Bekannte sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Texte des Aufklärers und Theologen Johann Peter Hebel.Schon Walter Benjamin, einer der großen Interpreten Johann Peter Hebels, forderte 1926 eine Gesamtausgabe des aufgeklärten Humanisten. Die letzte umfangreiche Ausgabe von 1838 bietet ein nur sehr eingeschränktes Bild vom Dichter der »Allemannischen Gedichte« (1803) und des »Schatzkästleins des rheinischen Hausfreunds« (1811). Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann legen nun erstmals eine Gesamtausgabe der Werke vor und rücken den Dichter in das Licht, das ihm endlich gebührt.Johann Peter Hebel, 1760 geboren, war als Theologe ein Aufklärer, der seine Dichtungen dazu nutzte, die gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit offenzulegen und durchschaubar zu machen. Ein »Handorakel der Lebensklugheit für kleine Leute« sei sein Werk, konstatierte Ernst Bloch. Hebel selbst war ein »Hausfreund« im konkreten Sinn und einer der großartigsten Erzähler der Weltliteratur zugleich - Vorbild für Tolstoi, Kafka oder Brecht.Die sechsbändige Studienausgabe erschließt - neben den bekannten Texten Hebels - zahlreiche unveröffentlichte und unbekannte Schriften, die den immensen Umfang des gesamten Werks erstmals zugänglich machen. Die gewählte Chronologie der Präsentation, orientiert an den Erstdrucken, stellt die Werke in ihren historischen Kontext und kommentiert die zum Verständnis notwendigen Fakten und Bezüge. Das große Brief-Konvolut der Jahre 1784 bis 1826 ermöglicht einen Einblick in die persönlichen Lebensumstände des ersten Prälaten der Evangelischen Landeskirche in Baden und zeigt Johann Peter Hebel zugleich als einen Meister des schriftlichen Dialogs sowie als gewitzten Dialektiker.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2019Was das Auge niemals sah
Jeder Satz erkundet einen fremden Planeten: Die neue Ausgabe der Werke Johann Peter Hebels öffnet die Tür zur wilden Gelehrsamkeit.
Eingeweidewürmer sind für das achtzehnte Jahrhundert ein philosophisches Problem. Da sie außerhalb tierischer Körper nicht vorkommen und sterben, wenn man sie aus ihrem natürlichen Lebensraum entfernt, gibt es für ihre Existenz keine andere Erklärung als die, dass ihr "Same den Thieren angebohren sey". Zu diesem Schluss kommt zumindest Marcus Elieser Bloch - der Gelehrtengeschichte besser bekannt als der Begründer der modernen Ichthyologie - in seiner 1782 erschienenen Abhandlung "Von der Erzeugung der Eingeweidewürmer und den Mitteln wider dieselben". Da man im achtzehnten Jahrhundert von Pasteurs Keimtheorie noch nichts ahnt, verwandelt sich somit eine gründlich axiomatische Studie auf dem Feld der Naturkunde in die Hypothese eines vererbbaren Parasitismus: Die Krankheit ist mit uns, in uns, noch ehe wir geboren sind.
Die Merkwürdigkeit dieser Überlegungen verzeichnet ein anderer, nämlich der zweiundzwanzigjährige Hauslehrer Johann Peter Hebel, der Blochs Theorie aus deren ausführlicher Darlegung in den "Gothaischen gelehrten Zeitungen" exzerpiert. Die Würmer finden sich dort, in Hebels erstem Exzerptheft, wieder inmitten von Auszügen aus dem "Magazin fürs Frauenzimmer" (etwa zur Frage, wie man "bei beiden Geschlechtern den Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft erkennen" kann), dicht gefolgt von "Bemerkungen über Japan", Notaten zum Unterricht der Proselyten, über die "erdigen Körper" (zum Beispiel den Meerschaum), zu Otfrid von Weißenburg, zu Alter und Größe der Erde, zu Platons Symposion und zum Erfinder der Schachmaschine.
Wurmgleich frisst sich Hebel in seinem Wissenshunger quer durch den Blätterwald der Aufklärung, ohne Rücksicht auf Fakultäten und Disziplinen. Immer wieder kommt es dabei zu verblüffenden Korrespondenzen: Auf Blochs Eingeweidewürmer folgt eine Reflexion zur Auslegung des ersten Korintherbriefes, in deren Zentrum die Frage nach den Körpern der auferweckten Toten steht. Der Verstand, der die beiden Exzerpte aneinandergefügt hat, gibt sich nicht zu erkennen. Und doch erahnt man ihn hinter den Zeilen: Hier der diesseitige Leib der eingeborenen Schädlinge, dort der jenseitige, "künftige" Leib, der "wirklich vom gegenwärtigen verschiden sein" muss und dessen besondere Qualität "allein in der Unsterblichkeit zu suchen" ist. Zwischen dem Niedersten und dem Höchsten liegt nur ein Gedankensprung, ein Umblättern. Gleich, ob sie sich mit theologischen Grundfragen oder mit der Perspektivenlehre befasst, ob sie Moses Mendelssohns Vorlesungen, entomologische Funde oder den noch unentlarvten Ossian referiert: Immer wird Hebels Schrift getragen von der Überzeugung, dass all das durch eine Wahrheit zusammengehalten wird. Und dass es gar nicht nötig ist, diesen Zusammenhang auszusprechen, sondern sich dieser wie von selbst aus der Überführung der Welt in Worte - gleich welchen Ursprungs - ergibt.
Ansichtig wird uns jenes Kaleidoskop wilder Gelehrsamkeit in der sechsbändigen, von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann edierten Ausgabe von Hebels Werken, in deren zweitem Band erstmals das Konvolut der Exzerpthefte vollständig einzusehen ist. Zum Vorschein kommt hierbei zum Ersten die wissensgeschichtliche Unterseite einer in sich gespaltenen intellektuellen Biographie. Hebel, 1760 in Hausen im Wiesental geboren und im Alter von zwölf Jahren als Vollwaise der Obhut der Karlsruher Intelligenzia überstellt, verfehlt sein ihm von der Mutter aufgegebenes Berufsziel der eigenen Pfarrstelle immer wieder. Er scheitert nach oben: Nach einer kurzen Laufbahn als Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch wird er 1798 zum außerordentlichen Professor für dogmatische Theologie und hebräische Sprache ernannt, zehn Jahre später wird er Direktor des Karlsruher Lyceums, 1819 schließlich erster Prälat der Evangelischen Landeskirche, als welcher er die lutherische und die reformierte Kirche Badens fusioniert.
Jene vermeintlich glatte Oberfläche der akademischen Laufbahn, auslaufend in die Existenz eines Kirchenfunktionärs, täuscht darüber hinweg, dass man es hier mit einem Menschen zu tun bekommt, der so weltoffen, aufgeschlossen und neugierig ist wie nur wenige in seiner Epoche. Hebel liest alles. Seine Aufzeichnungen bezeugen eine intensive Kant-Lektüre wie ein gesteigertes Interesse an exotischen Tieren (dem Gyrfalk, dem Ziegenmelker, der Dronte!). Er vermerkt Reiseberichte über die Zustände im gegenwärtigen Spanien wie Fossilienfunde, notiert moralische Fragen (wie die Todesstrafe für Kindsmörder) mit derselben Gleichmut, mit der er Gedichte abschreibt. Hebels Archiv gleicht einem Kuriositätenrausch.
Zum Zweiten aber ist dieser ungeheure Wissensspeicher auch mit jenem Textkorpus verschaltet, mit dem Hebels Name bis heute verbunden und erinnert wird: den Kalendergeschichten, die Hebel ab 1802 zunächst als Mitarbeiter, alsbald als alleiniger Redakteur des Badischen Landkalenders verfasst und 1811 in Auswahl unter dem Titel "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" veröffentlicht hat. Die Herausgeber der neuen Ausgabe haben großen Wert darauf gelegt, Hebels Kalenderbeiträge sowohl in ihrer Gesamtheit nach den Erstdrucken zu edieren, als auch erstmals jene Sachtexte mit aufzunehmen, die etwa die stehenden astrologischen Kalenderrubriken - als eine fortgesetzte "Betrachtung des Weltgebäudes" - kommentierend begleiten. Die Verbindungen von Hebels eigener Lektürepraxis und seiner kalendarischen Wissensvermittlung sind augenfällig. Fortwährend sieht man Hebel angelesenes Detailwissen auserzählen.
Aber was heißt auserzählen? Es ist doch vielmehr die Kunst der Reduktion, die Hebels Poetik ausmacht. Hebel baut ab. Er liest etwa Heinrich Sanders Abhandlung "Zur Geschichte des Eichenspinners", exzerpiert die hieraus gewonnenen neuen Erkenntnisse - und nimmt ihnen sodann als Erstes den Herrschaftsgestus. Das Resultat ist ein Text mit dem Titel "Von den Processions-Raupen" - naturwissenschaftlich präzise in der Beschreibung, aber konsequent im Verzicht auf Ermächtigung. Die Raupen verwandeln sich unter der Hand in Agenten der Moral: "Oft fürchten wir, wo nichts zu fürchten ist, ein andermal sind wir leichtsinnig nahe bei der Gefahr" - so lautet die Lektion. Hat man sie durchlaufen, dann weiß man nicht nur, dass der Stich dieser Tiere "unzählig viele kleine unsichtbare Wunden" reißt. Spürbar wird dadurch auch, "was man auch sonst im menschlichen Leben so oft erfährt, und doch so wenig bedenkt": dass nämlich viele kleine Ursachen ins Große wirken - und dass es mithin leichter ist, "den Schaden zu verhüten, als wieder gut zu machen".
So bleibt in Hebels Kalendergeschichten die Natur - von Fauna und Flora über den Menschen (den man zum Beispiel "in Kälte und Hitze" kennenlernen kann) bis ins Weltall hinauf - stets eine wundersame Größe. Sie ist nicht zu beherrschen, sondern nur in Bezug auf das eigene Leben - mithin: auf das Leben des einzelnen Landkalenderlesers hin - zu verstehen. Jeder Satz in diesen Texten erschafft das Verhältnis zwischen der Welt und ihren Bewohnern neu. Jeder Satz erkundet einen fremden Planeten, macht uns mit dessen Geheimnissen vertraut, ohne uns zuzugestehen, dass wir wirklich schon viel verstanden haben. Hinüberzuschauen in ein "Thal, welches unsre Augen noch nie gesehen haben": Das ist der Grundgestus dieses Erzählens.
In seiner berühmten Rede zur Lörracher Hebelfeier 1956 hat Heidegger jene seltsame Verschränkung von furiosem Weltwissen und erzählerischer Ausnüchterung auf die Formel gebracht, Hebel "verbauere das Universum". Diesseits von allem Bauen und Wohnen liegt die Größe Hebels jedoch vor allem in seiner einzigartigen Fähigkeit, die Poesie gerade in der Beschränkung auf dasjenige zu finden, was zu wissen ist. Nur wenig trennt dabei manche Geschichten von dem, was wir heute eine Agenturmeldung zu nennen pflegen. Nicht einmal zehn Zeilen braucht er, um aus der um ein Jahr verzögerten Explosion eines Blindgängers des britischen Bombardements von Kopenhagen 1807 eine anspruchsvolle Szene zu formen. Stumm ist das Dasein der Granate unter der Erde. Zwei Knaben finden sie. Einer der beiden versucht sie mit einem Nagel zu reinigen. Dann genügt ein einziger Satz, der das Geschoss entzündet, an seinem Ende einen Toten, zwei Verstümmelte und einen ratlosen Säugling hinterlässt. Quintessenz: "Dieß lehrt vorsichtig seyn mit alten Granaden und Bomben-Kugeln." Fertig, alles gesagt - und die Welt für jede Frage offengelassen. Das kann nur Hebel.
Man möchte sich die Zeit nehmen, ganz in dieses Werk einzutauchen: die schon von Goethe früh gerühmten "Allemannischen Gedichte", von denen bis hierhin nicht zu reden natürlich schon eine Sünde für sich gewesen ist, laut zu lesen; den dunklen Irrsinn des "Almanachs des Proteus" zu erkunden; Hebels oft recht grüblerischen Korrespondenzen folgen - oder ganz einfach immer und immer wieder staunend vor dem "Unverhofften Wiedersehen" verweilen. Und wenn man die Zeit denn hätte, so bliebe über all dem am Ende doch jener eine Satz, auf den Hebel beim Sinnieren über Landschaft und Leben der Venus verfallen ist: "So viel man weiß, gerne wüßte man noch mehr."
PHILIPP THEISOHN
Johann Peter Hebel:
"Gesammelte Werke".
Herausgegeben von Jan Knopf u. a. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. Zus. 3712 S., geb., 59,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jeder Satz erkundet einen fremden Planeten: Die neue Ausgabe der Werke Johann Peter Hebels öffnet die Tür zur wilden Gelehrsamkeit.
Eingeweidewürmer sind für das achtzehnte Jahrhundert ein philosophisches Problem. Da sie außerhalb tierischer Körper nicht vorkommen und sterben, wenn man sie aus ihrem natürlichen Lebensraum entfernt, gibt es für ihre Existenz keine andere Erklärung als die, dass ihr "Same den Thieren angebohren sey". Zu diesem Schluss kommt zumindest Marcus Elieser Bloch - der Gelehrtengeschichte besser bekannt als der Begründer der modernen Ichthyologie - in seiner 1782 erschienenen Abhandlung "Von der Erzeugung der Eingeweidewürmer und den Mitteln wider dieselben". Da man im achtzehnten Jahrhundert von Pasteurs Keimtheorie noch nichts ahnt, verwandelt sich somit eine gründlich axiomatische Studie auf dem Feld der Naturkunde in die Hypothese eines vererbbaren Parasitismus: Die Krankheit ist mit uns, in uns, noch ehe wir geboren sind.
Die Merkwürdigkeit dieser Überlegungen verzeichnet ein anderer, nämlich der zweiundzwanzigjährige Hauslehrer Johann Peter Hebel, der Blochs Theorie aus deren ausführlicher Darlegung in den "Gothaischen gelehrten Zeitungen" exzerpiert. Die Würmer finden sich dort, in Hebels erstem Exzerptheft, wieder inmitten von Auszügen aus dem "Magazin fürs Frauenzimmer" (etwa zur Frage, wie man "bei beiden Geschlechtern den Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft erkennen" kann), dicht gefolgt von "Bemerkungen über Japan", Notaten zum Unterricht der Proselyten, über die "erdigen Körper" (zum Beispiel den Meerschaum), zu Otfrid von Weißenburg, zu Alter und Größe der Erde, zu Platons Symposion und zum Erfinder der Schachmaschine.
Wurmgleich frisst sich Hebel in seinem Wissenshunger quer durch den Blätterwald der Aufklärung, ohne Rücksicht auf Fakultäten und Disziplinen. Immer wieder kommt es dabei zu verblüffenden Korrespondenzen: Auf Blochs Eingeweidewürmer folgt eine Reflexion zur Auslegung des ersten Korintherbriefes, in deren Zentrum die Frage nach den Körpern der auferweckten Toten steht. Der Verstand, der die beiden Exzerpte aneinandergefügt hat, gibt sich nicht zu erkennen. Und doch erahnt man ihn hinter den Zeilen: Hier der diesseitige Leib der eingeborenen Schädlinge, dort der jenseitige, "künftige" Leib, der "wirklich vom gegenwärtigen verschiden sein" muss und dessen besondere Qualität "allein in der Unsterblichkeit zu suchen" ist. Zwischen dem Niedersten und dem Höchsten liegt nur ein Gedankensprung, ein Umblättern. Gleich, ob sie sich mit theologischen Grundfragen oder mit der Perspektivenlehre befasst, ob sie Moses Mendelssohns Vorlesungen, entomologische Funde oder den noch unentlarvten Ossian referiert: Immer wird Hebels Schrift getragen von der Überzeugung, dass all das durch eine Wahrheit zusammengehalten wird. Und dass es gar nicht nötig ist, diesen Zusammenhang auszusprechen, sondern sich dieser wie von selbst aus der Überführung der Welt in Worte - gleich welchen Ursprungs - ergibt.
Ansichtig wird uns jenes Kaleidoskop wilder Gelehrsamkeit in der sechsbändigen, von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann edierten Ausgabe von Hebels Werken, in deren zweitem Band erstmals das Konvolut der Exzerpthefte vollständig einzusehen ist. Zum Vorschein kommt hierbei zum Ersten die wissensgeschichtliche Unterseite einer in sich gespaltenen intellektuellen Biographie. Hebel, 1760 in Hausen im Wiesental geboren und im Alter von zwölf Jahren als Vollwaise der Obhut der Karlsruher Intelligenzia überstellt, verfehlt sein ihm von der Mutter aufgegebenes Berufsziel der eigenen Pfarrstelle immer wieder. Er scheitert nach oben: Nach einer kurzen Laufbahn als Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch wird er 1798 zum außerordentlichen Professor für dogmatische Theologie und hebräische Sprache ernannt, zehn Jahre später wird er Direktor des Karlsruher Lyceums, 1819 schließlich erster Prälat der Evangelischen Landeskirche, als welcher er die lutherische und die reformierte Kirche Badens fusioniert.
Jene vermeintlich glatte Oberfläche der akademischen Laufbahn, auslaufend in die Existenz eines Kirchenfunktionärs, täuscht darüber hinweg, dass man es hier mit einem Menschen zu tun bekommt, der so weltoffen, aufgeschlossen und neugierig ist wie nur wenige in seiner Epoche. Hebel liest alles. Seine Aufzeichnungen bezeugen eine intensive Kant-Lektüre wie ein gesteigertes Interesse an exotischen Tieren (dem Gyrfalk, dem Ziegenmelker, der Dronte!). Er vermerkt Reiseberichte über die Zustände im gegenwärtigen Spanien wie Fossilienfunde, notiert moralische Fragen (wie die Todesstrafe für Kindsmörder) mit derselben Gleichmut, mit der er Gedichte abschreibt. Hebels Archiv gleicht einem Kuriositätenrausch.
Zum Zweiten aber ist dieser ungeheure Wissensspeicher auch mit jenem Textkorpus verschaltet, mit dem Hebels Name bis heute verbunden und erinnert wird: den Kalendergeschichten, die Hebel ab 1802 zunächst als Mitarbeiter, alsbald als alleiniger Redakteur des Badischen Landkalenders verfasst und 1811 in Auswahl unter dem Titel "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" veröffentlicht hat. Die Herausgeber der neuen Ausgabe haben großen Wert darauf gelegt, Hebels Kalenderbeiträge sowohl in ihrer Gesamtheit nach den Erstdrucken zu edieren, als auch erstmals jene Sachtexte mit aufzunehmen, die etwa die stehenden astrologischen Kalenderrubriken - als eine fortgesetzte "Betrachtung des Weltgebäudes" - kommentierend begleiten. Die Verbindungen von Hebels eigener Lektürepraxis und seiner kalendarischen Wissensvermittlung sind augenfällig. Fortwährend sieht man Hebel angelesenes Detailwissen auserzählen.
Aber was heißt auserzählen? Es ist doch vielmehr die Kunst der Reduktion, die Hebels Poetik ausmacht. Hebel baut ab. Er liest etwa Heinrich Sanders Abhandlung "Zur Geschichte des Eichenspinners", exzerpiert die hieraus gewonnenen neuen Erkenntnisse - und nimmt ihnen sodann als Erstes den Herrschaftsgestus. Das Resultat ist ein Text mit dem Titel "Von den Processions-Raupen" - naturwissenschaftlich präzise in der Beschreibung, aber konsequent im Verzicht auf Ermächtigung. Die Raupen verwandeln sich unter der Hand in Agenten der Moral: "Oft fürchten wir, wo nichts zu fürchten ist, ein andermal sind wir leichtsinnig nahe bei der Gefahr" - so lautet die Lektion. Hat man sie durchlaufen, dann weiß man nicht nur, dass der Stich dieser Tiere "unzählig viele kleine unsichtbare Wunden" reißt. Spürbar wird dadurch auch, "was man auch sonst im menschlichen Leben so oft erfährt, und doch so wenig bedenkt": dass nämlich viele kleine Ursachen ins Große wirken - und dass es mithin leichter ist, "den Schaden zu verhüten, als wieder gut zu machen".
So bleibt in Hebels Kalendergeschichten die Natur - von Fauna und Flora über den Menschen (den man zum Beispiel "in Kälte und Hitze" kennenlernen kann) bis ins Weltall hinauf - stets eine wundersame Größe. Sie ist nicht zu beherrschen, sondern nur in Bezug auf das eigene Leben - mithin: auf das Leben des einzelnen Landkalenderlesers hin - zu verstehen. Jeder Satz in diesen Texten erschafft das Verhältnis zwischen der Welt und ihren Bewohnern neu. Jeder Satz erkundet einen fremden Planeten, macht uns mit dessen Geheimnissen vertraut, ohne uns zuzugestehen, dass wir wirklich schon viel verstanden haben. Hinüberzuschauen in ein "Thal, welches unsre Augen noch nie gesehen haben": Das ist der Grundgestus dieses Erzählens.
In seiner berühmten Rede zur Lörracher Hebelfeier 1956 hat Heidegger jene seltsame Verschränkung von furiosem Weltwissen und erzählerischer Ausnüchterung auf die Formel gebracht, Hebel "verbauere das Universum". Diesseits von allem Bauen und Wohnen liegt die Größe Hebels jedoch vor allem in seiner einzigartigen Fähigkeit, die Poesie gerade in der Beschränkung auf dasjenige zu finden, was zu wissen ist. Nur wenig trennt dabei manche Geschichten von dem, was wir heute eine Agenturmeldung zu nennen pflegen. Nicht einmal zehn Zeilen braucht er, um aus der um ein Jahr verzögerten Explosion eines Blindgängers des britischen Bombardements von Kopenhagen 1807 eine anspruchsvolle Szene zu formen. Stumm ist das Dasein der Granate unter der Erde. Zwei Knaben finden sie. Einer der beiden versucht sie mit einem Nagel zu reinigen. Dann genügt ein einziger Satz, der das Geschoss entzündet, an seinem Ende einen Toten, zwei Verstümmelte und einen ratlosen Säugling hinterlässt. Quintessenz: "Dieß lehrt vorsichtig seyn mit alten Granaden und Bomben-Kugeln." Fertig, alles gesagt - und die Welt für jede Frage offengelassen. Das kann nur Hebel.
Man möchte sich die Zeit nehmen, ganz in dieses Werk einzutauchen: die schon von Goethe früh gerühmten "Allemannischen Gedichte", von denen bis hierhin nicht zu reden natürlich schon eine Sünde für sich gewesen ist, laut zu lesen; den dunklen Irrsinn des "Almanachs des Proteus" zu erkunden; Hebels oft recht grüblerischen Korrespondenzen folgen - oder ganz einfach immer und immer wieder staunend vor dem "Unverhofften Wiedersehen" verweilen. Und wenn man die Zeit denn hätte, so bliebe über all dem am Ende doch jener eine Satz, auf den Hebel beim Sinnieren über Landschaft und Leben der Venus verfallen ist: "So viel man weiß, gerne wüßte man noch mehr."
PHILIPP THEISOHN
Johann Peter Hebel:
"Gesammelte Werke".
Herausgegeben von Jan Knopf u. a. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. Zus. 3712 S., geb., 59,- [Euro].
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»Die Kalendergeschichten und Gedichte, Predigten und Briefe von Johann Peter Hebel laden in einer opulenten, erhellend kommentierten Leseausgabe zum "Unverhofften Wiedersehen" ein.« (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 24.12.2019) »Die neue Ausgabe der Werke Johann Peter Hebels öffnet die Tür zur wilden Gelehrsamkeit.« (Philipp Theisohn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2019) »Eine Hebel-Ausgabe in diesem Umfang und in dieser Qualität hat es noch nie gegeben.« (Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 27.10.2019) Die »sechs Bände (...) sind ein Schatz. Als öffne Johann Peter Hebel mit dieser Leseausgabe sein Inneres.« (Gerwig Epkes, SWR2, 22.12.2019) »Die in lichtem blauen Leinen gebundene Ausgabe setzt naturgemäß Maßstäbe. Der ganze Hebel! Endlich!« (Bettina Schulte, Badische Zeitung, 21.12.2019) »ein Schatzkästlein mit Riesenperlen.« (SonntagsBlick Magazin, 10.11.2019) »Die Ausgabe bietet (...) eine ergiebige Fülle von kompetent erschlossenen Texten, Dokumenten und Zeugnissen (...), die Johann Peter Hebel in helles, bisweilen auch ungewohntes Licht rücken.« (Rüdiger Krohn, Badische Neueste Nachrichten, 06.11.2019) eine »prachtvolle Lese- und Studienausgabe« (Andreas Kohm, Mannheimer Morgen, 19.02.2020) »Das sind wahrlich immerwährende Kalendergeschichten.« (Das Magazin, März 2020) »Es ist gut, dass seine Werke jetzt in der prächtigen und sorgfältig edierten Ausgabe des Verlags Wallstein lieferbar sind.« (Gerhard Henschel, junge Welt, 10.06.2020)