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Gesamtausgabe   (Mängelexemplar) - Frank, Anne
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Die einzige Gesamtausgabe sämtlicher Texte von Anne Frank -- mit bislang unveröffentlichten Briefen und Schriften und vielen Fotos
Ein Ereignis: Zum ersten Mal erscheinen sämtliche Texte von Anne Frank in einem Band, darunter auch bislang Unveröffentlichtes. Die Ausgabe enthält sowohl die beiden Fassungen des Tagebuchs von Anne Frank selbst (sie schrieb ihr Tagebuch zunächst für sich und arbeitete später an einer Fassung für eine etwaige Veröffentlichung) als auch die von Otto Frank und der Übersetzerin Mirjam Pressler aus den beiden ursprünglichen Versionen kompilierte, mittlerweile…mehr

Produktbeschreibung
Die einzige Gesamtausgabe sämtlicher Texte von Anne Frank -- mit bislang unveröffentlichten Briefen und Schriften und vielen Fotos

Ein Ereignis: Zum ersten Mal erscheinen sämtliche Texte von Anne Frank in einem Band, darunter auch bislang Unveröffentlichtes. Die Ausgabe enthält sowohl die beiden Fassungen des Tagebuchs von Anne Frank selbst (sie schrieb ihr Tagebuch zunächst für sich und arbeitete später an einer Fassung für eine etwaige Veröffentlichung) als auch die von Otto Frank und der Übersetzerin Mirjam Pressler aus den beiden ursprünglichen Versionen kompilierte, mittlerweile weltweit verbindliche Lesefassung, außerdem ihre Erzählungen und Essays sowie ihre Briefe und Aufzeichnungen. Ergänzt wird diese sorgfältig edierte, teilweise neu übersetzte Gesamtausgabe durch zahlreiche Fotos, Faksimiles und Dokumente sowie durch kenntnisreiche Einführungen in die Lebens- und Familiengeschichte Anne Franks (Mirjam Pressler), in den historischen Kontext (Gerhard Hirschfeld) sowie in die Wirkungsgeschichte des Tagebuchs (Francine Prose). Eine Zeittafel, ein Familienstammbaum und eine Auswahlbibliographie runden diese Edition ab und tragen dazu bei, dass sie auf Jahrzehnte die verbindliche Gesamtausgabe der Werke Anne Franks bleiben wird.

Anne Frank hat zwei fragmentarische Tagebuchversionen hinterlassen: Version a und Version b

Version a ist der ursprüngliche Tagebuchtext von Anne Frank.

Version b ist Anne Franks unvollendete Bearbeitung der Tagebuch-Texte, mit der sie eine etwaige Publikation vorbereitet hat. Version b wurde 1986 erstmals publiziert. Seit kurzem wird dieses Fragment als Romanentwurf bezeichnet.

Version c war die erste Fassung des Tagebuchs, die Otto Frank nach dem Krieg 1947 veröffentlichte. Otto Frank, der seine gesamte Familie verloren hatte, bereinigte den Text von Stellen, die für ihn das Andenken an seine Familie schmälerten. Die Version c ist seit 1990 nicht mehr lieferbar.

Version d istdie so genannte Leseausgabe der Tagebücher, die vom Anne Frank Fonds autorisiert wurde und die Versionen a und b in eine Fassung überführt, so dass die Tagebuchtexte ungekürzt zur Verfügung stehen. Diese Version hat die Version c abgelöst und ist seit 1991 die weltweit verbindliche Grundlage für die Übersetzungen des Tagebuchs in über 80 Sprachen, in über 100 Ländern.

Alle Versionen der Tagebücher - außer der Version c - sind in verschiedenen Ausgaben in der Übersetzung von Mirjam Pressler im S. Fischer Verlag lieferbar.
Autorenporträt
Anne Frank, am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main geboren, emigriert 1933 mit ihren Eltern nach Amsterdam. Nachdem die deutsche Wehrmacht 1940 die Niederlande überfallen und besetzt hat, versteckt sich Anne Franks Familie gemeinsam mit vier anderen in einem Hinterhaus der Firma von Otto Frank. Ihrem Tagebuch vertraut die dreizehnjährige Anne während dieser Zeit ihre Gefühle und Gedanken an, beschreibt ihren Alltag im Versteck und die erdrückende Angst vor der Entdeckung. Das Tagebuch endet am 1. August 1944: Die jüdischen Bewohner des Hinterhauses werden denunziert und drei Tage später verhaftet, die Familie Frank wird nach Auschwitz deportiert und dort getrennt. Anne Frank und ihre Schwester Margot sterben sieben Monate später im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Am 6. Januar 1945 stirbt ihre Mutter Edith in Auschwitz. Otto Frank, der Vater von Anne und Margot, ist der einzige Überlebende aus dem Hinterhaus. Nach dem Krieg erhält er die Tagebücher seiner Tochter und publiziert 1947 erstmals Auszüge daraus. Bis heute ist die Vollversion des Tagebuchs von Anne Frank in über 80 Sprachen veröffentlicht worden.
Rezensionen
Wie könnte ich sein, wenn es keine anderen Menschen gäbe?

In diesen Tagen erscheint ein umfangreicher Band mit sämtlichen Schriften von Anne Frank: Briefe, Notizen, Exzerpte und Geschichten zeigen sie als ein Mädchen, das alle Möglichkeiten des Menschseins zu nutzen wusste.

Von Katharina Hacker

Liebste Kitty, behalte den gestrigen Tag, er ist sehr wichtig für mein ganzes Leben." So schrieb Anne Frank am 16. April 1944. Am 1. August folgt der letzte Eintrag.

Rasch hat man beim Lesen vergessen, dass es Kitty nicht gibt, dass sie eine Figur aus einem holländischen Jugendbuch ist, eine erdachte Freundin. Ob man sich selbst angesprochen fühlt? Jeder liest anders. Doch bleibt eines sicher - Veröffentlichung und Lektüre der Gesamtausgabe von Schriften der Anne Frank sind eine höchst komplexe Sache, der Band, der am 23. Oktober im S. Fischer Verlag erscheint und den der Anne Frank Fonds finanziert, macht das deutlich, ohne dass eigens darauf hingewiesen würde - und das ist gut so. Denn mag auch die Lektüre ein komplexer Vorgang sein, so ist sie zunächst vor allem mitreißend.

Am 16. April 1944 wurde Anne Frank zum ersten Mal geküsst, Peter van Pels (im Tagebuch van Daan), der Sohn des ebenfalls im Hinterhaus Prinsengracht 263 versteckten Ehepaars van Pels, küsste sie, da hatten die beiden schon fast zwei Jahre auf etwa sechzig Quadratmetern tagaus, tagein verbracht, sie waren sich auf die Nerven gegangen, sie hatten sich ignoriert, sie befreundeten sich, vielleicht befreundeten sie sich, um sich zu verlieben. Kaum auszudenken, wie viele Komplikationen so etwas mit sich bringt, auf diesem beengten Raum, dazu mit den Eltern, die in steter Spannung lebten, in andauernder, entsetzlicher Angst sowieso. Es gab zwei junge Mädchen, Anne und ihre Schwester Margot, und es gab einen Jungen, den siebzehnjährigen Peter.

Man hatte ihm vor der Treppe zum Dachboden eine Art Zimmer eingerichtet, oder er selbst hatte aus dem Durchgang etwas wie ein Zimmer gemacht, dort hinauf ging Anne, um ihn zu treffen, und es beschäftigte sie bald, was ihre Schwester dabei empfinden mochte, ihre Schwester, die doch sicherlich auch eine Neigung zu dem lieben und hübschen Jungen, wie Anne befand, hatte, nun aber zurückblieb, in jeder Hinsicht. Denn nicht sie, die Ältere, wurde zuerst geküsst, sondern ihre kleine Schwester. Und während Anne verliebt und selig war, saß Margot bei den Eltern.

Die beiden Schwestern mussten sich ins Benehmen setzen über das, was geschah. Wie sie es taten, ist so bezeichnend, dass man die vielleicht nebensächliche Szene erwähnen muss - nebensächlich, wenn man an die existentiellen Nöte denkt, denen die Franks und van Pelsens und Tausende ausgesetzt waren.

Bezeichnend ist es für das Verhältnis der beiden Schwestern, aber auch für die ganze Familie, die Erziehung, die Werte, an denen sie festhielten. Anne schreibt Margot einen Brief. Margot antwortet, vier Briefe werden es insgesamt, Briefe, in denen Anne nachfragt, auch ein bisschen erzählt, in denen Margot sie beschwichtigt und ermutigt, die Freundschaft mit Peter zu genießen.

Sie schreiben einander Briefe, weil es vielleicht leichter ist, schriftlich über etwas Heikles zu verhandeln, aber auch, weil sie es gewöhnt sind, Briefe zu schreiben, weil sie von Kind an daran gewöhnt sind, über sich selbst nachzudenken und sich zu artikulieren. Sie wurden erzogen, differenzierte, ausdrucksreiche Menschen zu sein, feiner Empfindungen fähig und grundlegend ausgestattet mit der Fähigkeit zur Distanz. Vielleicht muss man - vor allem mit Mirjam Presslers wunderbarem Buch "Grüße und Küsse an alle" im Gedächtnis - sagen, es ist diese Mitteilsamkeit im ernstesten Sinne, die so beeindruckend ist.

Der umfangreiche Band umfasst nicht nur die Tagebücher in insgesamt drei Versionen, sondern auch Briefe, vier Einträge in Poesiealben, Notizen zu Anne Franks Lektüre, Exzerpte, Dokumente - aus Frankfurt am Main die Geburtsurkunde -, vor allem aber auch ihre Geschichten, sämtlich im Versteck geschrieben. Die Geschichten sind gut geschrieben, ihr moralischer Anspruch ist deutlich, ohne penetrant zu werden, etwa wenn von einer Fee erzählt wird, die lernt, dass nicht ihre Mittel, sondern ihre freundlichen, ermutigenden Besuche den Menschen helfen. Wachheit und Intelligenz der dreizehn- bis fünfzehnjährigen Autorin, mit denen sie ihre "Federkinder" aufschrieb, sind phänomenal. Es sind Versuche, die unter anderen Umständen vielleicht in eine Ausstellung etwa des Literaturarchivs aufgenommen worden wären, nicht unbedingt abgedruckt in einer Gesamtausgabe.

Die Ausgabe ist dabei von größter Solidität. Das ist ein merkwürdiges, irgendwie unpassendes Wort, man kann sich fragen, ob man die Sache passend findet. Eine Studienausgabe, eine Gesamtschau auf etwas, das eben kein Werk ist. Es wird den Texten Dauer und die Dignität verliehen, die eine sorgsame Ausgabe und Buchdeckel noch immer einer Sache verleihen können, zumal Buchdeckel und Lesebändchen eines renommierten Verlages.

Die Distanz, die sich in einer Gesamtausgabe manifestiert wie die Verzweiflung beim Lesen, die Empörung, der Kummer, die zweifelhaft sind, weil man sie menschlich und politisch befragen muss, sich selbst hinterfragen, gehören zusammen, und deshalb hat die Lektüre etwas von einer physischen Anstrengung. Wie die Tagebücher in ihren pointierten Beschreibungen, in den Wutausbrüchen, Zärtlichkeiten, in ihrem Witz, ihrer Reflexionskraft beleben, so erschöpfen sie auch. Was überwiegt, ist eine lebendige, dabei distanzierte Erkenntnis oder auch umgekehrt eine Erkenntnis der Distanz, deren es bedarf, um dem Mensch-Sein gerecht zu werden, das "Anne Frank" in ihren Tagebüchern repräsentiert.

Ich schreibe den Namen in Anführungszeichen, denn es gehört zu den Komplexitäten der Lektüre, dass man den Namen doppelt verwendet, als einfache Referenz auf dies Mädchen, dort in der Zeit, weit fort an jenem Ort - aber auch als ein Bild, als Bezeichnung für eine Figur.

Anne Frank hat die Doppelung für gut befunden, sie war bereit, diese Möglichkeit zu nutzen, wie sie überhaupt bereit war, Menschenmöglichkeiten zu nutzen, Möglichkeiten der Schöpfung, des Lebens, des Gelächters. Praktisch war sie dazu bereit, wie etwa der Eintrag belegt, in dem sie als Mittel gegen panische Angst vor Schießereien empfiehlt, mit Getöse und schmerzhaft die Treppe hinunterzustürzen: "Die Schreiberin dieser Zeilen hat dieses Rezept mit viel Erfolg angewandt!"

Sie hat die Doppelung gutgeheißen, da sie sich ihr Tagebuch veröffentlicht vorstellte und angefangen hatte, es zu überarbeiten - einen Vorgang, den man am leichtesten in der kritischen Edition der unterschiedlichen Fassungen, ihrer ersten spontanen, der überarbeiteten sowie der, die der Vater Otto Frank nach dem Krieg zusammengestellt hat, nachvollzieht. Anne Franks Absicht, die Tagebücher zu veröffentlichen, gibt uns nicht nur die Erlaubnis, die teils intimen Eintragungen zu lesen, die vielleicht das Erhellendste sind, was man über die sogenannte Pubertät lesen kann.

Wir lesen über Anne M. Frank, wie sie zumeist unterschreibt, und über die Figur, die über jede Subjektivität hinausgeht. Distanz und Bescheidenheit gehören dabei zusammen. Distanz heißt, sich zu betrachten als ein zufälliges Wesen, und es ist ebendie Distanz, die das Empfinden für die Mannigfaltigkeit wahrt, für die Möglichkeiten eines Menschen.

Wäre Anne Frank, wie sie es wollte, Schriftstellerin geworden, erfolgreiche Schriftstellerin mehrerer Bücher, sie hätte sich mit den Lesern auf das Mädchen aus den Tagebüchern bezogen, das sie einmal selbst war. Dadurch, dass sie selbst die Dopplung vollzogen hätte, wäre geschehen, was vielleicht das Gnädigste ist, das einem Menschen passieren kann - dass man sich selbst als Bild erkennt und wiederum zum verletzlichen subjektiven Einzelnen macht. Die Ermordeten sind ermordet und wie eingefroren darin, dass ihnen das Leben genommen wurde, eingefroren in der Ordnung der Nazis. Der Akt des Lesens hat noch nie jemanden erlöst, die Schreibenden nicht, auch keinen Leser. Aber indem wir lesen, die Geschichte des ersten Kusses, des zuweilen bitteren Streits mit der Mutter lesen, indem wir den neugierigen Blick auf das eigene Geschlecht mitvollziehen, indem wir über die Angst lesen, über das scharfe Empfinden der Gemeinheit, der brennenden Sorge um andere Gefangene, Versteckte, vor allem aber über die Aspirationen, über all das, was Atem verspricht, dabei staunend über die Lebendigkeit und Begabung dieses Menschen, bewahren wir vielleicht etwas, das den Kern des Buches ausmacht und vermutlich den Kern von Anne Franks Überzeugungen. Es gibt einen Reichtum, eine Mannigfaltigkeit in der Welt, in der Natur und unter den Menschen, die Würde und das Glück und die Bedeutung des Lebens ausmachen.

Das Buch, dick, wie es ist, und so gemacht und so gedacht, dass kaum ein Leser alle Seiten lesen wird, hat seinen Sinn gerade darin, dass womöglich nicht alles darin gelesen wird, dennoch alles versammelt ist. Es geht um das Vereitelte, um all das Fehlende, um das Ungeschriebene, das so viele Seiten und Bücher füllen würde. Es mag geschehen, dass man beim Lesen von Mirjam Presslers bewunderungswürdiger Textfassung (und Übersetzung) langsamer wird, zögernd nur noch ein paar Sätze liest und stockt. Das ist vielleicht, weil man sich dem Ende nicht nähern will, jener letzten, ausführlichen Eintragung, die eben endgültig ist, gespenstisch, wenn man das weiß, allemal Stoff zum Nachdenken bietend.

Mit sich selbst geht Anne Frank ins Gericht, wie schon so oft. "Ich habe große Angst, dass alle, die mich kennen, wie ich immer bin, entdecken würden, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere." Diese zartere Seite, wie unverbunden mit der lebhaften, vorlauten, schien Anne Frank zu verletzlich, um sie zu zeigen. Und der letzte Satz des Tagebuchs endet: ".. suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden".

Ein Teil der anderen Menschen, die Nazi-Deutschen und ihre Helfer, lebten auf der Welt. Sie haben verhindert, dass Anne M. Frank werden konnte, was ihr möglich gewesen wäre. Den Mord kann man beklagen, die Mörder verabscheuen. Darüber geht, dass sie nicht weitergelebt hat. Sie müsste leben. Sie wäre Schriftstellerin geworden. Vielleicht eine bedeutende, ich kann es mir anders kaum vorstellen. Man muss sich ausmalen, wie sie mit der größten Trauer um die anderen Opfer, die sich nicht verstecken konnten, ihr Tagebuch in der Hand hält und weiß, andere, spätere Bücher sind die wichtigeren, reicheren.

Anne Frank: "Gesamtausgabe". Tagebücher - Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus - Erzählungen - Briefe - Fotos und Dokumente.

Herausgegeben vom Anne Frank Fonds Basel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 810 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2013

Wie könnte ich sein, wenn es keine anderen Menschen gäbe?

In diesen Tagen erscheint ein umfangreicher Band mit sämtlichen Schriften von Anne Frank: Briefe, Notizen, Exzerpte und Geschichten zeigen sie als ein Mädchen, das alle Möglichkeiten des Menschseins zu nutzen wusste.

Von Katharina Hacker

Liebste Kitty, behalte den gestrigen Tag, er ist sehr wichtig für mein ganzes Leben." So schrieb Anne Frank am 16. April 1944. Am 1. August folgt der letzte Eintrag.

Rasch hat man beim Lesen vergessen, dass es Kitty nicht gibt, dass sie eine Figur aus einem holländischen Jugendbuch ist, eine erdachte Freundin. Ob man sich selbst angesprochen fühlt? Jeder liest anders. Doch bleibt eines sicher - Veröffentlichung und Lektüre der Gesamtausgabe von Schriften der Anne Frank sind eine höchst komplexe Sache, der Band, der am 23. Oktober im S. Fischer Verlag erscheint und den der Anne Frank Fonds finanziert, macht das deutlich, ohne dass eigens darauf hingewiesen würde - und das ist gut so. Denn mag auch die Lektüre ein komplexer Vorgang sein, so ist sie zunächst vor allem mitreißend.

Am 16. April 1944 wurde Anne Frank zum ersten Mal geküsst, Peter van Pels (im Tagebuch van Daan), der Sohn des ebenfalls im Hinterhaus Prinsengracht 263 versteckten Ehepaars van Pels, küsste sie, da hatten die beiden schon fast zwei Jahre auf etwa sechzig Quadratmetern tagaus, tagein verbracht, sie waren sich auf die Nerven gegangen, sie hatten sich ignoriert, sie befreundeten sich, vielleicht befreundeten sie sich, um sich zu verlieben. Kaum auszudenken, wie viele Komplikationen so etwas mit sich bringt, auf diesem beengten Raum, dazu mit den Eltern, die in steter Spannung lebten, in andauernder, entsetzlicher Angst sowieso. Es gab zwei junge Mädchen, Anne und ihre Schwester Margot, und es gab einen Jungen, den siebzehnjährigen Peter.

Man hatte ihm vor der Treppe zum Dachboden eine Art Zimmer eingerichtet, oder er selbst hatte aus dem Durchgang etwas wie ein Zimmer gemacht, dort hinauf ging Anne, um ihn zu treffen, und es beschäftigte sie bald, was ihre Schwester dabei empfinden mochte, ihre Schwester, die doch sicherlich auch eine Neigung zu dem lieben und hübschen Jungen, wie Anne befand, hatte, nun aber zurückblieb, in jeder Hinsicht. Denn nicht sie, die Ältere, wurde zuerst geküsst, sondern ihre kleine Schwester. Und während Anne verliebt und selig war, saß Margot bei den Eltern.

Die beiden Schwestern mussten sich ins Benehmen setzen über das, was geschah. Wie sie es taten, ist so bezeichnend, dass man die vielleicht nebensächliche Szene erwähnen muss - nebensächlich, wenn man an die existentiellen Nöte denkt, denen die Franks und van Pelsens und Tausende ausgesetzt waren.

Bezeichnend ist es für das Verhältnis der beiden Schwestern, aber auch für die ganze Familie, die Erziehung, die Werte, an denen sie festhielten. Anne schreibt Margot einen Brief. Margot antwortet, vier Briefe werden es insgesamt, Briefe, in denen Anne nachfragt, auch ein bisschen erzählt, in denen Margot sie beschwichtigt und ermutigt, die Freundschaft mit Peter zu genießen.

Sie schreiben einander Briefe, weil es vielleicht leichter ist, schriftlich über etwas Heikles zu verhandeln, aber auch, weil sie es gewöhnt sind, Briefe zu schreiben, weil sie von Kind an daran gewöhnt sind, über sich selbst nachzudenken und sich zu artikulieren. Sie wurden erzogen, differenzierte, ausdrucksreiche Menschen zu sein, feiner Empfindungen fähig und grundlegend ausgestattet mit der Fähigkeit zur Distanz. Vielleicht muss man - vor allem mit Mirjam Presslers wunderbarem Buch "Grüße und Küsse an alle" im Gedächtnis - sagen, es ist diese Mitteilsamkeit im ernstesten Sinne, die so beeindruckend ist.

Der umfangreiche Band umfasst nicht nur die Tagebücher in insgesamt drei Versionen, sondern auch Briefe, vier Einträge in Poesiealben, Notizen zu Anne Franks Lektüre, Exzerpte, Dokumente - aus Frankfurt am Main die Geburtsurkunde -, vor allem aber auch ihre Geschichten, sämtlich im Versteck geschrieben. Die Geschichten sind gut geschrieben, ihr moralischer Anspruch ist deutlich, ohne penetrant zu werden, etwa wenn von einer Fee erzählt wird, die lernt, dass nicht ihre Mittel, sondern ihre freundlichen, ermutigenden Besuche den Menschen helfen. Wachheit und Intelligenz der dreizehn- bis fünfzehnjährigen Autorin, mit denen sie ihre "Federkinder" aufschrieb, sind phänomenal. Es sind Versuche, die unter anderen Umständen vielleicht in eine Ausstellung etwa des Literaturarchivs aufgenommen worden wären, nicht unbedingt abgedruckt in einer Gesamtausgabe.

Die Ausgabe ist dabei von größter Solidität. Das ist ein merkwürdiges, irgendwie unpassendes Wort, man kann sich fragen, ob man die Sache passend findet. Eine Studienausgabe, eine Gesamtschau auf etwas, das eben kein Werk ist. Es wird den Texten Dauer und die Dignität verliehen, die eine sorgsame Ausgabe und Buchdeckel noch immer einer Sache verleihen können, zumal Buchdeckel und Lesebändchen eines renommierten Verlages.

Die Distanz, die sich in einer Gesamtausgabe manifestiert wie die Verzweiflung beim Lesen, die Empörung, der Kummer, die zweifelhaft sind, weil man sie menschlich und politisch befragen muss, sich selbst hinterfragen, gehören zusammen, und deshalb hat die Lektüre etwas von einer physischen Anstrengung. Wie die Tagebücher in ihren pointierten Beschreibungen, in den Wutausbrüchen, Zärtlichkeiten, in ihrem Witz, ihrer Reflexionskraft beleben, so erschöpfen sie auch. Was überwiegt, ist eine lebendige, dabei distanzierte Erkenntnis oder auch umgekehrt eine Erkenntnis der Distanz, deren es bedarf, um dem Mensch-Sein gerecht zu werden, das "Anne Frank" in ihren Tagebüchern repräsentiert.

Ich schreibe den Namen in Anführungszeichen, denn es gehört zu den Komplexitäten der Lektüre, dass man den Namen doppelt verwendet, als einfache Referenz auf dies Mädchen, dort in der Zeit, weit fort an jenem Ort - aber auch als ein Bild, als Bezeichnung für eine Figur.

Anne Frank hat die Doppelung für gut befunden, sie war bereit, diese Möglichkeit zu nutzen, wie sie überhaupt bereit war, Menschenmöglichkeiten zu nutzen, Möglichkeiten der Schöpfung, des Lebens, des Gelächters. Praktisch war sie dazu bereit, wie etwa der Eintrag belegt, in dem sie als Mittel gegen panische Angst vor Schießereien empfiehlt, mit Getöse und schmerzhaft die Treppe hinunterzustürzen: "Die Schreiberin dieser Zeilen hat dieses Rezept mit viel Erfolg angewandt!"

Sie hat die Doppelung gutgeheißen, da sie sich ihr Tagebuch veröffentlicht vorstellte und angefangen hatte, es zu überarbeiten - einen Vorgang, den man am leichtesten in der kritischen Edition der unterschiedlichen Fassungen, ihrer ersten spontanen, der überarbeiteten sowie der, die der Vater Otto Frank nach dem Krieg zusammengestellt hat, nachvollzieht. Anne Franks Absicht, die Tagebücher zu veröffentlichen, gibt uns nicht nur die Erlaubnis, die teils intimen Eintragungen zu lesen, die vielleicht das Erhellendste sind, was man über die sogenannte Pubertät lesen kann.

Wir lesen über Anne M. Frank, wie sie zumeist unterschreibt, und über die Figur, die über jede Subjektivität hinausgeht. Distanz und Bescheidenheit gehören dabei zusammen. Distanz heißt, sich zu betrachten als ein zufälliges Wesen, und es ist ebendie Distanz, die das Empfinden für die Mannigfaltigkeit wahrt, für die Möglichkeiten eines Menschen.

Wäre Anne Frank, wie sie es wollte, Schriftstellerin geworden, erfolgreiche Schriftstellerin mehrerer Bücher, sie hätte sich mit den Lesern auf das Mädchen aus den Tagebüchern bezogen, das sie einmal selbst war. Dadurch, dass sie selbst die Dopplung vollzogen hätte, wäre geschehen, was vielleicht das Gnädigste ist, das einem Menschen passieren kann - dass man sich selbst als Bild erkennt und wiederum zum verletzlichen subjektiven Einzelnen macht. Die Ermordeten sind ermordet und wie eingefroren darin, dass ihnen das Leben genommen wurde, eingefroren in der Ordnung der Nazis. Der Akt des Lesens hat noch nie jemanden erlöst, die Schreibenden nicht, auch keinen Leser. Aber indem wir lesen, die Geschichte des ersten Kusses, des zuweilen bitteren Streits mit der Mutter lesen, indem wir den neugierigen Blick auf das eigene Geschlecht mitvollziehen, indem wir über die Angst lesen, über das scharfe Empfinden der Gemeinheit, der brennenden Sorge um andere Gefangene, Versteckte, vor allem aber über die Aspirationen, über all das, was Atem verspricht, dabei staunend über die Lebendigkeit und Begabung dieses Menschen, bewahren wir vielleicht etwas, das den Kern des Buches ausmacht und vermutlich den Kern von Anne Franks Überzeugungen. Es gibt einen Reichtum, eine Mannigfaltigkeit in der Welt, in der Natur und unter den Menschen, die Würde und das Glück und die Bedeutung des Lebens ausmachen.

Das Buch, dick, wie es ist, und so gemacht und so gedacht, dass kaum ein Leser alle Seiten lesen wird, hat seinen Sinn gerade darin, dass womöglich nicht alles darin gelesen wird, dennoch alles versammelt ist. Es geht um das Vereitelte, um all das Fehlende, um das Ungeschriebene, das so viele Seiten und Bücher füllen würde. Es mag geschehen, dass man beim Lesen von Mirjam Presslers bewunderungswürdiger Textfassung (und Übersetzung) langsamer wird, zögernd nur noch ein paar Sätze liest und stockt. Das ist vielleicht, weil man sich dem Ende nicht nähern will, jener letzten, ausführlichen Eintragung, die eben endgültig ist, gespenstisch, wenn man das weiß, allemal Stoff zum Nachdenken bietend.

Mit sich selbst geht Anne Frank ins Gericht, wie schon so oft. "Ich habe große Angst, dass alle, die mich kennen, wie ich immer bin, entdecken würden, dass ich eine andere Seite habe, eine schönere und bessere." Diese zartere Seite, wie unverbunden mit der lebhaften, vorlauten, schien Anne Frank zu verletzlich, um sie zu zeigen. Und der letzte Satz des Tagebuchs endet: ".. suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden".

Ein Teil der anderen Menschen, die Nazi-Deutschen und ihre Helfer, lebten auf der Welt. Sie haben verhindert, dass Anne M. Frank werden konnte, was ihr möglich gewesen wäre. Den Mord kann man beklagen, die Mörder verabscheuen. Darüber geht, dass sie nicht weitergelebt hat. Sie müsste leben. Sie wäre Schriftstellerin geworden. Vielleicht eine bedeutende, ich kann es mir anders kaum vorstellen. Man muss sich ausmalen, wie sie mit der größten Trauer um die anderen Opfer, die sich nicht verstecken konnten, ihr Tagebuch in der Hand hält und weiß, andere, spätere Bücher sind die wichtigeren, reicheren.

Anne Frank: "Gesamtausgabe". Tagebücher - Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus - Erzählungen - Briefe - Fotos und Dokumente.

Herausgegeben vom Anne Frank Fonds Basel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 810 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Es mögen zwar Millionen von Menschen das Tagebuch der Anne Frank gelesen haben, allerdings haben sie wohl fast alle entweder die erste, vom Vater gekürzte Fassung gelesen, oder, die Jüngeren, die heute verbindliche Ausgabe, die Mirjam Pressler, die Frank-Biografin und -Übersetzerin später mit ihm gestaltete, weiß Viola Roggenkamp. Jetzt ist eine Gesamtausgabe von Anne Franks Schriften erschienen. In ihrer Gesamtheit erlauben die Schriften, die Entwicklung einer jungen Schriftstellerin zu verfolgen, erklärt die Rezensentin. Anne Franks Leben hat sie zum Schreiben getrieben, ihr Tod im Konzentrationslager Bergen-Balsen provoziert eine Besinnung auf die Grenzen von Fiktion und Realität - die Umstände sind aber nicht der einzige Grund, warum man diese Texte mit Spannung liest, betont Roggenkamp.

© Perlentaucher Medien GmbH
ein sorgfältig dokumentiertes Stück Zeitgeschichte, das in jeden Bücherschrank gehört. Deutschlandfunk (Andruck) 20131230