Nach einer fünfjährigen Weltreise, auf der Suche nach seiner verschwundenen Mutter, kehrt Conor Lyons nach Irland zu seinem alten Vater zurück, der in einem trüben Fluß nach den letzten Fischen angelt. Mit Hilfe vergilbter Fotos und rätselhafter Erinnerungen will Conor die Wahrheit über seine Eltern und sich erfahren. Ein melancholischer Epos über Vergänglichkeit, Liebe und Verlust.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1996Der Fluch des Rückwärtsgangs
Irische Selbstfindung: Colum McCanns "Gesang der Kojoten"
Überall scheint es besser zu sein als hier, in der Ödnis der irischen Ortschaft Mayo. In diesem Dorf fristet Michael Lyons die letzten Jahre seines Daseins; ein Greis von annähernd achtzig Jahren, der sein Haus und seinen Körper verwittern läßt und des Nachts der Einfachheit halber ins Waschbecken uriniert. Tagsüber sitzt er unten am braunen Fluß, in dem seit langem nur noch Tierinnereien und andere Abfälle der nahen Fleischfabrik dahintreiben, und angelt nach einem riesigen, imaginären Lachs. Sein Sohn Conor beobachtet die Szene: "Es ist die Lethargie der Gegenwart, die uns in Panik versetzt. Die Langsamkeit, die Banalität, der Trott eines jeden Tages." Doch Conor ist nicht der Gegenwart wegen zum Vater zurückgekehrt.
Der erste Roman des in Dublin geborenen Colum McCann, Jahrgang 1965, erzählt von Reisen - den räumlichen dorthin, wo es ein neues Leben zu erobern gilt, und denen in die Vergangenheit, wo ungelebte Leben ihrer Erweckung harren; es ist die ureigene irische Suche nach Identität, die der Autor beschreibt. Ungewöhnlich jedoch ist das Ausmaß, in welchem der Protagonist, der junge Conor, vom Vergangenen besessen ist: Als könne er dadurch die eigene Existenz rechtfertigen, begibt er sich auf die Suche nach seiner Mutter, die in seiner Kindheit verschwand, und versucht den Lebensweg seiner Eltern zu rekonstruieren. Als Leitstern dient das alte Fotoalbum des Vaters.
Seine Phantasiereisen in die versteinerte Gegenwart der Bilder verschwimmen mit realen Aufenthalten an seltsam unwirklichen Orten, alkoholgeschwängerten Tagen in der Hitze des mexikanischen Geburtsdorfes der Mutter oder im San Francisco der Post-Hippie-Ära. Füllte sein Vater sich durch die Fotos einst mit dem Leben fremder Personen, so nähert sich Conor immer mehr der Identität des Vaters an, während sein eigenes Leben an ihm vorbeistreift. Im Bemühen, das völlig verwahrloste Haus des Alten wohnlicher zu machen und den Angelplatz vom Müll zu reinigen, steckt der Wunsch, Ordnung in die eigene Existenz zu bringen. "Ich kann nichts für dieses Rückwärtswandern", rechtfertigt er sich vor sich selbst: "Es ist mein persönlicher Fluch."
Sich überlagernde Wirklichkeitsebenen und zum Leben erwachende Fotos sind nicht erst seit "Dorian Gray" beliebte Themen der Literatur. Auch die Suche nach der Mutter, erst recht der Vater-Sohn-Konflikt sind zur Genüge verarbeitet worden. Daß man Conor dennoch bereitwillig durch Raum und Zeit begleitet, liegt an der geschickten Komposition und McCanns harmonisch fließender Sprache. Am meisten überzeugt der Roman paradoxerweise in den Schilderungen der Gegenwart, den sieben Tagen unbeholfener Annäherungen zwischen dem Vater und dem von dessen körperlichen Verfall zugleich abgestoßenen und angerührten Sohn.
Zuletzt bleibt der Leser allerdings mit einer Reihe offener Fragen zurück. Die Liebe der Eltern etwa, die - wie Conor selbst feststellt - in "verschiedenen Welten, zwischen denen es keine Brücke geben konnte", lebten, ist durch die Zweidimensionalität der Fotos nicht zu vermitteln und bleibt rätselhaft. Warum sich Conor derart selbstvergessen auf die Reise begibt, wenn doch die Geschichte seiner Eltern zum Großteil nicht weniger trist und trostlos verlief als die armselige Gegenwart, und welchen Reiz die eher traurige Gestalt seines Vaters auf ihn ausübt, ist ebenso nicht ganz einleuchtend. (Die Psychoanalyse würde zur Erklärung vielleicht den Begriff des "patrizentrischen Komplexes" bemühen.) Trotz allem: ein gelungenes Debüt. JÖRG THOMANN
Colum McCann: "Gesang der Kojoten". Roman. Aus demEnglischen übersetzt von Matthias Müller. Rowohlt Verlag, Reinbek 1996. 265 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Irische Selbstfindung: Colum McCanns "Gesang der Kojoten"
Überall scheint es besser zu sein als hier, in der Ödnis der irischen Ortschaft Mayo. In diesem Dorf fristet Michael Lyons die letzten Jahre seines Daseins; ein Greis von annähernd achtzig Jahren, der sein Haus und seinen Körper verwittern läßt und des Nachts der Einfachheit halber ins Waschbecken uriniert. Tagsüber sitzt er unten am braunen Fluß, in dem seit langem nur noch Tierinnereien und andere Abfälle der nahen Fleischfabrik dahintreiben, und angelt nach einem riesigen, imaginären Lachs. Sein Sohn Conor beobachtet die Szene: "Es ist die Lethargie der Gegenwart, die uns in Panik versetzt. Die Langsamkeit, die Banalität, der Trott eines jeden Tages." Doch Conor ist nicht der Gegenwart wegen zum Vater zurückgekehrt.
Der erste Roman des in Dublin geborenen Colum McCann, Jahrgang 1965, erzählt von Reisen - den räumlichen dorthin, wo es ein neues Leben zu erobern gilt, und denen in die Vergangenheit, wo ungelebte Leben ihrer Erweckung harren; es ist die ureigene irische Suche nach Identität, die der Autor beschreibt. Ungewöhnlich jedoch ist das Ausmaß, in welchem der Protagonist, der junge Conor, vom Vergangenen besessen ist: Als könne er dadurch die eigene Existenz rechtfertigen, begibt er sich auf die Suche nach seiner Mutter, die in seiner Kindheit verschwand, und versucht den Lebensweg seiner Eltern zu rekonstruieren. Als Leitstern dient das alte Fotoalbum des Vaters.
Seine Phantasiereisen in die versteinerte Gegenwart der Bilder verschwimmen mit realen Aufenthalten an seltsam unwirklichen Orten, alkoholgeschwängerten Tagen in der Hitze des mexikanischen Geburtsdorfes der Mutter oder im San Francisco der Post-Hippie-Ära. Füllte sein Vater sich durch die Fotos einst mit dem Leben fremder Personen, so nähert sich Conor immer mehr der Identität des Vaters an, während sein eigenes Leben an ihm vorbeistreift. Im Bemühen, das völlig verwahrloste Haus des Alten wohnlicher zu machen und den Angelplatz vom Müll zu reinigen, steckt der Wunsch, Ordnung in die eigene Existenz zu bringen. "Ich kann nichts für dieses Rückwärtswandern", rechtfertigt er sich vor sich selbst: "Es ist mein persönlicher Fluch."
Sich überlagernde Wirklichkeitsebenen und zum Leben erwachende Fotos sind nicht erst seit "Dorian Gray" beliebte Themen der Literatur. Auch die Suche nach der Mutter, erst recht der Vater-Sohn-Konflikt sind zur Genüge verarbeitet worden. Daß man Conor dennoch bereitwillig durch Raum und Zeit begleitet, liegt an der geschickten Komposition und McCanns harmonisch fließender Sprache. Am meisten überzeugt der Roman paradoxerweise in den Schilderungen der Gegenwart, den sieben Tagen unbeholfener Annäherungen zwischen dem Vater und dem von dessen körperlichen Verfall zugleich abgestoßenen und angerührten Sohn.
Zuletzt bleibt der Leser allerdings mit einer Reihe offener Fragen zurück. Die Liebe der Eltern etwa, die - wie Conor selbst feststellt - in "verschiedenen Welten, zwischen denen es keine Brücke geben konnte", lebten, ist durch die Zweidimensionalität der Fotos nicht zu vermitteln und bleibt rätselhaft. Warum sich Conor derart selbstvergessen auf die Reise begibt, wenn doch die Geschichte seiner Eltern zum Großteil nicht weniger trist und trostlos verlief als die armselige Gegenwart, und welchen Reiz die eher traurige Gestalt seines Vaters auf ihn ausübt, ist ebenso nicht ganz einleuchtend. (Die Psychoanalyse würde zur Erklärung vielleicht den Begriff des "patrizentrischen Komplexes" bemühen.) Trotz allem: ein gelungenes Debüt. JÖRG THOMANN
Colum McCann: "Gesang der Kojoten". Roman. Aus demEnglischen übersetzt von Matthias Müller. Rowohlt Verlag, Reinbek 1996. 265 S., geb., 38,- DM.
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Gesang der Kojoten ist tatsächlich eine literarische Sensation, ein subtiles Meisterwerk über das Labyrinth der Erinnerung. Der Tagesspiegel