht- und Bezugspunkte waren, wurden feste Wohnsitze. In den Metropolen erlebt er "das ständige Erlebnis des Untergehens bis zur Fassungslosigkeit", das den "Widerstand des Schreibens aus Gründen der schlichten Selbsterhaltung" herausfordert. Er nennt diese Untergangsbedrohung "das vollkommene Verkommen in jeder Hinsicht: geistig, seelisch, sexuell". Die Stadt und die Sexualität sind die Obsessionen seiner Literatur und diese Gegenstand eines eher unzeitgemäßen Kults: Das heilige Schreiben rettet ihn vor den Versuchungen der Hure, denen er dennoch bis ans Ende der Tage erliegen wird. Nizons Verzweiflung ist so unerschütterlich wie sein Glaube an die Literatur, und daran können auch die aufgescheuchten feministischen Kritikerinnen nichts ändern, denen Nizons Bild der Frau längst ein Dorn im Auge ist.
Seine begehrteste Geliebte heißt Paris: Länger als in Bern lebt er inzwischen in der Hauptstadt der Literatur. Die Franzosen verehren den Stilisten und Erotomanen, der in der besten Tradition ihres "culte de l'écriture" steht und ihn mit dem Eifer des frisch Auserwählten zelebriert, gar erneuert. In "Das Jahr der Liebe" (1981) hat er Paris das wohl schönste Porträt in der deutschen Literatur seit Rilkes "Malte Laurids Brigge" gewidmet. Und durch Paris streunt der Dichter als Vagabund auch an der Leine eines imaginären Hundes in seiner bislang letzten Prosaarbeit. Sein "Hund" - eine "Beichte am Mittag" - erschien erstmals vor Jahresfrist und schließt die "Gesammelten Werke" ab.
In dieser ebenso handlichen wie lesbaren Ausgabe fehlen natürlicherweise die kulturpolitischen Schriften und die immensen Aufzeichnungen des Dichters, die Nizon für den wichtigeren Teil seines Schreibens hält und mit deren Publikation der Verlag vor kurzem unter dem Titel "Die Innenseite des Mantels" begonnen hat. Leider fehlen aber auch "Die gleitenden Plätze". Das ist umso bedauerlicher, als die gesammelten Bände von Nizons Literatur die Stationen einer Entwicklung markieren, in der dem Faktor Zeit eine zentrale Bedeutung zukommt.
Paul Nizon hat nie an seiner Berufung, aber zehn - und nach "Canto" nochmals sieben - Jahre lang an seinen Fähigkeiten gezweifelt. An der Sprache arbeitet er wie in einem Steinbruch, als schwitzender Handlanger des Sprengmeisters - und danach als Bildhauer. Die Langsamkeit und die Überschaubarkeit - sieben, acht relativ kurze Texte in vierzig, eigentlich fünfzig Jahren - seines Schreibens laufen den Maßstäben des Kulturbetriebs zuwider. Aber nicht auf ihn, sondern auf die Ewigkeit hat Paul Nizon in seinem ebenso überheblichen wie antiquierten Anspruch sein Schreiben angelegt und ihm alles andere unterworfen. Ein Urteil auf dieser Ebene muss man den Nachgeborenen überlassen. Die erstmals gebündelt publizierten Ausgaben seiner Prosadichtungen machen hic et nunc beim Wiederlesen ein eindrückliches, ein bedeutendes Werk in seiner Entwicklung nachvollziehbar.
JÜRG ALTWEGG.
Paul Nizon: "Gesammelte Werke". Sieben Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. Zus. 1500 S., br., 98,- DM.
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