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Die meisten Schriften Sigmund Freuds, des Gründers der Psychoanalyse, sind heute in verschiedenen Versionen und Ausgaben erhältlich. Doch erst die nun von Christfried Tögel begründete Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG) umfasst sämtliche von Freud für den Druck bestimmte Schriften - inklusive seiner Rezensionen und Beiträge für Handbücher und Lexika. Alle Veröffentlichungen werden in der Form zugänglich gemacht, in der sie zum ersten Mal erschienen sind, und durch Einführungen in den biografischen und wissenschaftshistorischen Kontext ergänzt. Eine Übersicht am Ende jedes Bandes erleichtert das…mehr

Produktbeschreibung
Die meisten Schriften Sigmund Freuds, des Gründers der Psychoanalyse, sind heute in verschiedenen Versionen und Ausgaben erhältlich. Doch erst die nun von Christfried Tögel begründete Sigmund-Freud-Gesamtausgabe (SFG) umfasst sämtliche von Freud für den Druck bestimmte Schriften - inklusive seiner Rezensionen und Beiträge für Handbücher und Lexika. Alle Veröffentlichungen werden in der Form zugänglich gemacht, in der sie zum ersten Mal erschienen sind, und durch Einführungen in den biografischen und wissenschaftshistorischen Kontext ergänzt. Eine Übersicht am Ende jedes Bandes erleichtert das Auffinden der Texte in den Gesammelten Schriften, den Gesammelten Werken und der Studienausgabe. Die Bände 1 bis 20 enthalten die von Freud zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten in chronologischer Reihenfolge. Band 21 wird nicht oder posthum veröffentlichte Vortragstexte sowie Interviews umfassen. Band 22 beinhaltet ein Freud-Diarium, das Ereignisse seines Lebens auflistet; es wird durch von Freud selbst geführte Chroniken und Kalender eingeleitet. Band 23 enthält ein Gesamtregister aller Bände. Die nun vorliegenden Bände 1 bis 4 haben Freuds Veröffentlichungen zwischen 1877 und 1894 zum Inhalt, also vornehmlich die sogenannten voranalytischen Schriften von seinen zoologischen Arbeiten über Aal und Flusskrebs über die Kokainschriften bis zu Monografien über die Aphasie und Kinderlähmung. Außerdem werden erstmals die etwa 200 Rezensionen, die Freud in diesem Zeitraum verfasste, sowie seine Beiträge zu medizinischen Handwörterbüchern und Lexika gebündelt abgedruckt. Auch einige zur Psychoanalyse hinführende Arbeiten - etwa »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« - sind enthalten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Zur Diagnose editorischer Aphasie

Freud-Ausgaben gibt es einige, doch soliden editorischen Standards genügt keine. Nun liegen die ersten vier Bände einer neuen Gesamtausgabe vor. Kann sie den Missstand beheben?

Freud ist online. Freud ist umsonst. Freud ist Print-on-Demand. Freud gibt es in Ramschausgaben auf dem Wühltisch und in zuverlässigen, zum Teil gut kommentierten Taschenbuchausgaben bei seinem angestammten Verlag. Wem das nicht ausreicht, der greift zu den beiden längst historischen und immer noch lieferbaren Werkausgaben. Die Gesammelten Werke, ab 1940 in London erschienen, sollten Freuds vom Nationalsozialismus verfemte Schriften wenigstens präsent halten. Die Studienausgabe wiederum, mit ihren unverkennbaren roten Einbänden in den siebziger Jahren auf beinahe jedem Bücherregal vorhanden, war keine eigenständig konzipierte Ausgabe, sondern eine Auswahl aus der englischsprachigen Standard Edition, die bis heute als die maßgebliche Werkausgabe gilt.

Es herrscht also kein Mangel an Freud-Ausgaben, und doch sind in puncto Vollständigkeit und editorischer Gründlichkeit viele Wünsche offengeblieben. Während die ältere Ausgabe editorische Standards der raschen Veröffentlichung der Bände opferte - aus verständlichen Gründen -, weist die jüngere selbst bei den psychoanalytischen Schriften gravierende Lücken auf. Weiterhin ist das umfangreiche neurowissenschaftlich-psychiatrische OEuvre Freuds in den bestehenden Ausgaben nur rudimentär enthalten. Und dann tauchen in den letzten Jahren an verstreuten Orten Editionen von Fragmenten und Entwürfen aus dem Nachlass auf. Das ist erfreulich, aber auch recht unübersichtlich, zumal manche Nachlass-Texte bislang noch gar nicht ediert worden sind.

Kurz gesagt: Es fehlt eine editorisch zuverlässige Gesamtausgabe der Schriften Freuds, von einer historisch-kritischen Ausgabe gar nicht zu reden. Sicher, die traditionelle Editionspolitik konnte sich stets auf Freud selbst berufen, der weder seine handschriftlichen Entwürfe noch die "voranalytischen" Schriften besonders schätzte. Der Zweck einer Ausgabe seiner Werke bestand auch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch darin, die Psychoanalyse zu kanonisieren und ihre konzeptuelle Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen. Deutlich wird das in den editorischen Vorbemerkungen zu den Schriften der Studienausgabe, die neben Angaben zu deren Entstehung überraschend dezidierte Leseanweisungen enthalten - als ob die Editionsarbeit Teil eines pädagogischen Programms wäre.

Diese Haltung mag Anna Freud dazu gebracht haben, ihr Veto gegen eine philologisch anspruchsvolle historisch-kritische Ausgabe einzulegen, die Mitte der sechziger Jahre von Alexander Mitscherlich geplant worden war. Womöglich fürchtete sie, dass eine solche Ausgabe das geschlossene, homogene Bild Freuds zugunsten dessen eines schwankenden, stets revidierenden Forschers verschoben hätte. Aber auch nach dem Tod der Freud zum Teil persönlich verbundenen Herausgeber und Nachlassverwalter blieb eine vollständige oder historisch-kritische Ausgabe Desiderat, auch wenn einige Vorschläge dazu von Ilse Grubrich-Simitis seit langem vorliegen.

Diese paralytische Situation soll nun durch eine neue Gesamtausgabe beendet werden, die alle von Freud für den Druck bestimmten Arbeiten in Gestalt des Erstdrucks in chronologischer Reihenfolge publiziert. Bis 2021 sollen insgesamt 23 Bände vorliegen, die neben den publizierten Schriften auch das nur in Auszügen bekannte Diarium sowie Vorträge und Interviews, nicht aber unveröffentlicht gebliebene Fragmente und Entwürfe enthalten. Die jetzt erschienenen ersten vier Bände versammeln die ungeliebten neurowissenschaftlichen und psychiatrischen Schriften bis 1894, von denen die meisten hier zum ersten Mal seit dem Erstdruck vorgelegt werden.

Die naheliegende Frage lautet natürlich, ob hier ein neuer Freud zum Vorschein kommt. Nun ja, zumindest in der Weise, dass sich manches im Detail nachvollziehen lässt, was bislang eher im Allgemeinen bekannt war. So zeigen die frühen Schriften minutiös, wie wenig stringent Freuds Weg als wissenschaftlicher Mediziner verlief und mit welcher Leidenschaft er sich nacheinander in Hirnanatomie und Kokainforschung, Neuropathologie und klinische Neurologie, cerebrale Lokalisationsforschung und Psychiatrie einarbeitete, was freilich bisweilen auf Kosten der Gründlichkeit ging. Jedenfalls war Freuds Wissensspektrum breiter als dasjenige vieler seiner ärztlichen Zeitgenossen, und es wurde noch durch die über 200 Rezensionen vergrößert, die er - bisweilen aus finanziellen Gründen - zu verschiedensten Themen schrieb. Hier war Freud keineswegs der originelle Forscher, der er sein wollte, sondern Mitglied eines selbstorganisierten wissenschaftlichen Netzwerks, das für die Bereitstellung, Bewertung und Zirkulation wissenschaftlichen Wissens sorgte. Aber die Rezensionen waren nicht nur Brotarbeiten. Freuds Interesse für Kinder-Neurologie, das immerhin zu zwei umfangreichen Monographien führte, kommt zuerst in seinen Rezensionen im "Centralblatt für Kinderheilkunde"zum Ausdruck.

Im Hinblick auf das spätere Werk interessieren die Momente, in denen Freud Zweifel am hirnanatomischen Paradigma kommen, von dem er ausgegangen war. Gerade hier dürfte ihm seine breite Kenntnis der wissenschaftlichen Medizin geholfen haben, um die Erklärungslücken zwischen anatomisch-pathologischer und klinischer Realität zu erkennen. Man lese nur die beiden Handbuchartikel von 1888 zum "Gehirn" und zur "Hysterie". Im einen orientiert er sich weitgehend an den neuroanatomischen Autoritäten seiner Zeit, im anderen verwirft er eine anatomische Ursache der Hysterie und führt diese auf einen physiologischen Erregungsüberschuss zurück, der sich im Nervensystem mal hemmend, mal reizend artikuliert. Hier deuten sich bereits Überlegungen an, die er einige Jahre später weiterentwickelt.

Nun ist die große Bedeutung der Schriften aus den späten achtziger und frühen neunziger Jahren für die allmähliche Konstituierung der Psychoanalyse keine bahnbrechend neue Erkenntnis mehr. Umso wichtiger wären kundige Einführungen und Kommentare, die die wissenschaftshistorischen und für Freuds Denkweg relevanten Zusammenhänge herstellen. Zwar verspricht der Herausgeber Christfried Tögel, der in der Vergangenheit verdienstvolle Artikel und Editionen zu Freud vorgelegt hat, genau das in der allgemeinen Einleitung zu der Ausgabe, jedoch handelt es sich dabei um eine Art Euphemismus. Die Qualität der neuroanatomischen Arbeiten beispielsweise wird als "unterschiedlich" bezeichnet. Freud selbst gewichtete diese Arbeiten tatsächlich unterschiedlich, aber worauf der Herausgeber seine Einschätzung noch gründet, bleibt unerfindlich. Auch die editorische Begleitung der Kokain-Schriften ist wenig hilfreich. Hier ist man viel besser mit der existierenden Taschenbuch-Ausgabe bedient.

Besonders eklatant ist der Fall bei Freuds erstem Buch überhaupt, der neuropsychologischen Studie "Zur Auffassung der Aphasien" von 1891. Als diese 101 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung endlich neu aufgelegt wurde, konnten sich die Leser selbst davon überzeugen, was Wissenschaftshistoriker herausgearbeitet hatten: dass diese Kritik am Lokalisationsparadigma der Hirnforschung ein mindestens ebenso bedeutsamer Schritt auf dem Weg zur Psychoanalyse war wie der vorangegangene Aufenthalt in Paris bei Charcot. In der Einleitung zur Taschenbuchausgabe der Aphasie-Studie wurden diese Zusammenhänge vom Herausgeber Wolfgang Leuschner herausgearbeitet, und nebenbei räumte er auch mit dem von Ernest Jones in die Welt gesetzten Mythos auf, das Buch sei damals von Hirnforschern weitgehend ignoriert worden. In der Gesamtausgabe findet sich kein Hinweis auf diese Neu-Edition, geschweige denn auf die relevante historische Forschung. Stattdessen heißt es: "Auch von der Fachwelt wurde das Buch lange ignoriert und auch später nicht besonders enthusiastisch aufgenommen. Möglicherweise hing das auch mit Freuds Kritik an den großen Autoritäten seiner Zeit zusammen."

In editorischer Hinsicht ist mit diesen vier Bänden also überhaupt nichts los. Doch darüber zu klagen, dass Freud eine solche Ausgabe nicht verdient habe, ist wohlfeil, denn diese ist überhaupt nur möglich, weil es jahrzehntelang versäumt wurde, eine adäquate Gesamtausgabe von Freuds Schriften auf den Weg zu bringen. Bei Persönlichkeiten ähnlichen Formats - sagen wir: Nietzsche, Marx, Kafka, Einstein oder Max Weber - ist das mit großem internationalem Engagement und in sehr unterschiedlicher Weise gelungen. Bei Freud nicht.

Bevor noch weitere Jahrzehnte vergehen, bis das Gesamtwerk Freuds in einer Ausgabe auf der editionswissenschaftlichen Höhe der Zeit vorliegt, ist es vielleicht doch vorzuziehen, dass die Texte quasi unkommentiert zwischen zwei Buchdeckeln versammelt sind. Das entspricht ziemlich genau jener Access-Mentalität, die die ungehinderte Zugänglichkeit von Texten über deren editorische Aufbereitung stellt. Erfreulich ist das gewiss nicht, und es fragt sich auch, wer eine solche neue Leseausgabe benötigt, da doch zumindest die analytischen Schriften zumeist in brauchbaren Ausgaben vorliegen. Aber: Freud ist online. Freud ist umsonst. Also kann jeder Freud edieren - umsonst?

MICHAEL HAGNER

Sigmund Freud: "Gesamtausgabe". Band 1-4. Die voranalytischen Schriften 1877-1894.

Hrsg. v. Christfried Tögel, unter Mitarbeit von Urban Zerfaß. Psychozozialverlag, Gießen 2015. 1792 S., geb., 299,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Michael Hagner stellt Sinn und Zweck einer Gesamtausgabe von Siegmunds Freuds Werken infrage. Freud ist online, Freud ist umsonst, meint er. Die Chance einer editorischen Großtat mit Kommentaren, Forschungshinweisen etc. scheint ihm die hier startende Ausgabe nach Beurteilung der ersten vier Bände zu verschenken. In die Freude über die nun erstmals veröffentlichten neurowissenschaftlichen und psychiatrischen Schriften bis 1894 und die damit gegebene Möglichkeit, endlich zu erkennen, wie breit Freuds Wissenspektrum war und wie wenig stringent seine Karriere verlief, mischt sich für Hagner der Unmut über mangelnde Einführungen und Kommentare, die die wissenschaftshistorischen Zusammenhänge herstellen.

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