1948, zwei Jahre nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, schloss die Schweiz einen Handelsvertrag mit der Sowjetunion, auf dessen Basis sich die Handelsbeziehungen erfolgreich entwickelten. In der Breschnew-Zeit, dem Hauptzeitraum der Untersuchung, standen Handels- und Wirtschaftsfragen im Zentrum des schweizerisch-sowjetischen Verhältnisses. Sie bildeten ungeachtet des geringen Volumens die stabilisierende Grundlage für die Beziehungen der beiden Länder im Ganzen und liessen nach dem Zerfall der Sowjetunion schweizerische Unternehmen zu den ersten Investoren in Russland werden.Die vorliegende Studie basiert auf umfangreichem schweizerischem Archivmaterial, im Fokus steht die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen für die Schweiz. Die Entwicklung der Handelsbeziehungen wird chronologisch aufgezeigt und auf der wirtschaftspolitischen, der unternehmerischen und der personellen Ebene untersucht. Ein Schwerpunkt liegt auf den Besonderheiten und Herausforderungen der Kooperation zweier komplett unterschiedlicher Systeme, der zentral verwalteten sowjetischen Staatswirtschaft und der liberal organisierten schweizerischen Privatwirtschaft.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Geschichte der Schweizer Handelsbeziehungen zur Sowjetunion ist ein wichtiges Thema für die Forschung, stellt Rezensent Jürgen Klöckler nach der Lektüre von Christina Lohms Dissertation fest. Tatsächlich war die Schweizer Wirtschaftspolitik während des Kalten Krieges nicht wirklich neutral, lernen wir, direkt nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen nach dem Krieg, liefen auch die Geschäftsbeziehungen von Schweizer Unternehmen zur Sowjetunion wieder an. Wichtige Exportgüter waren Uhren, Werkzeugmaschinen und Chemikalien, so der Kritiker. Während der Breschnew-Ära bezog die Schweiz Erdöl und Gas aus Russland - eine Abhängigkeit, die andauerte, bis Putin die Lieferungen im Sommer 2022 stoppte. Den hier gepflegten Umgang mit Quellen kann Klöckler nicht ganz verstehen: sowjetische Quellen wurden nur "stichprobenweise" hinzugezogen, lediglich ein Zeitzeuge wurde befragt. Zum Abschluss fragt sich Klöckler, ob dieser "bilaterale Pragmatismus" der Schweiz bis heute andauert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2023Ausgeprägter bilateraler Pragmatismus
Der Handel der Schweiz mit der Sowjetunion in der Ära Breschnew
Die Schweiz und ihre Neutralität stehen seit Monaten in der Diskussion, sei es wegen der Weigerung, angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine 96 ältere Leopard-Kampfpanzer an Deutschland zu veräußern, sei es wegen der nicht erteilten Zustimmung zur Abgabe von im Land hergestellter Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Doch geht es um die eigene Sicherheit wie etwa bei der Luftverteidigungsinitiative "European Sky Shield", dann erinnert das Verhalten der neutralen Eidgenossenschaft durchaus an "Trittbrettfahrerei". Da kann es sich schon lohnen, genauer auf die wirtschaftlichen Beziehungen der Confoederatio Helvetica zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Ära Breschnew zu schauen. Wahrte die Schweiz nach 1945 im Handel strikte Neutralität - etwa 1979 nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan? Welche Geschäfte in welchem Umfang machte die mehrheitlich antikommunistisch eingestellte Schweiz im Kalten Krieg mit dem roten Moskau?
Unmittelbar nach Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen vom März 1946, die vor dem Hintergrund alliierter Vorwürfe gegen die Eidgenossenschaft als "Kriegsgewinnler" zu sehen sind, versuchten schweizerische Unternehmen - wie bereits im Zarenreich - mit der als Siegerin aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Sowjetunion wieder ins Geschäft zu kommen. Dem stimmte der Bundesrat in Bern zu, sodass am 17. März 1948 ein Handelsvertrag, ein Abkommen über den Warenaustausch und eines über eine Handelsvertretung in der Schweiz geschlossen werden konnten. Das waren die vertraglichen Grundlagen der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen, wie man der von Christina Lohm am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich angefertigten Dissertation entnehmen kann. Zweifellos waren Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg bis mindestens in die 1970er-Jahre hinein deckungsgleich. Als exportstarker und rohstoffarmer Staat war sie überlebensnotwendig auf Freihandel ausgerichtet, im diametralen Gegensatz zur planwirtschaftlichen und vielfach korrupten, vor allem aber komplizierten, schwerfälligen und bürokratischen Sowjetunion. Hat sich das nicht gebissen?
Vielleicht sollte man zuerst einmal den Umfang des Handels der Schweiz mit der Sowjetunion einordnen. Er war nämlich vergleichsweise gering. In der Spitze lag die Sowjetunion in der schweizerischen Gesamteinfuhr zwischen zwei und drei Prozent, umgekehrt verharrte der Wert bei lediglich rund einem Prozent. Auch nach dem Einmarsch in Afghanistan vom Dezember 1979 wurde business as usual betrieben, das Interesse an einer Versorgung der Schweiz mit russischem Erdöl überwog politische Bedenken. Schweizerische Wirtschaftspolitik richtete sich damals "in der Realität nicht immer nach einem strikten Neutralitätskonzept", da im Untersuchungszeitraum der Wirtschaft die Initiative überlassen worden sei, und eben nicht der Politik.
Auffallend ist die Uhrenindustrie. Im Zarenreich waren Uhren das wichtigste Exportprodukt der Schweiz gewesen, in den 1960er-Jahren stieg die Sowjetunion nach der Eidgenossenschaft zum zweitgrößten Uhrenexporteur der Welt auf. Wenig verwunderlich, dass sich darunter auch Fälschungen mit sowjetischen Uhrwerken und der Bezeichnung "swiss made" verbargen. Ja, mit Patenten und Maschinen aus der Schweiz nahm es die Sowjetunion nicht immer ganz genau. Und wer hat wohl die Präzisionszeitmesser für die Olympischen Spiele 1980 in Moskau geliefert? Trotz westlichen Boykotts eben die Schweiz, die selbst 84 Sportlerinnen und Sportler zu den Spielen entsandte, wenngleich unter olympischer Fahne und nicht unter dem Schweizerkreuz startend.
Auch andere Bereiche der Schweizer Wirtschaft stachen damals hervor, besonders der Maschinenbau und die chemische Industrie. Hier waren die vier Basler Großunternehmen Ciba, Geigy, Sandoz und Hoffmann-La Roche engagiert. Oft lief dieser Handel über Kompensationsgeschäfte, etwa Herbizide gegen Kali. Der Schweizer Maschinenbau, der teilweise auf sowjetische Ausstände von vor 1941 verzichtete, lieferte Werkzeugmaschinen, womit die Schweiz 1982 zum zweitgrößten Exporteur in die Sowjetunion aufstieg. Zu nennen sind hier die Unternehmen Sulzer-Escher, Wyss und Brown Boveri. Diese Firmen waren schon im zaristischen Russland tätig gewesen, aber auch in der Zwischenkriegszeit, wodurch ihre Geschäftsbeziehungen nie ganz abgebrochen sind. Nach dem Zerfall der Sowjetunion zählten im Übrigen Schweizer Unternehmen zu den ersten Investoren in Russland.
Im Rahmen der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Ära Breschnew sticht freilich ganz besonders die Lieferung von Erdöl und Gas hervor, die dafür sorgte, dass die Sowjetunion zwischen 1976 und 1986 einen deutlichen Handelsertragsüberschuss ausweisen konnte. 80 Prozent ihrer Deviseneinnahmen erzielte sie in diesem Zeitabschnitt mit Energieträgern. Womit wir wieder in der Aktualität angekommen wären, nämlich der Abhängigkeit Westeuropas - und somit auch der Schweiz - vom russischen Gas, dessen Lieferung im Sommer 2022 von Präsident Putin jäh beendet wurde.
Im Untertitel des Buches heißt es schlicht "aus Schweizer Sicht" - und tatsächlich wurden sowjetische Quellen nur "stichprobenweise konsultiert". Mehr erstaunt freilich, dass die herangezogenen Quellen aus dem Berner Bundesarchiv mit Signaturen nach dem "Stand von 2004" zitiert werden. Ob das wissenschaftlich redlich ist, sei dahingestellt. Auch die Tatsache, dass lediglich ein einziger Zeitzeuge interviewt wurde, macht stutzig, zumal Oral History doch viel zur Klärung diverser Stimmungslagen während der - im Buch geschilderten - Verhandlungen mit der Sowjetunion hätte beitragen können. Durchgängig (und gänzlich unkritisch) wird zudem die Abkürzung "BRD" verwendet, bekanntlich ein Kampfbegriff des Kalten Krieges. In der westdeutschen Amtssprache tauchte diese Abkürzung seit den 1970er-Jahren nicht mehr auf. Wie dem auch sei - die Schweiz, der Handel und die Neutralität im 20. Jahrhundert, das sind weite und spannende Felder für die zeitgeschichtliche Forschung. Zu welchem abschließenden Ergebnis kommt Frau Lohm? Es habe ein "ausgeprägter bilateraler Pragmatismus" in den schweizerisch- sowjetischen Handelsbeziehungen im Kalten Krieg vorgeherrscht. Bis heute? JÜRGEN KLÖCKLER
Christina Lohm: Geschäfte mit Moskau. Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion 1964 -1982 aus Schweizer Perspektive.
Chronos Verlag, Zürich 2023. 420 S., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Handel der Schweiz mit der Sowjetunion in der Ära Breschnew
Die Schweiz und ihre Neutralität stehen seit Monaten in der Diskussion, sei es wegen der Weigerung, angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine 96 ältere Leopard-Kampfpanzer an Deutschland zu veräußern, sei es wegen der nicht erteilten Zustimmung zur Abgabe von im Land hergestellter Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard. Doch geht es um die eigene Sicherheit wie etwa bei der Luftverteidigungsinitiative "European Sky Shield", dann erinnert das Verhalten der neutralen Eidgenossenschaft durchaus an "Trittbrettfahrerei". Da kann es sich schon lohnen, genauer auf die wirtschaftlichen Beziehungen der Confoederatio Helvetica zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Ära Breschnew zu schauen. Wahrte die Schweiz nach 1945 im Handel strikte Neutralität - etwa 1979 nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan? Welche Geschäfte in welchem Umfang machte die mehrheitlich antikommunistisch eingestellte Schweiz im Kalten Krieg mit dem roten Moskau?
Unmittelbar nach Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen vom März 1946, die vor dem Hintergrund alliierter Vorwürfe gegen die Eidgenossenschaft als "Kriegsgewinnler" zu sehen sind, versuchten schweizerische Unternehmen - wie bereits im Zarenreich - mit der als Siegerin aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Sowjetunion wieder ins Geschäft zu kommen. Dem stimmte der Bundesrat in Bern zu, sodass am 17. März 1948 ein Handelsvertrag, ein Abkommen über den Warenaustausch und eines über eine Handelsvertretung in der Schweiz geschlossen werden konnten. Das waren die vertraglichen Grundlagen der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen, wie man der von Christina Lohm am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich angefertigten Dissertation entnehmen kann. Zweifellos waren Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg bis mindestens in die 1970er-Jahre hinein deckungsgleich. Als exportstarker und rohstoffarmer Staat war sie überlebensnotwendig auf Freihandel ausgerichtet, im diametralen Gegensatz zur planwirtschaftlichen und vielfach korrupten, vor allem aber komplizierten, schwerfälligen und bürokratischen Sowjetunion. Hat sich das nicht gebissen?
Vielleicht sollte man zuerst einmal den Umfang des Handels der Schweiz mit der Sowjetunion einordnen. Er war nämlich vergleichsweise gering. In der Spitze lag die Sowjetunion in der schweizerischen Gesamteinfuhr zwischen zwei und drei Prozent, umgekehrt verharrte der Wert bei lediglich rund einem Prozent. Auch nach dem Einmarsch in Afghanistan vom Dezember 1979 wurde business as usual betrieben, das Interesse an einer Versorgung der Schweiz mit russischem Erdöl überwog politische Bedenken. Schweizerische Wirtschaftspolitik richtete sich damals "in der Realität nicht immer nach einem strikten Neutralitätskonzept", da im Untersuchungszeitraum der Wirtschaft die Initiative überlassen worden sei, und eben nicht der Politik.
Auffallend ist die Uhrenindustrie. Im Zarenreich waren Uhren das wichtigste Exportprodukt der Schweiz gewesen, in den 1960er-Jahren stieg die Sowjetunion nach der Eidgenossenschaft zum zweitgrößten Uhrenexporteur der Welt auf. Wenig verwunderlich, dass sich darunter auch Fälschungen mit sowjetischen Uhrwerken und der Bezeichnung "swiss made" verbargen. Ja, mit Patenten und Maschinen aus der Schweiz nahm es die Sowjetunion nicht immer ganz genau. Und wer hat wohl die Präzisionszeitmesser für die Olympischen Spiele 1980 in Moskau geliefert? Trotz westlichen Boykotts eben die Schweiz, die selbst 84 Sportlerinnen und Sportler zu den Spielen entsandte, wenngleich unter olympischer Fahne und nicht unter dem Schweizerkreuz startend.
Auch andere Bereiche der Schweizer Wirtschaft stachen damals hervor, besonders der Maschinenbau und die chemische Industrie. Hier waren die vier Basler Großunternehmen Ciba, Geigy, Sandoz und Hoffmann-La Roche engagiert. Oft lief dieser Handel über Kompensationsgeschäfte, etwa Herbizide gegen Kali. Der Schweizer Maschinenbau, der teilweise auf sowjetische Ausstände von vor 1941 verzichtete, lieferte Werkzeugmaschinen, womit die Schweiz 1982 zum zweitgrößten Exporteur in die Sowjetunion aufstieg. Zu nennen sind hier die Unternehmen Sulzer-Escher, Wyss und Brown Boveri. Diese Firmen waren schon im zaristischen Russland tätig gewesen, aber auch in der Zwischenkriegszeit, wodurch ihre Geschäftsbeziehungen nie ganz abgebrochen sind. Nach dem Zerfall der Sowjetunion zählten im Übrigen Schweizer Unternehmen zu den ersten Investoren in Russland.
Im Rahmen der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Ära Breschnew sticht freilich ganz besonders die Lieferung von Erdöl und Gas hervor, die dafür sorgte, dass die Sowjetunion zwischen 1976 und 1986 einen deutlichen Handelsertragsüberschuss ausweisen konnte. 80 Prozent ihrer Deviseneinnahmen erzielte sie in diesem Zeitabschnitt mit Energieträgern. Womit wir wieder in der Aktualität angekommen wären, nämlich der Abhängigkeit Westeuropas - und somit auch der Schweiz - vom russischen Gas, dessen Lieferung im Sommer 2022 von Präsident Putin jäh beendet wurde.
Im Untertitel des Buches heißt es schlicht "aus Schweizer Sicht" - und tatsächlich wurden sowjetische Quellen nur "stichprobenweise konsultiert". Mehr erstaunt freilich, dass die herangezogenen Quellen aus dem Berner Bundesarchiv mit Signaturen nach dem "Stand von 2004" zitiert werden. Ob das wissenschaftlich redlich ist, sei dahingestellt. Auch die Tatsache, dass lediglich ein einziger Zeitzeuge interviewt wurde, macht stutzig, zumal Oral History doch viel zur Klärung diverser Stimmungslagen während der - im Buch geschilderten - Verhandlungen mit der Sowjetunion hätte beitragen können. Durchgängig (und gänzlich unkritisch) wird zudem die Abkürzung "BRD" verwendet, bekanntlich ein Kampfbegriff des Kalten Krieges. In der westdeutschen Amtssprache tauchte diese Abkürzung seit den 1970er-Jahren nicht mehr auf. Wie dem auch sei - die Schweiz, der Handel und die Neutralität im 20. Jahrhundert, das sind weite und spannende Felder für die zeitgeschichtliche Forschung. Zu welchem abschließenden Ergebnis kommt Frau Lohm? Es habe ein "ausgeprägter bilateraler Pragmatismus" in den schweizerisch- sowjetischen Handelsbeziehungen im Kalten Krieg vorgeherrscht. Bis heute? JÜRGEN KLÖCKLER
Christina Lohm: Geschäfte mit Moskau. Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion 1964 -1982 aus Schweizer Perspektive.
Chronos Verlag, Zürich 2023. 420 S., 58,- Euro.
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