Jeder, der bei den Hochkulturen Vorderasiens nur an Mesopotamien denkt, wird durch Hans J. Nissen eines Besseren belehrt: Er konzentriert seinen Blick nicht starr auf Mesopotamien. Die gesamte Region wird als dynamisches Gebilde, dessen Einzelteile in intensiver Abhängigkeit zueinander stehen, erfasst. Innerhalb eines Zeitraums von 8000 Jahren - von ihren Anfängen bis zum Ende durch die Kriegszüge Alexanders des Großen - zeichnet er die Entwicklung dieses Großraumes nach, dessen Außengrenzen und Machtschwerpunkte sich ständig verschieben. Der offene Blick auf den gesamten vorderasiatischen Raum wirkt dem traditionellen Bild einer mesopotamischen Hochkultur entgegen. Es wird deutlich, dass erst durch die Wechselbeziehung zwischen den Kleinregionen eine der ältesten Hochkulturen der Welt entstehen konnte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2000Mesopotamisches Myrrhenmus, assyrisches Artischockenöl
Was zu Staub zerfiel, holt die Wissenschaft zurück: Hans-Jörg Nissen erklärt die Rezepturen der Altorientalistik
Der Vordere Orient gilt als die Wiege der heutigen Zivilisation und Kultur. Ackerbau und Viehzucht und die damit verbundenen Umstellungen in der Lebensweise und Ernährung, später die Erfindung der Schrift und dann - etwa zur gleichen Zeit wie in Ägypten - die Erprobung städtischen und staatlichen Zusammenlebens sind hier früher als irgendwo anders in der Welt vorhanden. Auch die im Grunde rapide erfolgende Ausbildung despotischer Machtkonglomerate prägte sich hier und in Ägypten erstmals markant aus.
Erst in diesem Jahrhundert wurde mit einer systematischen Erforschung des Alten Orients begonnen. Dies ist eine internationale Angelegenheit, und deutschsprachige Forscher haben großen Anteil daran. Die historisch interpretierende Literatur stammt allerdings eher aus dem englisch-amerikanischen Bereich, aus Russland oder Frankreich. Vor allem ist sie hauptsächlich von Philologen verfasst. So ist das Buch von Hans-Jörg Nissen, einem Archäologen mit großem Interesse an der Philologie, insbesondere der frühen Schriftentwicklung, sehr zu begrüßen. Dies auch im Hinblick darauf, dass die meisten deutschen Forscher der Nachkriegsgeneration sich eher mit der - auch nötigen - Sammlung von Fakten befasst haben. Geschichtsdarstellungen bergen die Gefahr der Einseitigkeit, bieten aber auch die Möglichkeit, dass ein Autor seine Vorstellung vom roten Faden in der Geschichte darstellen kann.
Nissen verfolgt so einen roten Faden in der Altorientalischen Geschichte: Er überträgt eine stark an der Technikentwicklung orientierte funktionalistische Weltdeutung auf die Gesellschaftsordnung. Nach einer Vorbemerkung zur Geografie und zu ökologischen Bedingungen, in der er auf wichtige Faktoren wie zum Beispiel die Notwendigkeit der Bewässerungswirtschaft in der Region des Euphrat und Tigris hinweist, lässt er seine Darstellung im keramischen Neolithikum beginnen - obwohl schriftliche Quellen erst rund sechseinhalbtausend Jahre später auftauchen. Die Berechtigung dafür liegt in der Tatsache, dass in diesem Fall die Entwicklungen, die zur Erfindung der ersten Schrift geführt haben, ebenso viel Hinweise auf die damalige Gesellschaft geben wie die Einführung der Schrift selbst.
Aus der heutigen Sicht erscheint die Neolithisierung, der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht oder - wenn man so will - die Vertreibung aus dem Paradies, als ein Ereignis, das eine Kette von Aktivitäten in Gang gesetzt hat, die dazu führten, dass der Mensch wesentliche, noch heute einschneidende Naturphänomene beherrschen lernte. Nissen erblickt in diesen Aktivitäten die Basis für die gesellschaftliche Ordnung und Beherrschung der Welt. So erläutert er, dass zum Beispiel in Basta, einer neolithischen Siedlung in Jordanien, an deren archäologischer Erforschung er selbst beteiligt war, trotz Ackerbau und Viehzucht der Mensch noch erheblich von der Jagd und dem Sammeln gelebt habe. Den Grund dafür sieht Nissen darin, dass die Menschen damals möglicherweise Mangelernährung hätten verhindern wollen. Anzeichen dafür sind in menschlichen Skelettresten nachweisbar.
Die Zeit der frühen Städtebildung, die man - nach dem antiken Namen einer von deutschen Archäologen im Süd-Irak über Jahrzehnte erforschten Siedlung - die Späte Uruk-Zeit nennt, ist Nissens Spezialgebiet. In dieselbe Zeit fällt auch die erste Schrift. Nissen befasst sich unter anderem mit der Veröffentlichung der frühen Texte aus Uruk. In diesem Zusammenhang führt er neue Erkenntnisse der Forschung vor, die auch für unser westliches Weltbild wesentlich sind und von denen man hofft, dass sie bald in die Schulbücher Eingang finden mögen.
Da ist zunächst die Tatsache, dass die Sumerer nur eines der Völker waren, die im Zweistromland gelebt haben; gleichzeitig gab es große semitischsprachige Gruppen und weitere sprachlich nicht genau zuzuordnende Bevölkerungselemente, von deren Existenz viele Ortsnamen künden. Zweitens sind die frühen Schriftzeichen den international verständlichen Flaggenzeichen auf Schiffen zu vergleichen. Es ist möglich, dass es die Sumerer waren, die die Schrift erfunden haben, da sie später ihre eigene Sprache mit der Schrift darstellten. Zunächst war die Schrift aber nur ein Zeichensystem, das vor allem vorratswirtschaftliche Vorgänge, Alimentierungen und ähnliches festhielt.
Nissen lässt keinen Zweifel daran, dass es von der Uruk-Zeit an eine "durchsetzungsfähige politische Leitung" gegeben habe, die sogar Zwangsmaßnahmen verhängte, um die großen Bauten oder die Stadtmauern zu errichten: "Sicher", schließt er, "war der politische Apparat so effektiv organisiert wie der wirtschaftliche."
In seiner umfassenden Darstellung der Grundprobleme und Tendenzen der Forschung stellt Nissen - für Laien nicht immer deutlich - dar, dass die für das Verständnis der frühen Städtebildung in Vorderasien so wichtige Tiefgrabung in Uruk aufgrund fehlerhafter Ausführung durch deutsche Archäologen jahrzehntelang unsinnige Forschungen hervorgebracht hat.
Zur Bekräftigung der These, dass die Schrift viele Väter habe, weist Nissen darauf hin, dass möglicherweise in Ebla, einem kürzlich von italienischen Archäologen in Syrien ausgegrabenen Ort, die phonetische Verwendung der ursprünglichen Wortzeichen - und damit eine erhebliche Verringerung der Zeichen - nicht, wie lange angenommen, von den Sumerern entwickelt worden ist, sondern von eindeutig eine semitische Sprache sprechenden Leuten.
Die altorientalische Ideenwelt kommt in Nissens Arbeit etwas zu kurz, sie trug schließlich auch zur Organisation des Zusammenlebens bei. Sehr wichtig ist die Frage, wie die Macht legitimiert wurde. Binford, einer der großen amerikanischen Archäologen der Nachkriegszeit, hat gezeigt, dass Machtanhäufung bei einer Person als großes Vergehen angesehen wurde. Niemand war sich dieser Tatsache mehr bewusst als die altorientalischen Könige, und am deutlichsten wird dies bei den Assyrern, die ein ausgeklügeltes System der Rechtfertigung ihrer Macht vor Gott und der Welt entworfen haben. Mit der hervorragenden und gut geordneten Literaturliste kann man als interessierter Leser aber schnell Einblick in diese weiteren Aspekte des Faches bekommen.
SUSANNE KOLBUS
Hans-Jörg Nissen: "Geschichte Alt-Vorderasiens". Oldenbourg, Grundriss der Geschichte, Band 25. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. 276 S., Chronologietabelle, 4 Karten, geb., 68,- DM, br., 38,- DM.
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Was zu Staub zerfiel, holt die Wissenschaft zurück: Hans-Jörg Nissen erklärt die Rezepturen der Altorientalistik
Der Vordere Orient gilt als die Wiege der heutigen Zivilisation und Kultur. Ackerbau und Viehzucht und die damit verbundenen Umstellungen in der Lebensweise und Ernährung, später die Erfindung der Schrift und dann - etwa zur gleichen Zeit wie in Ägypten - die Erprobung städtischen und staatlichen Zusammenlebens sind hier früher als irgendwo anders in der Welt vorhanden. Auch die im Grunde rapide erfolgende Ausbildung despotischer Machtkonglomerate prägte sich hier und in Ägypten erstmals markant aus.
Erst in diesem Jahrhundert wurde mit einer systematischen Erforschung des Alten Orients begonnen. Dies ist eine internationale Angelegenheit, und deutschsprachige Forscher haben großen Anteil daran. Die historisch interpretierende Literatur stammt allerdings eher aus dem englisch-amerikanischen Bereich, aus Russland oder Frankreich. Vor allem ist sie hauptsächlich von Philologen verfasst. So ist das Buch von Hans-Jörg Nissen, einem Archäologen mit großem Interesse an der Philologie, insbesondere der frühen Schriftentwicklung, sehr zu begrüßen. Dies auch im Hinblick darauf, dass die meisten deutschen Forscher der Nachkriegsgeneration sich eher mit der - auch nötigen - Sammlung von Fakten befasst haben. Geschichtsdarstellungen bergen die Gefahr der Einseitigkeit, bieten aber auch die Möglichkeit, dass ein Autor seine Vorstellung vom roten Faden in der Geschichte darstellen kann.
Nissen verfolgt so einen roten Faden in der Altorientalischen Geschichte: Er überträgt eine stark an der Technikentwicklung orientierte funktionalistische Weltdeutung auf die Gesellschaftsordnung. Nach einer Vorbemerkung zur Geografie und zu ökologischen Bedingungen, in der er auf wichtige Faktoren wie zum Beispiel die Notwendigkeit der Bewässerungswirtschaft in der Region des Euphrat und Tigris hinweist, lässt er seine Darstellung im keramischen Neolithikum beginnen - obwohl schriftliche Quellen erst rund sechseinhalbtausend Jahre später auftauchen. Die Berechtigung dafür liegt in der Tatsache, dass in diesem Fall die Entwicklungen, die zur Erfindung der ersten Schrift geführt haben, ebenso viel Hinweise auf die damalige Gesellschaft geben wie die Einführung der Schrift selbst.
Aus der heutigen Sicht erscheint die Neolithisierung, der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht oder - wenn man so will - die Vertreibung aus dem Paradies, als ein Ereignis, das eine Kette von Aktivitäten in Gang gesetzt hat, die dazu führten, dass der Mensch wesentliche, noch heute einschneidende Naturphänomene beherrschen lernte. Nissen erblickt in diesen Aktivitäten die Basis für die gesellschaftliche Ordnung und Beherrschung der Welt. So erläutert er, dass zum Beispiel in Basta, einer neolithischen Siedlung in Jordanien, an deren archäologischer Erforschung er selbst beteiligt war, trotz Ackerbau und Viehzucht der Mensch noch erheblich von der Jagd und dem Sammeln gelebt habe. Den Grund dafür sieht Nissen darin, dass die Menschen damals möglicherweise Mangelernährung hätten verhindern wollen. Anzeichen dafür sind in menschlichen Skelettresten nachweisbar.
Die Zeit der frühen Städtebildung, die man - nach dem antiken Namen einer von deutschen Archäologen im Süd-Irak über Jahrzehnte erforschten Siedlung - die Späte Uruk-Zeit nennt, ist Nissens Spezialgebiet. In dieselbe Zeit fällt auch die erste Schrift. Nissen befasst sich unter anderem mit der Veröffentlichung der frühen Texte aus Uruk. In diesem Zusammenhang führt er neue Erkenntnisse der Forschung vor, die auch für unser westliches Weltbild wesentlich sind und von denen man hofft, dass sie bald in die Schulbücher Eingang finden mögen.
Da ist zunächst die Tatsache, dass die Sumerer nur eines der Völker waren, die im Zweistromland gelebt haben; gleichzeitig gab es große semitischsprachige Gruppen und weitere sprachlich nicht genau zuzuordnende Bevölkerungselemente, von deren Existenz viele Ortsnamen künden. Zweitens sind die frühen Schriftzeichen den international verständlichen Flaggenzeichen auf Schiffen zu vergleichen. Es ist möglich, dass es die Sumerer waren, die die Schrift erfunden haben, da sie später ihre eigene Sprache mit der Schrift darstellten. Zunächst war die Schrift aber nur ein Zeichensystem, das vor allem vorratswirtschaftliche Vorgänge, Alimentierungen und ähnliches festhielt.
Nissen lässt keinen Zweifel daran, dass es von der Uruk-Zeit an eine "durchsetzungsfähige politische Leitung" gegeben habe, die sogar Zwangsmaßnahmen verhängte, um die großen Bauten oder die Stadtmauern zu errichten: "Sicher", schließt er, "war der politische Apparat so effektiv organisiert wie der wirtschaftliche."
In seiner umfassenden Darstellung der Grundprobleme und Tendenzen der Forschung stellt Nissen - für Laien nicht immer deutlich - dar, dass die für das Verständnis der frühen Städtebildung in Vorderasien so wichtige Tiefgrabung in Uruk aufgrund fehlerhafter Ausführung durch deutsche Archäologen jahrzehntelang unsinnige Forschungen hervorgebracht hat.
Zur Bekräftigung der These, dass die Schrift viele Väter habe, weist Nissen darauf hin, dass möglicherweise in Ebla, einem kürzlich von italienischen Archäologen in Syrien ausgegrabenen Ort, die phonetische Verwendung der ursprünglichen Wortzeichen - und damit eine erhebliche Verringerung der Zeichen - nicht, wie lange angenommen, von den Sumerern entwickelt worden ist, sondern von eindeutig eine semitische Sprache sprechenden Leuten.
Die altorientalische Ideenwelt kommt in Nissens Arbeit etwas zu kurz, sie trug schließlich auch zur Organisation des Zusammenlebens bei. Sehr wichtig ist die Frage, wie die Macht legitimiert wurde. Binford, einer der großen amerikanischen Archäologen der Nachkriegszeit, hat gezeigt, dass Machtanhäufung bei einer Person als großes Vergehen angesehen wurde. Niemand war sich dieser Tatsache mehr bewusst als die altorientalischen Könige, und am deutlichsten wird dies bei den Assyrern, die ein ausgeklügeltes System der Rechtfertigung ihrer Macht vor Gott und der Welt entworfen haben. Mit der hervorragenden und gut geordneten Literaturliste kann man als interessierter Leser aber schnell Einblick in diese weiteren Aspekte des Faches bekommen.
SUSANNE KOLBUS
Hans-Jörg Nissen: "Geschichte Alt-Vorderasiens". Oldenbourg, Grundriss der Geschichte, Band 25. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. 276 S., Chronologietabelle, 4 Karten, geb., 68,- DM, br., 38,- DM.
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"vorzügliches Einführungs- und Arbeitsinstrument" Peter Siewert, Tyche 21 (2006)
''Die zweite Auflage der Geschichte Alt-Vorderasiens profitiert von den zahlreichen und wichtigen inhaltlichen Erweiterungen und stellt gerade auch mit den Erläuterungen zur Beschaffung von Primärdaten, der Erarbeitung wissenschaftlicher Hilfsmittel sowie der Interpretation ein verlässliches Einführungswerk dar, das ergänzend zu den textbasierten historischen Einführungen seinen festen Platz im studentischen Curriculum erhalten sollte. Damit erfüllt die Geschichtsdarstellung Nissens vollumfänglich die Zielsetzung der Reihe "Oldenbourg Grundriss der Geschichte".'' Göttinger Forum für Altertumswissenschaft, Nr. 15/2012