Produktdetails
- Verlag: Limmat Verlag
- Seitenzahl: 1240
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 1742g
- ISBN-13: 9783857913143
- Artikelnr.: 24563323
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.1999Der Traum vom Botokudenbaum
Nah am Kitsch: Der Schweizer Dichter Alexander Xaver Gwerder
Das Foto der Erstkommunion, aufgenommen um 1932, zeigt einen Musterknaben: Ernst blickt der Neunjährige in die Kamera, die derben Lederschuhe sind blank gewienert, die Haare akkurat gescheitelt, Kerze und Rosenkranz wie mit der Wasserwaage ausgerichtet. Nichts in diesem starren Arrangement deutet darauf hin, dass aus dem braven Kind der schweizerischen Provinz ein kompromissloser Rebell werden sollte, der sich immer heftiger, bis zur Preisgabe des eigenen Lebens, gegen Staat und Gesellschaft auflehnen würde.
Die Daten zeichnen einen unspektakulären Lebenslauf: Im Jahre 1923 wurde Alexander Xaver Gwerder als ältestes von drei Kindern in einem Arbeiterhaushalt in Thalwil bei Zürich geboren. Auf den Schulbesuch folgte eine Druckerlehre, dann die Arbeit im Offset-Gewerbe und die Gründung einer Familie. Den Dienst in der Armee empfand Gwerder, anders als der Großteil seiner Landsleute, als unmenschliche Schikane. Die Willkür seiner Vorgesetzten - das Telegramm mit der Nachricht von der Geburt seines ersten Kindes wurde ihm fünf Tage lang vorenthalten - verwandelte den empfindsamen jungen Mann in einen unerbittlichen Gegner des eidgenössischen Militärs. Seine Rolle als gesellschaftlicher Außenseiter war damit festgelegt, denn das Schlagwort der "geistigen Landesverteidigung" gehörte in jenen Jahren fest zum schweizerischen Nationalmythos.
Gwerder fand an der Position des Außenstehenden durchaus Gefallen und stilisierte sich selbst zum "Individualanarchisten": "Homo mediocre, was hab ich mit dir zu schaffen?" Das sind selbstbewusste Worte eines jungen Poeten, der gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hatte. Die melodisch gereimten Verse der Sammlung "Blauer Eisenhut" (1951) lassen jedoch wenig von Gwerders Kritik an der Gesellschaft erkennen: "Der laue Wind bläht die Schlösser des Südens / in duftgeöffnetes Abendhaar, / und über die Grüne des süßen Ermüdens / verwundert der Tag sich, der außer sich war".
Das Vorbild solcher Verse ist unüberhörbar: Die Lyrik Gottfried Benns bedeutete für Gwerder geradezu eine Offenbarung. "Sie sind der Sturm, der uns Zweifelnden ins Haar fährt", schrieb er dem verehrten Dichter im April 1951, doch in den eigenen Gedichten dominiert das epigonale Kunsthandwerk oder, um es deutlicher zu sagen, der pure Kitsch: "So treibe denn in Tönen: / Otahi-, Südseeblau- / exotisches Versöhnen / mit einer wilden Frau". Hinzu kommen zahlreiche gestelzte Reime, die in ihrer Manieriertheit Ergriffenheit nur noch suggerieren, aber nicht mehr hervorrufen können. "Erdwärts" reimt sich da auf "Spätherz", "Traum" auf "Botokudenbaum" und "Fingerfrüchte" auf "Inkasüchte".
Mit seinen gelungeneren Gedichten erreichte Gwerder jedoch ein zustimmendes Publikum, vor allem in Deutschland. Die Lyrikerin Oda Schäfer schrieb ihm aufmunternde Briefe und vermittelte ihm hilfreiche Kontakte, unter anderem zu Karl Krolow, der die Gedichte des jungen Kollegen freundlich rezensierte. Im eigenen Land aber stellte sich die Anerkennung nicht ein. Im September 1952 entschloss er sich in Arles, dem Wohnort des bewunderten van Gogh, gemeinsam mit seiner Gefährtin zum Doppelselbstmord. Das neunzehnjährige Mädchen überlebte, Gwerder fand jedoch den gewünschten Tod. Der Tod des noch nicht dreißigjährigen Dichters verschaffte ihm die Bekanntheit, auf die er zu Lebzeiten vergeblich gehofft hatte: Mit einem Mal fanden sich Verleger. In den fünfziger Jahren lobte man vor allem das lyrische Talent Gwerders, später entdeckte man die gesellschaftskritische Seite seines Werkes und stilisierte ihn zum Opfer der Schweizer Verhältnisse. Als "Dichter im Abseits" erlangte er seinen größten Ruhm.
Der Zürcher Limmat Verlag hat nun eine dreibändige Werkausgabe herausgebracht, die wie ein Akt der späten Wiedergutmachung gegenüber dem ehemals Geschmähten erscheint. Mit der sorgfältigen Erschließung der nachgelassenen Werke, den zahlreichen Dokumenten zur Biografie und dem umfangreichen kritischen Apparat, der an Ausführlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, wird Gwerder in den Rang eines modernen Klassikers erhoben. Ihm widerfährt derselbe philologische Respekt, wie man ihn von den jüngeren Gesamtausgaben Paul Celans oder Bertolt Brechts kennt. Damit wird ein Anspruch geweckt, hinter dem die empfindsamen und rebellischen Verse Gwerders weit zurückbleiben. Die Frage nach dem Verhältnis von editorischem Aufwand und literarischer Qualität scheint für Herausgeber und Verlag allerdings keine Rolle gespielt zu haben.
SABINE DOERING
Alexander Xaver Gwerder: "Gesammelte Werke und Ausgewählte Briefe". Drei Bände. Herausgegeben von Roger Perret. Limmat Verlag, Zürich 1998. Zus. 1238 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nah am Kitsch: Der Schweizer Dichter Alexander Xaver Gwerder
Das Foto der Erstkommunion, aufgenommen um 1932, zeigt einen Musterknaben: Ernst blickt der Neunjährige in die Kamera, die derben Lederschuhe sind blank gewienert, die Haare akkurat gescheitelt, Kerze und Rosenkranz wie mit der Wasserwaage ausgerichtet. Nichts in diesem starren Arrangement deutet darauf hin, dass aus dem braven Kind der schweizerischen Provinz ein kompromissloser Rebell werden sollte, der sich immer heftiger, bis zur Preisgabe des eigenen Lebens, gegen Staat und Gesellschaft auflehnen würde.
Die Daten zeichnen einen unspektakulären Lebenslauf: Im Jahre 1923 wurde Alexander Xaver Gwerder als ältestes von drei Kindern in einem Arbeiterhaushalt in Thalwil bei Zürich geboren. Auf den Schulbesuch folgte eine Druckerlehre, dann die Arbeit im Offset-Gewerbe und die Gründung einer Familie. Den Dienst in der Armee empfand Gwerder, anders als der Großteil seiner Landsleute, als unmenschliche Schikane. Die Willkür seiner Vorgesetzten - das Telegramm mit der Nachricht von der Geburt seines ersten Kindes wurde ihm fünf Tage lang vorenthalten - verwandelte den empfindsamen jungen Mann in einen unerbittlichen Gegner des eidgenössischen Militärs. Seine Rolle als gesellschaftlicher Außenseiter war damit festgelegt, denn das Schlagwort der "geistigen Landesverteidigung" gehörte in jenen Jahren fest zum schweizerischen Nationalmythos.
Gwerder fand an der Position des Außenstehenden durchaus Gefallen und stilisierte sich selbst zum "Individualanarchisten": "Homo mediocre, was hab ich mit dir zu schaffen?" Das sind selbstbewusste Worte eines jungen Poeten, der gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hatte. Die melodisch gereimten Verse der Sammlung "Blauer Eisenhut" (1951) lassen jedoch wenig von Gwerders Kritik an der Gesellschaft erkennen: "Der laue Wind bläht die Schlösser des Südens / in duftgeöffnetes Abendhaar, / und über die Grüne des süßen Ermüdens / verwundert der Tag sich, der außer sich war".
Das Vorbild solcher Verse ist unüberhörbar: Die Lyrik Gottfried Benns bedeutete für Gwerder geradezu eine Offenbarung. "Sie sind der Sturm, der uns Zweifelnden ins Haar fährt", schrieb er dem verehrten Dichter im April 1951, doch in den eigenen Gedichten dominiert das epigonale Kunsthandwerk oder, um es deutlicher zu sagen, der pure Kitsch: "So treibe denn in Tönen: / Otahi-, Südseeblau- / exotisches Versöhnen / mit einer wilden Frau". Hinzu kommen zahlreiche gestelzte Reime, die in ihrer Manieriertheit Ergriffenheit nur noch suggerieren, aber nicht mehr hervorrufen können. "Erdwärts" reimt sich da auf "Spätherz", "Traum" auf "Botokudenbaum" und "Fingerfrüchte" auf "Inkasüchte".
Mit seinen gelungeneren Gedichten erreichte Gwerder jedoch ein zustimmendes Publikum, vor allem in Deutschland. Die Lyrikerin Oda Schäfer schrieb ihm aufmunternde Briefe und vermittelte ihm hilfreiche Kontakte, unter anderem zu Karl Krolow, der die Gedichte des jungen Kollegen freundlich rezensierte. Im eigenen Land aber stellte sich die Anerkennung nicht ein. Im September 1952 entschloss er sich in Arles, dem Wohnort des bewunderten van Gogh, gemeinsam mit seiner Gefährtin zum Doppelselbstmord. Das neunzehnjährige Mädchen überlebte, Gwerder fand jedoch den gewünschten Tod. Der Tod des noch nicht dreißigjährigen Dichters verschaffte ihm die Bekanntheit, auf die er zu Lebzeiten vergeblich gehofft hatte: Mit einem Mal fanden sich Verleger. In den fünfziger Jahren lobte man vor allem das lyrische Talent Gwerders, später entdeckte man die gesellschaftskritische Seite seines Werkes und stilisierte ihn zum Opfer der Schweizer Verhältnisse. Als "Dichter im Abseits" erlangte er seinen größten Ruhm.
Der Zürcher Limmat Verlag hat nun eine dreibändige Werkausgabe herausgebracht, die wie ein Akt der späten Wiedergutmachung gegenüber dem ehemals Geschmähten erscheint. Mit der sorgfältigen Erschließung der nachgelassenen Werke, den zahlreichen Dokumenten zur Biografie und dem umfangreichen kritischen Apparat, der an Ausführlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, wird Gwerder in den Rang eines modernen Klassikers erhoben. Ihm widerfährt derselbe philologische Respekt, wie man ihn von den jüngeren Gesamtausgaben Paul Celans oder Bertolt Brechts kennt. Damit wird ein Anspruch geweckt, hinter dem die empfindsamen und rebellischen Verse Gwerders weit zurückbleiben. Die Frage nach dem Verhältnis von editorischem Aufwand und literarischer Qualität scheint für Herausgeber und Verlag allerdings keine Rolle gespielt zu haben.
SABINE DOERING
Alexander Xaver Gwerder: "Gesammelte Werke und Ausgewählte Briefe". Drei Bände. Herausgegeben von Roger Perret. Limmat Verlag, Zürich 1998. Zus. 1238 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main