Dieser Band enthält die vollständige Veröffentlichung des Bremer Vortragszyklus "Einblick in das was ist" (1949) und des Freiburger Vortragszyklus "Grundsätze des Denkens" (1957). Beide Vortragsreihen gaben zum Zeitpunkt ihres mündlichen Vortrags und der nachfolgenden, allerdings nur teilweisen Veröffentlichung einem breiteren Publikum einen - wenn auch noch begrenzten - Einblick in das seynsgeschichtliche Denken des späten Heidegger. Die "Bremer Vorträge" entfalten unter dem Titel "Einblick in das was ist" am Leitfaden der Frage nach dem vollen Wesen des Dinges und seiner Verwahrung im Zeitalter der Technik als der Herrschaft des "Ge-Stells", in dem das Seiende nur noch in der Gestalt des bestellbaren Bestandes erscheint, die wesentliche Frage nach dem Grundgeschehen dieser seynsgeschichtlichen Konstellation und der in ihr verborgenen Gefahr und ihrer möglichen Überwindung. Die eigentliche Gefahr dieses Zeitalters sieht Heidegger in der vollständigen Verschüttung der Unverborgenheit des Seienden, die im epochalen geschichtlichen Wechselspiel von Entbergung und Verbergung, von Lichtung und Verborgenheit des Seyns im Ereignis ihren Ort hat. Die "Freiburger Vorträge" sind als Versuch, das Denken aus seinen Grundsätzen zu erfahren, das geschichtliche Wagnis, sich in die weltgeschichtliche Unentschiedenheit des Denkens einzulassen. Dieser Versuch hinterfragt die herkömmlich so genannten Grundsätze des Denkens - wie die Sätze der Identität, des Widerspruchs und des Grundes - in eine Überlieferung des Denkens, die uns zu einer anderen Aneignung befreit und so eine Verwandlung des Denkens ermöglicht, das unser Zeitalter beherrscht. Er fragt zurück in den Ort der Herkunft der Denkgesetze, in den keine Wissenschaft hineinreicht, d.h. in jenen anderen Bereich der Ortschaft der Identität von Denken und Sein und damit in jene andere Identität als Zusammengehören, die als Zueignung von Mensch und Sein im Ereignis der Lichtung des Seyns west.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2020Im Editionsbunker
Neues von Martin Heidegger: In seinen „Vorträgen“ lässt sich nachvollziehen, wie er sich von einem
der auslegungsstärksten und manipulativsten Denker weiterentwickelte - aber Wichtiges fehlt
VON THOMAS MEYER
Es ist sehr ruhig um Martin Heidegger geworden. Fast scheint es, als habe seine nach 1945 sich selbst und der Welt anempfohlene „Gelassenheit“ auch die schärfsten Kritiker in einen Zustand der Entspannung versetzt. Die letzten Lieferungen der sogenannten „Schwarzen Hefte“ boten denn auch tatsächlich keinen Grund zur Aufregung mehr. Vor sechs Jahren war das anders, als die ersten Bände von Heideggers angeblich zum Abschluss der „Gesamtausgabe“ vorgesehenen Aufzeichnungen erschienen. Darin wurde seine zwischen 1933 und 1943 betriebene Amalgamierung von Seinsdenken und antisemitischen Vernichtungsfantasien erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Wer die soeben vorgelegten Notate unter dem Titel „Winke I und II“, die die Jahre 1957 bis 1959 abdecken, in die Hand nimmt, mag sich fragen, ob außer dem Sein und Heidegger selbst sich noch jemand angesprochen fühlen kann. Selbst wer die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens beherrscht und fortgeschrittene Kenntnisse der gehobenen Wortschöpfungslehre mitbringt, wird sich bei der Lektüre schwertun – denn es gilt: „Je einfacher das zu Denkende sich lichtet, umso einsamer wird das Denken der Enteignis im Eigentum überantwortet, wovon niemand wissen darf, was auch in diesen Zeilen ungesagt bleibt.“
„Winke I und II“ und die anderen sogenannten „Schwarzen Hefte“ bekommen nur dann eine aufklärende Funktion, wenn sie konsequent als Selbstauskünfte gelesen werden. Wer die These prüfen möchte, der sollte zu der wohl wichtigsten Interpretation Heideggers greifen, die in den letzten gut zehn Jahren vorgelegt wurde: Oliver Prechts gerade im Meiner-Verlag publiziertes Buch über die „Selbst- und Fremdbestimmung“ von Heideggers Philosophie bietet eine brillante Rekonstruktion des denknotwendigen Umschlags von totaler Seinsbesinnung in totale Politik.
Wie sich Heideggers Verwandlung vom ebenso auslegungsstärksten wie manipulativsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zum Denker der Gelassenheit entwickelte, kann man nun in einer zweibändigen Textsammlung ansatzweise nachvollziehen. Günther Neumann hat sie unter dem Titel „Vorträge“ herausgegeben: Texte Martin Heideggers von 1915 bis 1932 und von 1935 bis 1967, zumeist aus Handschriften, häufig bislang unveröffentlicht, mit ausführlichen Kommentaren zur Entstehungsgeschichte versehen.
Alles beginnt 1915, also in dem Jahr, in dem sich der 26-jährige Heidegger in Freiburg habilitiert. Eine eigene Stimme Heideggers wird erstmals 1923/24 vernehmbar, als er innerhalb einer Aristoteles-Auslegung sein eigensinniges Vokabular vorstellt und dies wiederum an die griechischen Begriffe zurückbindet. Liest man den Text gemeinsam mit den hier erneut abgedruckten Kasseler Vorlesungen über Wilhelm Dilthey und dessen Geschichtsverständnis aus dem Jahr 1925, dann lassen sich die Umrisse von „Sein und Zeit“, dem zwei Jahre später erschienenen Hauptwerk Heideggers, präzise ausmachen.
Bis 1932 kann man zwei Tendenzen feststellen: einerseits die Erprobung jener „Fundamentontologie“, die das Ergebnis einer selbst verordneten „Destruktion“ der traditionellen Metaphysik darstellt. Das auf den Begriff des „Daseins“ zentrierte Denken wird in Abgleich mit Kant und Hegel sowie mit Max Schelers „philosophischer Anthropologie“ erprobt. Heidegger erlangt am Ende der Weimarer Republik internationale Aufmerksamkeit, die er nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit Ernst Cassirer in Davos 1929 verdankt. In Frankreich, aber auch in den Niederlanden, in Italien, Großbritannien, in Japan und auch in den USA machen sich Studierende auf, um in Freiburg eine gänzlich „andere“ Philosophie zu hören, die aus den Grenzen der Überlieferung ausbrechen möchte. Hierin treten gleichermaßen die Energie und die „Waffengewalt“ (Cassirer) auf, mit der Heidegger durch die Überlieferung hindurch auf die „Lichtung“ drängt: dorthin, wo das Sein ausschließlich zu ihm spricht.
Warum Neumann die in mehreren Archiven vorliegende und von Heidegger abgesegnete Nachschrift eines Vortrags über das „Wesen der Wahrheit“ nicht abgedruckt hat, bleibt sein Geheimnis. Am 24. Mai 1926 legte Heidegger erstmals konsequent „Wahrheit“ als „Unverborgenheit“ aus, ein Motiv, an dem er bis zum Tod fünfzig Jahre später festhielt.
Die in Marburg gehaltene und längst ins Englische übersetzte Rede kann in ihrer Bedeutung also gar nicht überschätzt werden, zumal die späteren Varianten ohne den ersten Durchbruchsversuch zu einer radikal neuen Sicht auf „Wahrheit“ in der Luft hängen. Da helfen die grundsätzlich sehr wichtigen Bemerkungen zu den ab 1930 überlieferten Ausführungen nur wenig weiter.
Doch das wirkt wie eine lässliche Sünde angesichts der wesentlich gravierenderen Entscheidung Neumanns, im Jahr 1932 abzubrechen, um dann erst drei Jahre später wieder einzusetzen. Fehlt da nicht was? Nicht für den Herausgeber: Mit dem Hinweis, dass die Texte des ausgelassenen Zeitraums ja in Band 16 der Gesamtausgabe versammelt seien, glaubt er sich salviert.
Das ist freundlich ausgedrückt: dreist. Jener 16. Band, der insgesamt 290 Reden und andere Dokumente aus den Jahren 1910 bis 1976 enthält, war von Heideggers Sohn Hermann im Jahr 2000 ediert worden. Innerhalb der Orthodoxie gilt er vor allem für die Jahre 1933 bis 1934 als autoritative Sammlung dessen, was Heidegger als Rektor der Freiburger Universität so schrieb und verkündete. Abgedruckt wurde, so der Sohn, gemäß der in seinem Besitz befindlichen Drucke, gelegentlich wurden wohl auch Anmerkungen Heideggers eingefügt.
Neumann hingegen hat seine Bände nach den in Marbach lagernden Handschriften gestaltet. Nun liegen in Marbach aber auch Handschriften, die aus den drei ausgelassenen Jahren stammen. Allen voran die sogenannte Rektoratsrede, die Heidegger am 27. Mai 1933 in Freiburg hielt. Sie fehlt natürlich bei Neumann. Sieht man von den zahllosen Widersprüchen ab, die Neumann zwischen Mitschriften, Nachschriften und anderen Überlieferungsformen überwinden muss, um Texte mal abzudrucken, dann wieder nicht – die genannten Kasseler Vorträge etwa dürften gar nicht rein, denn eine Handschrift von Heidegger fehlt – dann mag man verzweifeln, ob des nicht vorhandenen Aufklärungswillens des engsten Kreises um den toten Denker.
Wer je die Rektoratsrede in Heideggers handschriftlicher Fassung las, dazu die zahlreichen Anmerkungen und Korrekturen, kennt sein Ringen, Nationalsozialismus und das eigene Denken in eine Form zu bringen. Man hätte vergleichen können, wie sich Heidegger beim Abfassen radikalisiert, wie der Übergang hin zu der einen Monat später gehaltenen Rede in Heidelberg zu erklären ist, in der Heidegger laut dem anwesenden Journalisten der Frankfurter Zeitung donnerte: „Wir aber wollen ein Geschirr, aus dem wir trinken, und einen Trank, aus dem wir wieder existieren können. Ein Geschirr, und wenn es nur ein irdenes, einfaches Bauerngeschirr ist“ – und ansonsten aufrief, das „Opfer“ der toten Soldaten des Ersten Weltkriegs zu wiederholen.
Wäre es also nicht angebracht gewesen, schon um die von Wohlwollenden seit Jahrzehnten angemahnte Transparenz wenigstens anzustreben, angesichts des zu Recht völlig desaströsen Rufs Heideggers endlich Einsicht zu zeigen, dass man nicht beides seriös haben kann: Öffentlichkeit und Verehrungsforderung? Denn bis in den Kommentar hinein wird die geleistete Arbeit als Geschenk an die nicht denkende Leserschaft – Heideggers Generalverdacht gegenüber der Philosophenzunft und der „Menschheit“ gleichermaßen – verkauft.
Doch es fehlen nicht nur die drei Jahre. Neumann hat wirklich immense Arbeit geleistet, etwa um die Genese der berühmten Frankfurter und Freiburger Vorträge unter dem Titel „Ursprung des Kunstwerks“ aufzuhellen. Er geht hier weiter als frühere Herausgeber.
Und zugleich finden sich alte Ressentiments wieder. Ein Beispiel mag genügen: Dolf Sternberger, der 1933 in Heidelberg anwesende Journalist und spätere Ordinarius für Politikwissenschaft, war seit Beginn der Dreißigerjahre ein scharfer Heidegger-Kritiker – bei Neumann kommt er, wenn überhaupt, nur als „D. St.“, also mit dem Redaktionskürzel, vor. Kurz: Was soll das? Dieser Band, der noch heute faszinierende Texte Heideggers liefert, so zu „Bauen Wohnen Denken“, „Hegel und die Griechen“ oder die Rede zum Gedenken an den Literaturwissenschaftler Max Kommerell, ist ein Ärgernis. Heidegger wird letztlich nicht ernst genommen, wenn man ihn einer im Editionsbunker sitzenden Verweigerertruppe überlässt, die sich auf imaginierte höhere Befehle beruft. Und wie so häufig muss zugleich festgestellt werden: Wer Heidegger und seine Wirkung verstehen möchte, kommt an dem Ärgernis nicht vorbei.
Dass der für seine Treue zu Heidegger nur zu bewundernde Verlag Klostermann hier die letzte Hoffnung ist, zeigt die von Peter Trawny neu herausgegebene Vorlesung „Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache“ vom Sommersemester 1934, die erstmals 1998 erschien. Die neue Manuskript-Lage verlangte eine Neuedition, die, in den Grenzen einer „Ausgabe letzter Hand“, vorbildlich genannt werden kann – und die einspringen mag an die Stelle, die Neumann fatalerweise offen ließ.
Martin Heidegger: Vorträge. Hrsg. von Günther Neumann, Teil 1 (Bd. 80.1 d. GA): 1915–1932, 532 S., 58 Euro, Teil 2 (Bd. 80.2. d. GA): 1935– 1967, 868 S., 79 Euro, 2020.
Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. Auf der Grundlage des Originalmanuskripts neu herausgegeben v. Peter Trawny, 200 S., 39 Euro, 2020.
Martin Heidegger: Winke I und II (Schwarze Hefte 1957–1959, Bd. 101 d. GA). Hrsg. von Peter Trawny, 219 S., 36 Euro, 2020.
Alle Bände sind im Klostermann-Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.
Alles beginnt 1915, also in dem
Jahr, in dem sich der 26-jährige
Heidegger in Freiburg habilitiert
Die in Marburg gehaltene Rede
kann in ihrer Bedeutung
nicht überschätzt werden
Sein Ringen, Nationalsozialismus
und das eigene Denken
in eine Form zu bringen
Öffentlichkeit und
Verehrungsforderung
kann man nicht zugleich haben
Martin Heidegger (1889 – 1976) bei einem Seminar in Tübingen Anfang der Sechzigerjahre.
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Neues von Martin Heidegger: In seinen „Vorträgen“ lässt sich nachvollziehen, wie er sich von einem
der auslegungsstärksten und manipulativsten Denker weiterentwickelte - aber Wichtiges fehlt
VON THOMAS MEYER
Es ist sehr ruhig um Martin Heidegger geworden. Fast scheint es, als habe seine nach 1945 sich selbst und der Welt anempfohlene „Gelassenheit“ auch die schärfsten Kritiker in einen Zustand der Entspannung versetzt. Die letzten Lieferungen der sogenannten „Schwarzen Hefte“ boten denn auch tatsächlich keinen Grund zur Aufregung mehr. Vor sechs Jahren war das anders, als die ersten Bände von Heideggers angeblich zum Abschluss der „Gesamtausgabe“ vorgesehenen Aufzeichnungen erschienen. Darin wurde seine zwischen 1933 und 1943 betriebene Amalgamierung von Seinsdenken und antisemitischen Vernichtungsfantasien erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Wer die soeben vorgelegten Notate unter dem Titel „Winke I und II“, die die Jahre 1957 bis 1959 abdecken, in die Hand nimmt, mag sich fragen, ob außer dem Sein und Heidegger selbst sich noch jemand angesprochen fühlen kann. Selbst wer die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens beherrscht und fortgeschrittene Kenntnisse der gehobenen Wortschöpfungslehre mitbringt, wird sich bei der Lektüre schwertun – denn es gilt: „Je einfacher das zu Denkende sich lichtet, umso einsamer wird das Denken der Enteignis im Eigentum überantwortet, wovon niemand wissen darf, was auch in diesen Zeilen ungesagt bleibt.“
„Winke I und II“ und die anderen sogenannten „Schwarzen Hefte“ bekommen nur dann eine aufklärende Funktion, wenn sie konsequent als Selbstauskünfte gelesen werden. Wer die These prüfen möchte, der sollte zu der wohl wichtigsten Interpretation Heideggers greifen, die in den letzten gut zehn Jahren vorgelegt wurde: Oliver Prechts gerade im Meiner-Verlag publiziertes Buch über die „Selbst- und Fremdbestimmung“ von Heideggers Philosophie bietet eine brillante Rekonstruktion des denknotwendigen Umschlags von totaler Seinsbesinnung in totale Politik.
Wie sich Heideggers Verwandlung vom ebenso auslegungsstärksten wie manipulativsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zum Denker der Gelassenheit entwickelte, kann man nun in einer zweibändigen Textsammlung ansatzweise nachvollziehen. Günther Neumann hat sie unter dem Titel „Vorträge“ herausgegeben: Texte Martin Heideggers von 1915 bis 1932 und von 1935 bis 1967, zumeist aus Handschriften, häufig bislang unveröffentlicht, mit ausführlichen Kommentaren zur Entstehungsgeschichte versehen.
Alles beginnt 1915, also in dem Jahr, in dem sich der 26-jährige Heidegger in Freiburg habilitiert. Eine eigene Stimme Heideggers wird erstmals 1923/24 vernehmbar, als er innerhalb einer Aristoteles-Auslegung sein eigensinniges Vokabular vorstellt und dies wiederum an die griechischen Begriffe zurückbindet. Liest man den Text gemeinsam mit den hier erneut abgedruckten Kasseler Vorlesungen über Wilhelm Dilthey und dessen Geschichtsverständnis aus dem Jahr 1925, dann lassen sich die Umrisse von „Sein und Zeit“, dem zwei Jahre später erschienenen Hauptwerk Heideggers, präzise ausmachen.
Bis 1932 kann man zwei Tendenzen feststellen: einerseits die Erprobung jener „Fundamentontologie“, die das Ergebnis einer selbst verordneten „Destruktion“ der traditionellen Metaphysik darstellt. Das auf den Begriff des „Daseins“ zentrierte Denken wird in Abgleich mit Kant und Hegel sowie mit Max Schelers „philosophischer Anthropologie“ erprobt. Heidegger erlangt am Ende der Weimarer Republik internationale Aufmerksamkeit, die er nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit Ernst Cassirer in Davos 1929 verdankt. In Frankreich, aber auch in den Niederlanden, in Italien, Großbritannien, in Japan und auch in den USA machen sich Studierende auf, um in Freiburg eine gänzlich „andere“ Philosophie zu hören, die aus den Grenzen der Überlieferung ausbrechen möchte. Hierin treten gleichermaßen die Energie und die „Waffengewalt“ (Cassirer) auf, mit der Heidegger durch die Überlieferung hindurch auf die „Lichtung“ drängt: dorthin, wo das Sein ausschließlich zu ihm spricht.
Warum Neumann die in mehreren Archiven vorliegende und von Heidegger abgesegnete Nachschrift eines Vortrags über das „Wesen der Wahrheit“ nicht abgedruckt hat, bleibt sein Geheimnis. Am 24. Mai 1926 legte Heidegger erstmals konsequent „Wahrheit“ als „Unverborgenheit“ aus, ein Motiv, an dem er bis zum Tod fünfzig Jahre später festhielt.
Die in Marburg gehaltene und längst ins Englische übersetzte Rede kann in ihrer Bedeutung also gar nicht überschätzt werden, zumal die späteren Varianten ohne den ersten Durchbruchsversuch zu einer radikal neuen Sicht auf „Wahrheit“ in der Luft hängen. Da helfen die grundsätzlich sehr wichtigen Bemerkungen zu den ab 1930 überlieferten Ausführungen nur wenig weiter.
Doch das wirkt wie eine lässliche Sünde angesichts der wesentlich gravierenderen Entscheidung Neumanns, im Jahr 1932 abzubrechen, um dann erst drei Jahre später wieder einzusetzen. Fehlt da nicht was? Nicht für den Herausgeber: Mit dem Hinweis, dass die Texte des ausgelassenen Zeitraums ja in Band 16 der Gesamtausgabe versammelt seien, glaubt er sich salviert.
Das ist freundlich ausgedrückt: dreist. Jener 16. Band, der insgesamt 290 Reden und andere Dokumente aus den Jahren 1910 bis 1976 enthält, war von Heideggers Sohn Hermann im Jahr 2000 ediert worden. Innerhalb der Orthodoxie gilt er vor allem für die Jahre 1933 bis 1934 als autoritative Sammlung dessen, was Heidegger als Rektor der Freiburger Universität so schrieb und verkündete. Abgedruckt wurde, so der Sohn, gemäß der in seinem Besitz befindlichen Drucke, gelegentlich wurden wohl auch Anmerkungen Heideggers eingefügt.
Neumann hingegen hat seine Bände nach den in Marbach lagernden Handschriften gestaltet. Nun liegen in Marbach aber auch Handschriften, die aus den drei ausgelassenen Jahren stammen. Allen voran die sogenannte Rektoratsrede, die Heidegger am 27. Mai 1933 in Freiburg hielt. Sie fehlt natürlich bei Neumann. Sieht man von den zahllosen Widersprüchen ab, die Neumann zwischen Mitschriften, Nachschriften und anderen Überlieferungsformen überwinden muss, um Texte mal abzudrucken, dann wieder nicht – die genannten Kasseler Vorträge etwa dürften gar nicht rein, denn eine Handschrift von Heidegger fehlt – dann mag man verzweifeln, ob des nicht vorhandenen Aufklärungswillens des engsten Kreises um den toten Denker.
Wer je die Rektoratsrede in Heideggers handschriftlicher Fassung las, dazu die zahlreichen Anmerkungen und Korrekturen, kennt sein Ringen, Nationalsozialismus und das eigene Denken in eine Form zu bringen. Man hätte vergleichen können, wie sich Heidegger beim Abfassen radikalisiert, wie der Übergang hin zu der einen Monat später gehaltenen Rede in Heidelberg zu erklären ist, in der Heidegger laut dem anwesenden Journalisten der Frankfurter Zeitung donnerte: „Wir aber wollen ein Geschirr, aus dem wir trinken, und einen Trank, aus dem wir wieder existieren können. Ein Geschirr, und wenn es nur ein irdenes, einfaches Bauerngeschirr ist“ – und ansonsten aufrief, das „Opfer“ der toten Soldaten des Ersten Weltkriegs zu wiederholen.
Wäre es also nicht angebracht gewesen, schon um die von Wohlwollenden seit Jahrzehnten angemahnte Transparenz wenigstens anzustreben, angesichts des zu Recht völlig desaströsen Rufs Heideggers endlich Einsicht zu zeigen, dass man nicht beides seriös haben kann: Öffentlichkeit und Verehrungsforderung? Denn bis in den Kommentar hinein wird die geleistete Arbeit als Geschenk an die nicht denkende Leserschaft – Heideggers Generalverdacht gegenüber der Philosophenzunft und der „Menschheit“ gleichermaßen – verkauft.
Doch es fehlen nicht nur die drei Jahre. Neumann hat wirklich immense Arbeit geleistet, etwa um die Genese der berühmten Frankfurter und Freiburger Vorträge unter dem Titel „Ursprung des Kunstwerks“ aufzuhellen. Er geht hier weiter als frühere Herausgeber.
Und zugleich finden sich alte Ressentiments wieder. Ein Beispiel mag genügen: Dolf Sternberger, der 1933 in Heidelberg anwesende Journalist und spätere Ordinarius für Politikwissenschaft, war seit Beginn der Dreißigerjahre ein scharfer Heidegger-Kritiker – bei Neumann kommt er, wenn überhaupt, nur als „D. St.“, also mit dem Redaktionskürzel, vor. Kurz: Was soll das? Dieser Band, der noch heute faszinierende Texte Heideggers liefert, so zu „Bauen Wohnen Denken“, „Hegel und die Griechen“ oder die Rede zum Gedenken an den Literaturwissenschaftler Max Kommerell, ist ein Ärgernis. Heidegger wird letztlich nicht ernst genommen, wenn man ihn einer im Editionsbunker sitzenden Verweigerertruppe überlässt, die sich auf imaginierte höhere Befehle beruft. Und wie so häufig muss zugleich festgestellt werden: Wer Heidegger und seine Wirkung verstehen möchte, kommt an dem Ärgernis nicht vorbei.
Dass der für seine Treue zu Heidegger nur zu bewundernde Verlag Klostermann hier die letzte Hoffnung ist, zeigt die von Peter Trawny neu herausgegebene Vorlesung „Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache“ vom Sommersemester 1934, die erstmals 1998 erschien. Die neue Manuskript-Lage verlangte eine Neuedition, die, in den Grenzen einer „Ausgabe letzter Hand“, vorbildlich genannt werden kann – und die einspringen mag an die Stelle, die Neumann fatalerweise offen ließ.
Martin Heidegger: Vorträge. Hrsg. von Günther Neumann, Teil 1 (Bd. 80.1 d. GA): 1915–1932, 532 S., 58 Euro, Teil 2 (Bd. 80.2. d. GA): 1935– 1967, 868 S., 79 Euro, 2020.
Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. Auf der Grundlage des Originalmanuskripts neu herausgegeben v. Peter Trawny, 200 S., 39 Euro, 2020.
Martin Heidegger: Winke I und II (Schwarze Hefte 1957–1959, Bd. 101 d. GA). Hrsg. von Peter Trawny, 219 S., 36 Euro, 2020.
Alle Bände sind im Klostermann-Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.
Alles beginnt 1915, also in dem
Jahr, in dem sich der 26-jährige
Heidegger in Freiburg habilitiert
Die in Marburg gehaltene Rede
kann in ihrer Bedeutung
nicht überschätzt werden
Sein Ringen, Nationalsozialismus
und das eigene Denken
in eine Form zu bringen
Öffentlichkeit und
Verehrungsforderung
kann man nicht zugleich haben
Martin Heidegger (1889 – 1976) bei einem Seminar in Tübingen Anfang der Sechzigerjahre.
Foto: MAGNO/Franz Hubmann/Süddeutsche Zeitung Photo
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