1940 geriet Leutnant Fernand Braudel in deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünf Jahre lang, zuerst in Mainz, dann in einem Lager bei Lübeck, wartete der Historiker auf die Befreiung - und füllte gleich-zeitig hunderte Notizhefte. So entstand sein berühmtes Buch "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.", das die Geschichtsschreibung revolutionierte. Aber Braudel hielt auch Vorträge im Rahmen der "Lageruniversitäten". Zufällig wurde ein Teil dieser Manuskripte kürzlich wiedergefunden, aus denen Braudel noch vor Kriegsende ein Einführungsbuch in die Geschichtswissenschaft zusammenstellen wollte. In diesen Texte wird zum ersten Mal sichtbar, wie sich der Historiker die Geschichte als Wissenschaft und Handwerk vorstellte, wie sich aktuelle "Zeitgeschichte" und die "Geschichte der langen Dauer" zueinander verhalten. Diese Vorträge dienten ihm in den Kriegswirren und in trostloser Gefangenschaft als "Schlüssel zur Welt".
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Den Menschen im Zentrum sieht Kim Priemel in Fernand Braudels Versuch der Grundlegung einer neuen Geschichtswissenschaft. Braudels erstmals auf Deutsch erscheinendes in "sorgsamer" Übertragung vorliegendes und mit hilfreichem Nachwort und Anmerkungen versehenes Buch lässt Priemel staunen: über die unverbissene Verve und Farbigkeit der Diktion, wie über das revolutionäre Programm zu einer mit der konventionellen Historiografie brechenden, empirisch und interdisziplinär arbeitenden Geschichtsschreibung. Dass ihre Grenzen nicht immer klar zu erkennen sind, nimmt Priemel als genuinen Ausweis ihres utopischen Charakters.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Rückblick auf die Ankündigung einer neuen Historiographie: Fernand Braudels Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft über Geschichte als Schlüssel zur Welt
Es ist eine bemerkenswerte Parallelität: hier Marc Bloch, der in der Résistance gegen die deutschen Besatzer noch Zeit und gedankliche Ruhe findet, seine berühmte Apologie der Geschichtswissenschaft abzufassen, ehe er 1944 von der Gestapo ermordet wird; dort Fernand Braudel, der als französischer Offizier die Kriegsgefangenschaft erst in Mainz, dann in Lübeck nutzt, um sein historisches Erkenntnisinteresse zu formulieren. Zwei Schlüsselgestalten der europäischen Geschichtswissenschaft, der eine an der Seite Lucien Febvres Begründer der gefeierten "Annales", der andere sein Nachfolger.
Doch während Blochs Apologie, die beinahe jedem theoretischen und methodischen turn der letzten Jahrzehnte bereits einen Gedanken voraus war, längst zum Kanon der historischen Ausbildung zählt, sind Braudels Reflexionen über sein Fach fast unbeachtet geblieben. Vielleicht auch, weil sie anders als bei Blochs schmalerem Werk im Schatten gewaltiger Massive stehen: der Sozialgeschichte des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts und der Geschichte des Mittelmeers und der mediterranen Welt in der Epoche Philipps II.
Nun liegt erstmals eine deutsche Fassung von Braudels "Geschichte als Schlüssel zur Welt" vor, von Peter Schöttler - der bereits die Neuübersetzung der "Apologie" ediert hat - sorgsam übersetzt, mit einem hilfreichen Nachwort und zahlreichen Anmerkungen versehen sowie um ein Erinnerungsstück Braudels zu den Anfängen der "Annales" ergänzt. Es ist das Timing, das diese Überlegungen so spannend macht, denn Braudel bringt, während er in der "Lageruniversität" seinen Mithäftlingen seine Geschichtsauffassung erläutert, zugleich die monumentale Mittelmeer-Geschichte zu Papier. Wir sehen also dem Historiker beim Verfertigen seiner Programmatik zu.
Und was für ein Programm Braudel da entwirft: Eine neue, revolutionäre, ja, eine "imperialistische" Geschichtswissenschaft malt er aus, die mit den Gewohnheiten und Bequemlichkeiten der traditionellen Geschichtsschreibung bricht, das empirische Terrain besetzt und sich die Methoden der Nachbardisziplinen aneignet. Der Historiker soll zugleich Soziologe, Ökonom, Geograph sein. Das Ancien Régime, das Braudel zu überwinden trachtet, sind Politik- und Ereignisgeschichte mit ihren großen Männern, die das Schicksal ganzer Völker lenken. Die Fokussierung auf Ereignisse und Individuen vergleicht Braudel mit Glühwürmchen: "Sie leuchten überall, ununterbrochen, mehr oder weniger hoch, aber sie leuchten viel zu kurz, um klar und deutlich die Landschaft zu erhellen."
Der Glühwürmchengeschichte stellt Braudel sein eigenes Konzept entgegen, das zumindest in Teilen auch das der "Annales" ist: eine tiefschürfende Geschichtswissenschaft, die mit der Grubenleuchte in die vielen Schichten der Interaktion von Mensch und Welt vordringt und dabei die empirische Landschaft großzügig in Raum und Zeit vermisst. Die Welt ist hier vor allem Raum, weil jene Kapitel, in denen Braudel die übrigen Schichten - Kultur und Rasse, Sozialstruktur, Wirtschaft und Politik - beschreiben wollte, unausgearbeitet blieben oder verlorengingen. Allzu misslich ist dies indes nicht - auch wenn man gern gelesen hätte, was Braudel zu den Versuchen seiner deutschen Kollegen zu sagen hatte, eine "Geschichte des Blutes" zu schreiben -, sollten doch Raum und Umwelt zu einer beherrschenden Größe in seinem Werk werden.
Ungeachtet seiner fast schwärmerischen Ausführungen über das Potential einer "Geohistorie" aber hat Braudel mehr im Sinn, wenn er von Sozialgeschichte spricht, nämlich eine "Histoire totale", die alles menschliche Verhalten mitsamt seinen (im Wortsinne) natürlichen Bedingungen zum Thema hat, die den Fürsten nicht länger gegenüber dem Händler und dem Handwerker privilegiert, die dezidiert "Gruppengeschichte" und nicht Heldenmythos sein will, die nach Strukturen und Gesetzen sucht. Zugleich will Braudels Art zu sehen und zu schreiben sensibel sein für die widersprüchlichen Tempowechsel der Zeit: für die Beschleunigungseffekte technologischer Innovation wie für die Beharrungskräfte von Traditionen, für die Entschleunigung im frühneuzeitlichen Winter wie für das langsame, doch beständige Auseinanderdriften der Kontinentalplatten. Ob und wie all das für den Historiker nicht nur mach-, sondern auch denkbar ist, wo also die Erkenntnisgrenzen verlaufen, bleibt indes unklar - ein revolutionäres, utopisches Programm eben.
So einschüchternd die Dimensionen der Braudelschen Visionen, so bemerkenswert die Diktion, in denen er sie vorträgt. Bestimmt, doch stets höflich geht er mit der Ereignisgeschichte ins Gericht und findet freundliche Worte selbst für jene Werke, die er durch die neue Geschichte überholt sieht. Mit Verve legt Braudel seine Kritik dar, farbig und mitreißend entwirft er sein Gegenbild und kommt doch ohne jene Verbissenheit aus, welche die deutsche Sozialgeschichte späterer Jahre auszeichnen wird. Dies hat viel mit dem Ethos des Historikers zu tun, das Braudel - ganz wie Bloch zur selben Zeit - als inneren Antrieb zu erkennen gibt. Denn der Historiker arbeitet nicht wie der von Nietzsche karikierte Antiquar der zu Quellen geronnenen Vergangenheit zuliebe. Vielmehr dient den Annalisten die Vergangenheit als Mittel zum Zweck, als Schlüssel zur Welt der Gegenwart.
Auf diese Weise formuliert Braudel inmitten des Infernos seinen Glauben an die Einheit der Welt: sachlich mit Blick auf jene Entwicklung, die wir heute als Globalisierung erforschen, ethisch als moralischer Maßstab, an dem historisches Handeln zu messen ist, politisch als Appell, weil man "die Welt noch weiter eindeichen und nötigen kann". Dass Braudel und Bloch aus der Gegenwart der Zeitgeschichte, zu der sie beide kaum arbeiteten, ihre Impulse erhielten, mag für jene altmodisch anmutende Formel von der Einheit der Geschichte sprechen. Doch mehr noch drücken sich darin die biographischen Erfahrungen beider Autoren aus - und ein Humanismus, der bei aller Neigung zum Kollektiv und zur "longue durée" den Menschen ins Zentrum der sozialhistorischen Perspektive stellt.
KIM PRIEMEL.
Fernand Braudel: "Geschichte als Schlüssel zur Welt". Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft.
Aus dem Französischen von Peter Schöttler und Jochen Grube. Hrsg. v. Peter Schöttler. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 232 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main