Am 12. Juni 2015 wäre Wolfgang Herrndorf, der 2013 starb, fünfzig Jahre alt geworden. In den Jahren zuvor, seit 2010, hatte er mit «Tschick» und «Sand» zwei der größten, literarisch außergewöhnlichsten Erfolge der jüngeren deutschen Literatur. Nun erscheint die Gesamtausgabe mit allen Werken Wolfgang Herrndorfs: den berühmten Büchern der letzten Jahre sowie dem posthum veröffentlichten Tagebuch «Arbeit und Struktur» und dem unvollendeten Roman «Bilder deiner großen Liebe», aber auch mit den frühen Texten, Herrndorfs Debütroman «In Plüschgewittern» von 2002, dem Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» und der Erzählung «Die Rosenbaum-Doktrin». Eine Ausgabe, die Wolfgang Herrndorf als den überragenden Autor würdigt, der er war.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2015Klarer Blick
Die Werkausgabe und eine Ausstellung seiner
Bilder erinnern an Wolfgang Herrndorf
VON JENS BISKY
Im Jahr 1996 erhielt die Redaktion des Satiremagazins Titanic eine neue Lieferung von Wolfgang Herrndorf: ein Bild in der Manier Jan Vermeers. Sauberes Interieur, Licht von links, eine Karte hängt an der Wand, aber statt eines jungen Mädchens liest Kanzler Helmut Kohl den Brief. Titanic brachte den „Briefleser“ als Plakat und verlangte mehr – Kohl war immer für einen Witz gut, und Herrndorf hatte dem Kohl-Scherz einen neuen Seitenweg eröffnet. Nicht die „Birne“, nicht der Pfälzer Provinzler wurde verspottet, sondern der Klassiker verherrlicht und abgefeiert.
„Klassiker Kohl“ hieß dann auch ein Kalender des Haffmanns Verlags für das Jahr 1998. Darin fand man das „Porträt des Reichskanzlers Kohl“, Lucas Cranach dem Älteren zugeschrieben, Bilder mit Kohl von Edward Hopper, Georg Baselitz, Carl Spitzweg oder Caspar David Friedrich und anderen Meistern mehr. Das Bundeskanzleramt soll, so wird erzählt, einen beträchtlichen Teil der Auflage gekauft und die Klassiker-Kohl-Kalender Gästen geschenkt haben.
Wolfgang Herrndorf, damals Anfang dreißig, hatte an der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste Malerei studiert und war inzwischen nach Berlin umgezogen. Geld verdiente er mit Illustrationen für den Haffmanns Verlag, den Tagesspiegel und Titanic. Auch schrieb er für das Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ und das Weblog „Riesenmaschine“. Anfang der Nullerjahre gab er die Malerei auf und veröffentlichte – vier Jahre nach der Abwahl Kohls – seinen Debütroman „In Plüschgewittern“.
Die folgenden Stationen seines Lebens sind längst Legende: Im Februar 2010 wurde ein unheilbarer Hirntumor diagnostiziert, im Herbst 2010 erschien die Ausreißergeschichte „Tschick“ und wurde zu einem der erfolgreichsten Romane der vergangenen Jahre. Mit Freunden und Lesern kommunizierte Herrndorf über das digitale Tagebuch „Arbeit und Struktur“. 2011 erscheint der Wüstenroman „Sand“, das schwarzromantische Gegenstück zu „Tschick“, ein rasend klug komponiertes Buch. Herrndorf erhält Preise, verdient zum ersten Mal im Leben sehr gut, am
26. August 2013 setzt er am Ufer des Hohenzollernkanals seinem Leben ein Ende. Postum veröffentlicht der Verlag Rowohlt Berlin „Arbeit und Struktur“ sowie den unvollendeten Roman „Bilder deiner großen Liebe“, ein letztes Beispiel der klaren, suggestiven Herrndorf-Prosa: „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“
Am Freitag dieser Woche wäre Wolfgang Herrndorf fünfzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigt das Literaturhaus Berlin eine Ausstellung zu Herrndorfs bildnerischem Werk. Hier kann man den Haffmanns-Kalender bewundern, Arbeiten des Studenten, Witz-Zeichnungen, Buchumschläge, viele kleinformatige Bilder. Herrndorf hat einige seiner Arbeiten selbst vernichtet, etwa 600 sind erhalten. Die Ausstellung und der schöne, informative Katalog bieten einen ersten Einblick in dieses Werk, von dem wir bislang nur wenig wissen. Viele Bilder sind nicht datiert, welche wo publiziert wurden, welche Auftragsarbeiten waren, bliebe vielfach noch zu recherchieren. War Herrndorf ein guter Maler?
Sein handwerkliches Können sticht sofort ins Auge, an den größten Vorbildern der Kunstgeschichte hat er sich erprobt und gemessen. Auch auf seinen Buchumschlägen oder Witz-Bildern werden die Details nicht vernachlässigt. In einer Serie von Bildern, Acryl auf Papier, treibt Herrndorf die Sau durch die Kunstgeschichte: Da sieht man ein Schweinchen als Märtyrer oder in den Armen einer Raffael’schen Madonna. Aber Auge und Verstand des Betrachters werden weiter beschäftigt, auch nachdem die Pointe verstanden ist.
Besonders interessant und mit 51 mal 100 Zentimetern das größte Bild in der Ausstellung ist das auf den 21. Juni 1988 datierte Selbstbildnis des Künstlers (unsere Abbildung). Der Betrachter liegt dem jungen Mann mit offenem, langem Haar zu Füßen: Oben sieht er eine Madonna Raffaels, rechts ein Bild von Donatellos Reiterstandbild des Condottiere Gattamelata. Es steht in Padua. Raffael und Donatello – das spricht für besten Geschmack. Das Selbstbildnis besticht durch provozierende Lässigkeit. Der da mit weit gespreizten Beinen sitzt, weiß, was er kann, was er will.
Das Bildnis schmückt auch den Schuber der gerade erschienenen Gesamtausgabe, die – wie der Autor es wünschte – auf philologisches Beiwerk verzichtet, aber doch so ziemlich alles bringt, was für die Kanonisierung dieses Schriftstellers erforderlich ist: neben seinen großen Werken Kleineres, verstreut Publiziertes. Erinnerungen der Freundin Kathrin Passig und des Lektors Marcus Gärtner, Michael Maars detektivische Lektüre des Wüstenromans, einige Fotos. Die drei Bände sind nun der Herrndorf für die Bibliothek.
Die Bilder in der Ausstellung überraschen immer wieder, etwa ein Hitler-Porträt in Picasso-Manier oder Milošević, eine serbische Titanic präsentierend. Und doch scheint es, als habe der Maler Herrndorf seine Handschrift nicht gefunden. Raffiniert eignet er sich Vorbilder, Muster an und verschwindet als Person wie Zeitgenosse in ihnen. Das Ethos kehrt in seiner Prosa wieder – als Treue zu den Figuren, zu Gedanken, Bildern. Sich überlegen, was man sagen wolle, und es dann sagen, so hat er sein Stilideal beschrieben. Außer in seinen Selbstporträts scheint er als Maler vor allem probiert zu haben, was er kann, was geht. Eines haben der erzählende Maler und der anschauliche Erzähler Herrndorf gemeinsam: Sie langweilen nicht.
Wolfgang Herrndorf: Gesamtausgabe. Rowohlt Berlin, Berlin 2015. 3 Bände, 1840 S., 49,95 Euro. Die Ausstellung „Wolfgang Herrndorf: Bilder“ läuft bis zum 16. August im Literaturhaus Berlin. Der Katalog kostet 18 Euro.
Ob als erzählender Illustrator oder als anschaulicher
Erzähler – Herrndorf langweilt nie
Ich weiß, was ich kann. Und du? Selbstbildnis – datiert auf Juni 1988.
Abb.: Rowohlt Berlin
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Werkausgabe und eine Ausstellung seiner
Bilder erinnern an Wolfgang Herrndorf
VON JENS BISKY
Im Jahr 1996 erhielt die Redaktion des Satiremagazins Titanic eine neue Lieferung von Wolfgang Herrndorf: ein Bild in der Manier Jan Vermeers. Sauberes Interieur, Licht von links, eine Karte hängt an der Wand, aber statt eines jungen Mädchens liest Kanzler Helmut Kohl den Brief. Titanic brachte den „Briefleser“ als Plakat und verlangte mehr – Kohl war immer für einen Witz gut, und Herrndorf hatte dem Kohl-Scherz einen neuen Seitenweg eröffnet. Nicht die „Birne“, nicht der Pfälzer Provinzler wurde verspottet, sondern der Klassiker verherrlicht und abgefeiert.
„Klassiker Kohl“ hieß dann auch ein Kalender des Haffmanns Verlags für das Jahr 1998. Darin fand man das „Porträt des Reichskanzlers Kohl“, Lucas Cranach dem Älteren zugeschrieben, Bilder mit Kohl von Edward Hopper, Georg Baselitz, Carl Spitzweg oder Caspar David Friedrich und anderen Meistern mehr. Das Bundeskanzleramt soll, so wird erzählt, einen beträchtlichen Teil der Auflage gekauft und die Klassiker-Kohl-Kalender Gästen geschenkt haben.
Wolfgang Herrndorf, damals Anfang dreißig, hatte an der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste Malerei studiert und war inzwischen nach Berlin umgezogen. Geld verdiente er mit Illustrationen für den Haffmanns Verlag, den Tagesspiegel und Titanic. Auch schrieb er für das Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ und das Weblog „Riesenmaschine“. Anfang der Nullerjahre gab er die Malerei auf und veröffentlichte – vier Jahre nach der Abwahl Kohls – seinen Debütroman „In Plüschgewittern“.
Die folgenden Stationen seines Lebens sind längst Legende: Im Februar 2010 wurde ein unheilbarer Hirntumor diagnostiziert, im Herbst 2010 erschien die Ausreißergeschichte „Tschick“ und wurde zu einem der erfolgreichsten Romane der vergangenen Jahre. Mit Freunden und Lesern kommunizierte Herrndorf über das digitale Tagebuch „Arbeit und Struktur“. 2011 erscheint der Wüstenroman „Sand“, das schwarzromantische Gegenstück zu „Tschick“, ein rasend klug komponiertes Buch. Herrndorf erhält Preise, verdient zum ersten Mal im Leben sehr gut, am
26. August 2013 setzt er am Ufer des Hohenzollernkanals seinem Leben ein Ende. Postum veröffentlicht der Verlag Rowohlt Berlin „Arbeit und Struktur“ sowie den unvollendeten Roman „Bilder deiner großen Liebe“, ein letztes Beispiel der klaren, suggestiven Herrndorf-Prosa: „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“
Am Freitag dieser Woche wäre Wolfgang Herrndorf fünfzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigt das Literaturhaus Berlin eine Ausstellung zu Herrndorfs bildnerischem Werk. Hier kann man den Haffmanns-Kalender bewundern, Arbeiten des Studenten, Witz-Zeichnungen, Buchumschläge, viele kleinformatige Bilder. Herrndorf hat einige seiner Arbeiten selbst vernichtet, etwa 600 sind erhalten. Die Ausstellung und der schöne, informative Katalog bieten einen ersten Einblick in dieses Werk, von dem wir bislang nur wenig wissen. Viele Bilder sind nicht datiert, welche wo publiziert wurden, welche Auftragsarbeiten waren, bliebe vielfach noch zu recherchieren. War Herrndorf ein guter Maler?
Sein handwerkliches Können sticht sofort ins Auge, an den größten Vorbildern der Kunstgeschichte hat er sich erprobt und gemessen. Auch auf seinen Buchumschlägen oder Witz-Bildern werden die Details nicht vernachlässigt. In einer Serie von Bildern, Acryl auf Papier, treibt Herrndorf die Sau durch die Kunstgeschichte: Da sieht man ein Schweinchen als Märtyrer oder in den Armen einer Raffael’schen Madonna. Aber Auge und Verstand des Betrachters werden weiter beschäftigt, auch nachdem die Pointe verstanden ist.
Besonders interessant und mit 51 mal 100 Zentimetern das größte Bild in der Ausstellung ist das auf den 21. Juni 1988 datierte Selbstbildnis des Künstlers (unsere Abbildung). Der Betrachter liegt dem jungen Mann mit offenem, langem Haar zu Füßen: Oben sieht er eine Madonna Raffaels, rechts ein Bild von Donatellos Reiterstandbild des Condottiere Gattamelata. Es steht in Padua. Raffael und Donatello – das spricht für besten Geschmack. Das Selbstbildnis besticht durch provozierende Lässigkeit. Der da mit weit gespreizten Beinen sitzt, weiß, was er kann, was er will.
Das Bildnis schmückt auch den Schuber der gerade erschienenen Gesamtausgabe, die – wie der Autor es wünschte – auf philologisches Beiwerk verzichtet, aber doch so ziemlich alles bringt, was für die Kanonisierung dieses Schriftstellers erforderlich ist: neben seinen großen Werken Kleineres, verstreut Publiziertes. Erinnerungen der Freundin Kathrin Passig und des Lektors Marcus Gärtner, Michael Maars detektivische Lektüre des Wüstenromans, einige Fotos. Die drei Bände sind nun der Herrndorf für die Bibliothek.
Die Bilder in der Ausstellung überraschen immer wieder, etwa ein Hitler-Porträt in Picasso-Manier oder Milošević, eine serbische Titanic präsentierend. Und doch scheint es, als habe der Maler Herrndorf seine Handschrift nicht gefunden. Raffiniert eignet er sich Vorbilder, Muster an und verschwindet als Person wie Zeitgenosse in ihnen. Das Ethos kehrt in seiner Prosa wieder – als Treue zu den Figuren, zu Gedanken, Bildern. Sich überlegen, was man sagen wolle, und es dann sagen, so hat er sein Stilideal beschrieben. Außer in seinen Selbstporträts scheint er als Maler vor allem probiert zu haben, was er kann, was geht. Eines haben der erzählende Maler und der anschauliche Erzähler Herrndorf gemeinsam: Sie langweilen nicht.
Wolfgang Herrndorf: Gesamtausgabe. Rowohlt Berlin, Berlin 2015. 3 Bände, 1840 S., 49,95 Euro. Die Ausstellung „Wolfgang Herrndorf: Bilder“ läuft bis zum 16. August im Literaturhaus Berlin. Der Katalog kostet 18 Euro.
Ob als erzählender Illustrator oder als anschaulicher
Erzähler – Herrndorf langweilt nie
Ich weiß, was ich kann. Und du? Selbstbildnis – datiert auf Juni 1988.
Abb.: Rowohlt Berlin
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015Der ungeschützte Blick auf das eigene Lebensdrama
Wettlauf gegen die Zeit: Zwei Jahre nach seinem Tod gibt es eine Gesamtausgabe der Werke Wolfgang Herrndorfs, die ihn zum modernen Klassiker erhebt. Liest man seine Romane und sein radikales Tagebuch nun anders?
Von Tilmann Lahme
Ein guter Verlierer ist er nicht. Im Jahr 2004 tritt Wolfgang Herrndorf beim Literaturwettstreit um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt an. Seine Erzählung wird von der Jury gelobt, doch den Preis erhält ein anderer. Über das Wettlesen schreibt Herrndorf einen "erfundenen Erfahrungsbericht", der sich so beschwingt liest, wie sich der durch eine Erkältung angeschlagene und von Medikamenten benebelte Herrndorf an diesen Tagen gefühlt haben dürfte: Wie unglaublich nett alle sind, wie begabt und sympathisch die Schriftstellerkollegen und Mitstreiter, wie erfreulich die gesamte Veranstaltung. Deutlicher wird Herrndorf sechs Jahre später in seinem Blog, in dem er seine Erzähltexte gegen die des Konkurrenten hält, der damals gesiegt hat. "Mir ist schleierhaft, wie ich damit in Klagenfurt gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte."
Kurz vor diesem Eintrag, im Februar 2010, hat Herrndorf die Diagnose Krebs erhalten: ein Hirntumor, unheilbar, tödlich. Sein Internettagebuch, zuerst nur für seine Freunde gedacht, wird bald ein öffentliches Dokument seines Lebenskampfes. "Arbeit und Struktur" nennt er das Blog programmatisch. Seine verbleibende Zeit will Herrndorf nicht mit Reisen oder dem Hinterherjagen nach Wunderheilung oder religiöser Erleuchtung verbringen, sondern mit literarischer Arbeit: wenigstens noch einen Roman fertig schreiben. Die schreckliche Diagnose hängt als Damoklesschwert über seinem Leben, aber sie schafft auch Freiheiten. Für das Wieder-und-wieder-Umarbeiten seiner Texte, für das langwierige Abwägen der Frage, ob "Es klingelt mich aus dem Schlaf" oder "Die Klingel holte mich aus dem Schlaf" der bessere erste Satz ist, hat er nun keine Zeit mehr - die Klagenfurter Erzählung, mit der viele auf den weithin unbekannten Autor Herrndorf aufmerksam geworden sind, war nicht zuletzt wegen solcher Zaudereien erst drei Jahre nach dem Bachmann-Wettstreit erschienen. Für Prokrastination, für viel zu viele parallel geschriebene und allesamt nicht fertiggestellte Schreibprojekte ist mit einem Mal kein Raum mehr in Herrndorfs Leben, ebenso wenig wie für Rücksichten auf den Literaturbetrieb und auf das, was die Kollegen oder die Kritiker über ihn denken könnten.
Drei Tage nach seinem ersten Vergleich im Blog kommt Herrndorf erneut auf Uwe Tellkamp zurück, der nach Klagenfurt auch den Deutschen Buchpreis mit seinem Roman "Der Turm" gewonnen hat und mittlerweile ein berühmter Autor geworden ist. Keinerlei Form und Struktur, bemängelt Herrndorf an dem ostdeutschen Familienroman: "Nicht mal der Versuch zu irgendwas. Dieses ganze Gedödel um Uhren und Brötchen ist ja das Eigentliche, der existentielle Kern dieses sprachlich verlotterten Scheißdrecks. Uhren und Brötchen und Mädchen hätte ich am liebsten geschrieben, aber selbst das Mädchen, den Selbstläufer einer wie auch immer vermurksten Adoleszenzgeschichte kriegt er nicht hin, versackt im Nichts." Wie anders dagegen Thomas Mann, mit dem Tellkamp ständig verglichen werde: Wie dieser überragende formale "Trickser" und Meister der Desillusion im "Zauberberg" die große Liebe der Hauptperson "120 Seiten vor Schluss in einem Nebensatz aus dem Roman eskamotiert, um das Elend ihrer Nichtanwesenheit, den Liebeswahnsinn und die fiebrige Erwartung ihrer Rückkehr gezielt aus Hans Castorp hinaus- und in den Leser hineinzuprügeln" - als er das zum ersten Mal gelesen habe, so Herrndorf, sei er "fast gestorben".
Das Ungeschützte, Nackte, Direkte, der lakonische Blick auf die Welt und das eigene Lebensdrama ziehen die Leser von Herrndorfs Blogs in den Bann. Es ist dieser wie hingeworfen wirkende, saloppe, zuweilen schnoddrige, dabei bis ins Detail genau konstruierte Erzählton, den Herrndorf entwickelt, um die leiseren, sanften Klänge umso stärker wirken zu lassen. Es geht nicht um "Wahrheit", schreibt er einmal, das sei etwas für die Wissenschaft. In der Literatur aber sei Wahrheit schlicht langweilig - und entsprechend handelt er, auch im Blog, in dem sich so unterhaltsame wie ungerechte Äußerungen wie die über Tellkamp aneinanderreihen, die mehr über den Schreiber verraten als über den Gegenstand.
Das gilt auch für sein eigenes Schaffen, "Wikipedia-Literatur", lässt er sich von seiner Freundin Kathrin Passig verhöhnen. Es ist hier ebenso wie in seinen Büchern: Man darf keiner direkten Aussage trauen. Im Herbst 2010 erscheint der Roman "Tschick", und eine der größten Erfolgs- und Traurigkeitsgeschichten der deutschen Literatur beginnt. Wolfgang Herrndorf, der sich seit Jahren mit geringem Erfolg als Maler und Schriftsteller durchs Leben schlägt, hofft mit ständigem Blick auf die Statistik bei Amazon auf eine verkaufte Auflage jenseits der dreitausend. Sein Roman zweier Jugendlicher, die ein Auto klauen und eine Abenteuerreise durch die brandenburgische Provinz erleben, wird zu einem Bestseller, millionenfach gekauft und gelesen, von der Kritik gefeiert, Schulstoff im Deutschunterricht, auf Theaterbühnen gespielt. Plötzlich hat Herrndorf Geld, Erfolg, Ruhm. Und eine statistische Lebenserwartung von siebzehn Monaten nach der Diagnose.
Zwei Jahre ist es mittlerweile her, dass Wolfgang Herrndorf gestorben ist, von eigener Hand, um dem Tumor in seinem Kopf nicht die Herrschaft über seine letzten, siechen Tage zu überlassen. Sein Verlag Rowohlt Berlin hat nun, zum fünfzigsten Geburtstag des Autors in diesem Jahr, eine Gesamtausgabe vorgelegt: Drei schöne, petrolblaue Leinenbände im Schuber, die das schmale Werk versammeln, das Herrndorf fertigstellen konnte: den Erstlingsroman "In Plüschgewittern" (2002), eine Art Adoleszenzroman eines Dreißigjährigen; den Erzählungsband "Diesseits des Van-Allan-Gürtels" (2007); die Romane "Tschick" (2010) und "Sand" (2011); das Internettagebuch "Arbeit und Struktur" (als Buch zuerst 2013 erschienen); den Fragment gebliebenen Roman "Bilder deiner großen Liebe" (2014), der die Geschichte von Isa erzählt, die man bereits in "Tschick" als verrückte Ausreißerin und Müllmädchen, in das sich der Held des Buches verliebt, kennengelernt hat; dazu wenige verstreute kurze Texte Herrndorfs.
Adoleszenz und Desillusion, die Hoffnung derer, die noch hoffen können, gegen den Zynismus der Enttäuschten: Diese Pole stehen im Zentrum von Herrndorfs Werk, und zwar lange bevor seine Krankheit ihm die Beschäftigung mit dem, was Schopenhauer unter den "letzten Dingen" verstand, aufdrängt. In der Erzählung, die Herrndorf in Klagenfurt vortrug, gibt sich ein Mann größte Mühe, einem Jungen seinen Traum, eines Tages in den Weltraum zu reisen, zu zerstören: Die Mondlandung sei ein Betrug gewesen, ein in Hollywood inszenierter PR-Coup der Amerikaner, niemand könne in den Weltraum reisen. In "Tschick" überwiegen die heiteren Momente - wann konnte es sich ein Autor leisten, grandios komische Passagen wie die des in höchster Liebes- und Zeitnot dichtenden Romanhelden Maik aus dem Buch zu streichen, weil es überreich war an komischen Schulszenen? Wir finden sie als "Outtake" in "Arbeit und Struktur" - und als Abschluss einer von überhaupt nur zwei kurzen filmisch dokumentierten Lesungen von Herrndorf auf Youtube.
"Sand" hingegen, der zweite der Krankheit abgerungene Roman, betont die dunklen Seiten, das Abgründige: ein so raffinierter wie böser Agentenroman ohne Sinn und Trost, in dem gefoltert und gemordet wird, bis selbst der minderbegabte Held des Romans tot in der Wüste liegt. Das Ungewöhnliche an Herrndorfs Werk ist weniger das Nebeneinander von Licht und Schatten, sondern dass die Bücher zwar allesamt vom typischen Erzählton Herrndorfs getragen sind, sich sonst aber stark unterscheiden. Das breite Lesepublikum, das "Tschick" liest und liebt und nun zu "Sand" greift, reibt sich verwundert die Augen über die Rätselhaftigkeit, darüber, dass man ohne genauestes Lesen die Freude an diesem Roman rasch verliert - enttäuschte und begeisterte Leserkritiken im Internet dokumentieren dies. In der Gesamtausgabe hilft der kluge Entschlüsselungsaufsatz von Michael Maar - wer steckenbleibt, lasse sich von ihm aus dem "Sand" ziehen.
Liest man Wolfgang Herrndorf heute, zwei Jahre nach seinem Tod und mit einer Ausgabe, die ihn in die Reihe der Klassiker erheben soll, anders? Der Trubel rückt in die Ferne, die Geschichte um den todkranken Autor, der auf seinen letzten Lebensmetern diese großartigen literarischen Erfolge erlebte, hohe Verkaufszahlen, Literaturpreise, begeisterte Kritiken fast ohne Gegenstimmen - zum Kulturbetrieb aber auf Distanz blieb, die Preise nicht persönlich entgegennahm und nur über sein Blog mit der Öffentlichkeit kommunizierte. Zunächst: Der Mehrwert der Gesamtausgabe gegenüber den einzelnen Büchern ist, von der schönen Aufmachung abgesehen, überschaubar. Das ist so bedauerlich wie, in Teilen, verständlich. Herrndorf hat nach eigener Aussage dafür gesorgt, der verachteten Germanistik keinen Stoff zu hinterlassen. Er habe Briefe, Tagebücher und unveröffentlichte Texte vernichtet. So bleibt für die Gesamtausgabe nur, was ohnehin schon vorliegt.
Zumindest im Fall von "Arbeit und Struktur" ist die betont ablehnende Haltung gegenüber einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die auch aus den knappen Texten von Kathrin Passig im Anhang spricht, bedauerlich. Herrndorfs Blog wird in dieser Ausgabe zum dritten Mal veröffentlicht. Zuerst las man es im Internet, zeitlich nah, aber nicht tagesaktuell und mit Verzögerungen. Herrndorf, der an Thomas Mann geschulte "Trickser", übertrug sein Leid und seine Hoffnung auf den Leser. Man fühlte nicht nur lesend mit, sondern auch und gerade in den Pausen, in denen keine neue Eintragung erschien und nur das "tbc" unter dem letzten Eintrag eine fragliche Zuversicht ausstrahlte: "to be continued". Als nach Herrndorfs Tod das Tagebuch gedruckt erschien, las man es anders, vom Ende her: als Tagebuch eines angekündigten Selbstmordes. Es sei kein autobiographisch-literarischer Text, urteilte ein Kritiker, sondern allenfalls ein Beitrag zur Debatte um selbstbestimmtes Sterben. Für die vielen komischen und traurigen Beobachtungen Herrndorfs und für seine Aussage, die letzten Jahre seines Lebens seien die besten gewesen, war in dieser Lesart kein Platz. Das bestürzende Ende überragte alles.
Die Chance, dem Tagebuch mit Hilfe der Gesamtausgabe den Weg dorthin zu weisen, wo es hingehört, unter die großen Tagebücher der Literaturgeschichte, hat der Verlag versäumt, indem er einfach den nahezu unkommentierten Text der Buchausgabe von 2013 übernommen hat. Für den Leser ist dies, abgesehen von ein paar zusätzlichen Passagen, ein Rückschritt gegenüber der Online-Version (die bis heute im Netz steht und auch stehen bleiben soll). Dort kann man den Links, die im Buch in den wenigen Anmerkungen mühsam umschrieben werden, wenigstens direkt folgen. Statt des umstandslosen Wiederabdrucks wäre eine kommentierte Version wünschenswert gewesen, die Bezüge herstellt und Kontexte erläutert, welche fremder werden, je länger sie zurückliegen.
Eine Version, die auch die Frage aufgreift, wie zuverlässig der große Autor des unzuverlässigen Erzählens in seinem Tagebuch war. Dass man zum Beispiel den Hintergrund von Herrndorfs Behauptung, Thor Kunkel und Joachim Lottmann hätten seine Krankheit als "Marketingcoup" bezeichnet, selbst überprüfen muss, ist einer solchen Ausgabe, wie sie hier vorliegt, unwürdig (Lottmann hat dies in der Tat in seinem "taz"-Blog angedeutet; jemand, der sich "Thor Kunkel" nennt und es möglicherweise wirklich ist, wehrte sich zu Beginn dieses Jahres andernorts in einem Forumsbeitrag empört über die Herrndorfsche Verleumdung). Sollte es ein nächstes Mal geben: Bitte etwas weniger von Herrndorfs idiosynkratischer Germanisten-Verachtung zugrunde legen.
Wolfgang Herrndorf lehnte den Trost eines möglichen Nachruhms vehement ab. So sehr, dass, wie bei all seinen apodiktischen Urteilen, wohl doch etwas da war, tief unten, das er nicht nach oben kommen lassen wollte, wie die metaphysischen Zauberklänge, denen er immer wieder lauschte, wenn er zurückdachte an Kindheitsmomente oder wenn er einen Sonnenaufgang sah, ein Kind oder eine sterbende Libelle. Klänge, die er bei nächster Gelegenheit wieder mit seinem Nihilismus oder mit Attacken auf alle Vertreter des Religiösen, von Margot Käßmann bis zum Papst, zurückdrängte. Dass wir heute dieses große, vielschichtige Werk von Wolfgang Herrndorf haben, ist Trost und Glück zugleich.
Wolfgang Herrndorf: "Gesamtausgabe."
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2015. 3 Bände im Schuber, 1840 S., geb., 49,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wettlauf gegen die Zeit: Zwei Jahre nach seinem Tod gibt es eine Gesamtausgabe der Werke Wolfgang Herrndorfs, die ihn zum modernen Klassiker erhebt. Liest man seine Romane und sein radikales Tagebuch nun anders?
Von Tilmann Lahme
Ein guter Verlierer ist er nicht. Im Jahr 2004 tritt Wolfgang Herrndorf beim Literaturwettstreit um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt an. Seine Erzählung wird von der Jury gelobt, doch den Preis erhält ein anderer. Über das Wettlesen schreibt Herrndorf einen "erfundenen Erfahrungsbericht", der sich so beschwingt liest, wie sich der durch eine Erkältung angeschlagene und von Medikamenten benebelte Herrndorf an diesen Tagen gefühlt haben dürfte: Wie unglaublich nett alle sind, wie begabt und sympathisch die Schriftstellerkollegen und Mitstreiter, wie erfreulich die gesamte Veranstaltung. Deutlicher wird Herrndorf sechs Jahre später in seinem Blog, in dem er seine Erzähltexte gegen die des Konkurrenten hält, der damals gesiegt hat. "Mir ist schleierhaft, wie ich damit in Klagenfurt gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte."
Kurz vor diesem Eintrag, im Februar 2010, hat Herrndorf die Diagnose Krebs erhalten: ein Hirntumor, unheilbar, tödlich. Sein Internettagebuch, zuerst nur für seine Freunde gedacht, wird bald ein öffentliches Dokument seines Lebenskampfes. "Arbeit und Struktur" nennt er das Blog programmatisch. Seine verbleibende Zeit will Herrndorf nicht mit Reisen oder dem Hinterherjagen nach Wunderheilung oder religiöser Erleuchtung verbringen, sondern mit literarischer Arbeit: wenigstens noch einen Roman fertig schreiben. Die schreckliche Diagnose hängt als Damoklesschwert über seinem Leben, aber sie schafft auch Freiheiten. Für das Wieder-und-wieder-Umarbeiten seiner Texte, für das langwierige Abwägen der Frage, ob "Es klingelt mich aus dem Schlaf" oder "Die Klingel holte mich aus dem Schlaf" der bessere erste Satz ist, hat er nun keine Zeit mehr - die Klagenfurter Erzählung, mit der viele auf den weithin unbekannten Autor Herrndorf aufmerksam geworden sind, war nicht zuletzt wegen solcher Zaudereien erst drei Jahre nach dem Bachmann-Wettstreit erschienen. Für Prokrastination, für viel zu viele parallel geschriebene und allesamt nicht fertiggestellte Schreibprojekte ist mit einem Mal kein Raum mehr in Herrndorfs Leben, ebenso wenig wie für Rücksichten auf den Literaturbetrieb und auf das, was die Kollegen oder die Kritiker über ihn denken könnten.
Drei Tage nach seinem ersten Vergleich im Blog kommt Herrndorf erneut auf Uwe Tellkamp zurück, der nach Klagenfurt auch den Deutschen Buchpreis mit seinem Roman "Der Turm" gewonnen hat und mittlerweile ein berühmter Autor geworden ist. Keinerlei Form und Struktur, bemängelt Herrndorf an dem ostdeutschen Familienroman: "Nicht mal der Versuch zu irgendwas. Dieses ganze Gedödel um Uhren und Brötchen ist ja das Eigentliche, der existentielle Kern dieses sprachlich verlotterten Scheißdrecks. Uhren und Brötchen und Mädchen hätte ich am liebsten geschrieben, aber selbst das Mädchen, den Selbstläufer einer wie auch immer vermurksten Adoleszenzgeschichte kriegt er nicht hin, versackt im Nichts." Wie anders dagegen Thomas Mann, mit dem Tellkamp ständig verglichen werde: Wie dieser überragende formale "Trickser" und Meister der Desillusion im "Zauberberg" die große Liebe der Hauptperson "120 Seiten vor Schluss in einem Nebensatz aus dem Roman eskamotiert, um das Elend ihrer Nichtanwesenheit, den Liebeswahnsinn und die fiebrige Erwartung ihrer Rückkehr gezielt aus Hans Castorp hinaus- und in den Leser hineinzuprügeln" - als er das zum ersten Mal gelesen habe, so Herrndorf, sei er "fast gestorben".
Das Ungeschützte, Nackte, Direkte, der lakonische Blick auf die Welt und das eigene Lebensdrama ziehen die Leser von Herrndorfs Blogs in den Bann. Es ist dieser wie hingeworfen wirkende, saloppe, zuweilen schnoddrige, dabei bis ins Detail genau konstruierte Erzählton, den Herrndorf entwickelt, um die leiseren, sanften Klänge umso stärker wirken zu lassen. Es geht nicht um "Wahrheit", schreibt er einmal, das sei etwas für die Wissenschaft. In der Literatur aber sei Wahrheit schlicht langweilig - und entsprechend handelt er, auch im Blog, in dem sich so unterhaltsame wie ungerechte Äußerungen wie die über Tellkamp aneinanderreihen, die mehr über den Schreiber verraten als über den Gegenstand.
Das gilt auch für sein eigenes Schaffen, "Wikipedia-Literatur", lässt er sich von seiner Freundin Kathrin Passig verhöhnen. Es ist hier ebenso wie in seinen Büchern: Man darf keiner direkten Aussage trauen. Im Herbst 2010 erscheint der Roman "Tschick", und eine der größten Erfolgs- und Traurigkeitsgeschichten der deutschen Literatur beginnt. Wolfgang Herrndorf, der sich seit Jahren mit geringem Erfolg als Maler und Schriftsteller durchs Leben schlägt, hofft mit ständigem Blick auf die Statistik bei Amazon auf eine verkaufte Auflage jenseits der dreitausend. Sein Roman zweier Jugendlicher, die ein Auto klauen und eine Abenteuerreise durch die brandenburgische Provinz erleben, wird zu einem Bestseller, millionenfach gekauft und gelesen, von der Kritik gefeiert, Schulstoff im Deutschunterricht, auf Theaterbühnen gespielt. Plötzlich hat Herrndorf Geld, Erfolg, Ruhm. Und eine statistische Lebenserwartung von siebzehn Monaten nach der Diagnose.
Zwei Jahre ist es mittlerweile her, dass Wolfgang Herrndorf gestorben ist, von eigener Hand, um dem Tumor in seinem Kopf nicht die Herrschaft über seine letzten, siechen Tage zu überlassen. Sein Verlag Rowohlt Berlin hat nun, zum fünfzigsten Geburtstag des Autors in diesem Jahr, eine Gesamtausgabe vorgelegt: Drei schöne, petrolblaue Leinenbände im Schuber, die das schmale Werk versammeln, das Herrndorf fertigstellen konnte: den Erstlingsroman "In Plüschgewittern" (2002), eine Art Adoleszenzroman eines Dreißigjährigen; den Erzählungsband "Diesseits des Van-Allan-Gürtels" (2007); die Romane "Tschick" (2010) und "Sand" (2011); das Internettagebuch "Arbeit und Struktur" (als Buch zuerst 2013 erschienen); den Fragment gebliebenen Roman "Bilder deiner großen Liebe" (2014), der die Geschichte von Isa erzählt, die man bereits in "Tschick" als verrückte Ausreißerin und Müllmädchen, in das sich der Held des Buches verliebt, kennengelernt hat; dazu wenige verstreute kurze Texte Herrndorfs.
Adoleszenz und Desillusion, die Hoffnung derer, die noch hoffen können, gegen den Zynismus der Enttäuschten: Diese Pole stehen im Zentrum von Herrndorfs Werk, und zwar lange bevor seine Krankheit ihm die Beschäftigung mit dem, was Schopenhauer unter den "letzten Dingen" verstand, aufdrängt. In der Erzählung, die Herrndorf in Klagenfurt vortrug, gibt sich ein Mann größte Mühe, einem Jungen seinen Traum, eines Tages in den Weltraum zu reisen, zu zerstören: Die Mondlandung sei ein Betrug gewesen, ein in Hollywood inszenierter PR-Coup der Amerikaner, niemand könne in den Weltraum reisen. In "Tschick" überwiegen die heiteren Momente - wann konnte es sich ein Autor leisten, grandios komische Passagen wie die des in höchster Liebes- und Zeitnot dichtenden Romanhelden Maik aus dem Buch zu streichen, weil es überreich war an komischen Schulszenen? Wir finden sie als "Outtake" in "Arbeit und Struktur" - und als Abschluss einer von überhaupt nur zwei kurzen filmisch dokumentierten Lesungen von Herrndorf auf Youtube.
"Sand" hingegen, der zweite der Krankheit abgerungene Roman, betont die dunklen Seiten, das Abgründige: ein so raffinierter wie böser Agentenroman ohne Sinn und Trost, in dem gefoltert und gemordet wird, bis selbst der minderbegabte Held des Romans tot in der Wüste liegt. Das Ungewöhnliche an Herrndorfs Werk ist weniger das Nebeneinander von Licht und Schatten, sondern dass die Bücher zwar allesamt vom typischen Erzählton Herrndorfs getragen sind, sich sonst aber stark unterscheiden. Das breite Lesepublikum, das "Tschick" liest und liebt und nun zu "Sand" greift, reibt sich verwundert die Augen über die Rätselhaftigkeit, darüber, dass man ohne genauestes Lesen die Freude an diesem Roman rasch verliert - enttäuschte und begeisterte Leserkritiken im Internet dokumentieren dies. In der Gesamtausgabe hilft der kluge Entschlüsselungsaufsatz von Michael Maar - wer steckenbleibt, lasse sich von ihm aus dem "Sand" ziehen.
Liest man Wolfgang Herrndorf heute, zwei Jahre nach seinem Tod und mit einer Ausgabe, die ihn in die Reihe der Klassiker erheben soll, anders? Der Trubel rückt in die Ferne, die Geschichte um den todkranken Autor, der auf seinen letzten Lebensmetern diese großartigen literarischen Erfolge erlebte, hohe Verkaufszahlen, Literaturpreise, begeisterte Kritiken fast ohne Gegenstimmen - zum Kulturbetrieb aber auf Distanz blieb, die Preise nicht persönlich entgegennahm und nur über sein Blog mit der Öffentlichkeit kommunizierte. Zunächst: Der Mehrwert der Gesamtausgabe gegenüber den einzelnen Büchern ist, von der schönen Aufmachung abgesehen, überschaubar. Das ist so bedauerlich wie, in Teilen, verständlich. Herrndorf hat nach eigener Aussage dafür gesorgt, der verachteten Germanistik keinen Stoff zu hinterlassen. Er habe Briefe, Tagebücher und unveröffentlichte Texte vernichtet. So bleibt für die Gesamtausgabe nur, was ohnehin schon vorliegt.
Zumindest im Fall von "Arbeit und Struktur" ist die betont ablehnende Haltung gegenüber einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die auch aus den knappen Texten von Kathrin Passig im Anhang spricht, bedauerlich. Herrndorfs Blog wird in dieser Ausgabe zum dritten Mal veröffentlicht. Zuerst las man es im Internet, zeitlich nah, aber nicht tagesaktuell und mit Verzögerungen. Herrndorf, der an Thomas Mann geschulte "Trickser", übertrug sein Leid und seine Hoffnung auf den Leser. Man fühlte nicht nur lesend mit, sondern auch und gerade in den Pausen, in denen keine neue Eintragung erschien und nur das "tbc" unter dem letzten Eintrag eine fragliche Zuversicht ausstrahlte: "to be continued". Als nach Herrndorfs Tod das Tagebuch gedruckt erschien, las man es anders, vom Ende her: als Tagebuch eines angekündigten Selbstmordes. Es sei kein autobiographisch-literarischer Text, urteilte ein Kritiker, sondern allenfalls ein Beitrag zur Debatte um selbstbestimmtes Sterben. Für die vielen komischen und traurigen Beobachtungen Herrndorfs und für seine Aussage, die letzten Jahre seines Lebens seien die besten gewesen, war in dieser Lesart kein Platz. Das bestürzende Ende überragte alles.
Die Chance, dem Tagebuch mit Hilfe der Gesamtausgabe den Weg dorthin zu weisen, wo es hingehört, unter die großen Tagebücher der Literaturgeschichte, hat der Verlag versäumt, indem er einfach den nahezu unkommentierten Text der Buchausgabe von 2013 übernommen hat. Für den Leser ist dies, abgesehen von ein paar zusätzlichen Passagen, ein Rückschritt gegenüber der Online-Version (die bis heute im Netz steht und auch stehen bleiben soll). Dort kann man den Links, die im Buch in den wenigen Anmerkungen mühsam umschrieben werden, wenigstens direkt folgen. Statt des umstandslosen Wiederabdrucks wäre eine kommentierte Version wünschenswert gewesen, die Bezüge herstellt und Kontexte erläutert, welche fremder werden, je länger sie zurückliegen.
Eine Version, die auch die Frage aufgreift, wie zuverlässig der große Autor des unzuverlässigen Erzählens in seinem Tagebuch war. Dass man zum Beispiel den Hintergrund von Herrndorfs Behauptung, Thor Kunkel und Joachim Lottmann hätten seine Krankheit als "Marketingcoup" bezeichnet, selbst überprüfen muss, ist einer solchen Ausgabe, wie sie hier vorliegt, unwürdig (Lottmann hat dies in der Tat in seinem "taz"-Blog angedeutet; jemand, der sich "Thor Kunkel" nennt und es möglicherweise wirklich ist, wehrte sich zu Beginn dieses Jahres andernorts in einem Forumsbeitrag empört über die Herrndorfsche Verleumdung). Sollte es ein nächstes Mal geben: Bitte etwas weniger von Herrndorfs idiosynkratischer Germanisten-Verachtung zugrunde legen.
Wolfgang Herrndorf lehnte den Trost eines möglichen Nachruhms vehement ab. So sehr, dass, wie bei all seinen apodiktischen Urteilen, wohl doch etwas da war, tief unten, das er nicht nach oben kommen lassen wollte, wie die metaphysischen Zauberklänge, denen er immer wieder lauschte, wenn er zurückdachte an Kindheitsmomente oder wenn er einen Sonnenaufgang sah, ein Kind oder eine sterbende Libelle. Klänge, die er bei nächster Gelegenheit wieder mit seinem Nihilismus oder mit Attacken auf alle Vertreter des Religiösen, von Margot Käßmann bis zum Papst, zurückdrängte. Dass wir heute dieses große, vielschichtige Werk von Wolfgang Herrndorf haben, ist Trost und Glück zugleich.
Wolfgang Herrndorf: "Gesamtausgabe."
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2015. 3 Bände im Schuber, 1840 S., geb., 49,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilmann Lahme ist froh über das große, vielschichtige Werk von Wolfgang Herrndorf, das nun, zum 50. Geburtstag des Autors, sogar als Gesamtausgabe zu haben ist. Einerseits. Andererseits erschließt sich ihm der Sinn einer solchen Ausgabe nicht, wenn nur noch einmal gedruckt wird, was ohnehin schon vorliegt. Zwar weiß Lahme um Herrndorfs Ablehnung jeglicher germanistischer Kommentierung. Die Herstellung des ein oder anderen Bezuges oder Kontextes, etwa im Fall des Internettagebuchs "Arbeit und Struktur", hätte er sich dennoch gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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