Produktdetails
- Verlag: Böhlau Wien
- ISBN-13: 9783205989288
- Artikelnr.: 29721730
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2015Wenn Ötzi eine Symbolfigur ist, was ist dann Tell?
Mehr als achtzig Viertausender lächeln uns an: Jon Mathieu kennt die Gipfel der Alpen, in den Tälern hat er Nachholbedarf.
Der französische Historiker Fernand Braudel schrieb in seinem berühmten Buch über das Mittelmeer, die Alpen seien "ganz außergewöhnliche Berge - außergewöhnlich wegen ihrer Ressourcen, der kollektiv bewältigten Aufgaben, der Leistungsfähigkeit der menschlichen Bevölkerung und der zahlreichen großen Straßen". Jon Mathieu, ebenfalls Historiker, erzählt in seinem Alpenbuch davon, dass Braudel auf diesen Gedanken in deutscher Kriegsgefangenschaft beim Betrachten eines Buches über Plastik des Barocks gekommen sei. In ihm meinte er viele Belege für das Exzeptionelle des Alpenraumes zu finden.
Mathieus Buch besteht aus zahlreichen kurzen Kapiteln, die mehr oder weniger fest miteinander verknüpft sind. Einige von ihnen sind sehr eindrucksvoll, etwa jene, in denen der an der Universität Luzern lehrende Wissenschaftler erklärt, wie sich die Alpen in der Wahrnehmung der Menschen von einer Mauer zu einem Durchgangsraum wandelten. Viele Grenzen zwischen den Hochgebirgsstaaten wurden in den letzten Jahrhunderten verlagert, und zwar von den Tälern auf hohe Gebirgskämme. Nur die Schweiz behielt ihre alten Grenzen.
Mathieu entwickelt eindrucksvolle Miniaturen, etwa zur Geschichte des Tunnelbaus. In keinem Gebiet der Welt gibt es so viele Tunnel wie in den Alpen. Ein Kapitel ist den Unterschieden der Bauernhäuser im Westen und im Osten der Alpen gewidmet. Ein anderes behandelt den Import von Hotels in neogotischem Stil, dem ein Export des Chalet Suisse, des Schweizer Hauses, in zahlreiche europäische Länder und sogar darüber hinaus gegenüberstand. Das war zur selben Zeit, in der die frühen, vor allem englischen Touristen beschlossen, nicht nur ans Mittelmeer, sondern auch in die Schweizer Berge zu fahren oder sie sogar zu ihrem einzigen Reiseziel zu machen.
Faszinierend ist die Darstellung des Übergangs von der Schafhaltung zur Rinderhaltung, die vor allem als Charakteristikum für den Nordwesten des Alpenraums herausgestellt wird. Das Bild der Schweiz und des Allgäus wurde davon nachhaltig geprägt. Vieles ist tatsächlich ungewöhnlich in den Alpen. Mathieu bestätigt dies auch mit seiner Darstellung der Sprachen oder mit dem besonderen Verhältnis der "Wildnis" in den Bergen zur "Zähme" in den Tälern.
Andere Kapitel glänzen weniger. Über die frühe Geschichte des Alpenraums, etwa über das hohe Alter der Almwirtschaft oder den vorgeschichtlichen Erzbergbau, liest man fast nichts. Dafür setzt sich Mathieu ausführlich mit Hannibal und Ötzi auseinander, die er für Symbolfiguren des Alpenraumes hält. Das mag sein, aber sind Wilhelm Tell und Andreas Hofer nicht ähnlich wichtig gewesen? Sie werden zwar erwähnt, aber nur am Rande. Es leuchtet auch nicht ein, warum "aus pragmatischen Gründen" nur eine Siedlung mit mehr als fünftausend Einwohnern eine Stadt sein kann. Dies trifft gerade auf den Alpenraum nicht zu, wo es viele Städte gibt, die sehr viel kleiner sind. Glurns im Vinschgau zum Beispiel erhielt schon im frühen vierzehnten Jahrhundert Stadtrechte und wurde von einer beeindruckenden Stadtmauer umzogen; dennoch hat der Ort nicht einmal tausend Einwohner.
Jon Mathieu gelingt es zweifelsohne, die These Braudels von der Besonderheit der Alpen zu untermauern. Es wäre ihm das aber noch besser gelungen, wenn er die Kapitel seines Buchs besser miteinander verknüpft hätte. Es führen durchaus Traditionslinien von Johann Jakob Scheuchzer zu Albrecht von Haller, dessen berühmtes Gedicht "Die Alpen" Wissenschaftler und Dichter der nachfolgenden Jahrzehnte inspirierte. Zu ihnen gehörten Alexander von Humboldt, Goethe und Schiller. Sie alle werden erwähnt, aber nicht zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei hatte Haller als einer der ersten Wissenschaftler die Höhenstufen der Alpen beschrieben, und Alexander von Humboldt verglich daraufhin die Höhenstufen zahlreicher Hochgebirge der Erde miteinander. Gerade die für die Geistes- und Naturgeschichte so wichtigen Ideen über die Schweiz, die im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert entwickelt wurden, finden in Mathieus Buch wenig Beachtung.
Das Buch, das oft eher den Eindruck einer Materialsammlung als einer Überblicksdarstellung erweckt, ist mit beeindruckenden Fotos und instruktiven Karten und auch mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis versehen. Der Autor lässt es mit einem schönen Satz enden: "Trotz aller historischen Narben stehen da weiterhin mehr als achtzig Viertausender, die uns von ferne zulächeln." Ja, aber man müsste ihnen doch noch näher kommen, dazu den Tälern, den Menschen, den zahlreichen kulturellen Traditionen, die sich von Talschaft zu Talschaft unterscheiden. Aber auch den Vorstellungen und Ideen, die mit der Freiheit der Berge, ihrer Vielfalt, ihrer Natur verknüpft wurden.
HANSJÖRG KÜSTER
Jon Mathieu: "Die Alpen". Raum - Kultur - Geschichte.
Reclam Verlag, Ditzingen 2015. 254 S., Abb., geb., 38,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr als achtzig Viertausender lächeln uns an: Jon Mathieu kennt die Gipfel der Alpen, in den Tälern hat er Nachholbedarf.
Der französische Historiker Fernand Braudel schrieb in seinem berühmten Buch über das Mittelmeer, die Alpen seien "ganz außergewöhnliche Berge - außergewöhnlich wegen ihrer Ressourcen, der kollektiv bewältigten Aufgaben, der Leistungsfähigkeit der menschlichen Bevölkerung und der zahlreichen großen Straßen". Jon Mathieu, ebenfalls Historiker, erzählt in seinem Alpenbuch davon, dass Braudel auf diesen Gedanken in deutscher Kriegsgefangenschaft beim Betrachten eines Buches über Plastik des Barocks gekommen sei. In ihm meinte er viele Belege für das Exzeptionelle des Alpenraumes zu finden.
Mathieus Buch besteht aus zahlreichen kurzen Kapiteln, die mehr oder weniger fest miteinander verknüpft sind. Einige von ihnen sind sehr eindrucksvoll, etwa jene, in denen der an der Universität Luzern lehrende Wissenschaftler erklärt, wie sich die Alpen in der Wahrnehmung der Menschen von einer Mauer zu einem Durchgangsraum wandelten. Viele Grenzen zwischen den Hochgebirgsstaaten wurden in den letzten Jahrhunderten verlagert, und zwar von den Tälern auf hohe Gebirgskämme. Nur die Schweiz behielt ihre alten Grenzen.
Mathieu entwickelt eindrucksvolle Miniaturen, etwa zur Geschichte des Tunnelbaus. In keinem Gebiet der Welt gibt es so viele Tunnel wie in den Alpen. Ein Kapitel ist den Unterschieden der Bauernhäuser im Westen und im Osten der Alpen gewidmet. Ein anderes behandelt den Import von Hotels in neogotischem Stil, dem ein Export des Chalet Suisse, des Schweizer Hauses, in zahlreiche europäische Länder und sogar darüber hinaus gegenüberstand. Das war zur selben Zeit, in der die frühen, vor allem englischen Touristen beschlossen, nicht nur ans Mittelmeer, sondern auch in die Schweizer Berge zu fahren oder sie sogar zu ihrem einzigen Reiseziel zu machen.
Faszinierend ist die Darstellung des Übergangs von der Schafhaltung zur Rinderhaltung, die vor allem als Charakteristikum für den Nordwesten des Alpenraums herausgestellt wird. Das Bild der Schweiz und des Allgäus wurde davon nachhaltig geprägt. Vieles ist tatsächlich ungewöhnlich in den Alpen. Mathieu bestätigt dies auch mit seiner Darstellung der Sprachen oder mit dem besonderen Verhältnis der "Wildnis" in den Bergen zur "Zähme" in den Tälern.
Andere Kapitel glänzen weniger. Über die frühe Geschichte des Alpenraums, etwa über das hohe Alter der Almwirtschaft oder den vorgeschichtlichen Erzbergbau, liest man fast nichts. Dafür setzt sich Mathieu ausführlich mit Hannibal und Ötzi auseinander, die er für Symbolfiguren des Alpenraumes hält. Das mag sein, aber sind Wilhelm Tell und Andreas Hofer nicht ähnlich wichtig gewesen? Sie werden zwar erwähnt, aber nur am Rande. Es leuchtet auch nicht ein, warum "aus pragmatischen Gründen" nur eine Siedlung mit mehr als fünftausend Einwohnern eine Stadt sein kann. Dies trifft gerade auf den Alpenraum nicht zu, wo es viele Städte gibt, die sehr viel kleiner sind. Glurns im Vinschgau zum Beispiel erhielt schon im frühen vierzehnten Jahrhundert Stadtrechte und wurde von einer beeindruckenden Stadtmauer umzogen; dennoch hat der Ort nicht einmal tausend Einwohner.
Jon Mathieu gelingt es zweifelsohne, die These Braudels von der Besonderheit der Alpen zu untermauern. Es wäre ihm das aber noch besser gelungen, wenn er die Kapitel seines Buchs besser miteinander verknüpft hätte. Es führen durchaus Traditionslinien von Johann Jakob Scheuchzer zu Albrecht von Haller, dessen berühmtes Gedicht "Die Alpen" Wissenschaftler und Dichter der nachfolgenden Jahrzehnte inspirierte. Zu ihnen gehörten Alexander von Humboldt, Goethe und Schiller. Sie alle werden erwähnt, aber nicht zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei hatte Haller als einer der ersten Wissenschaftler die Höhenstufen der Alpen beschrieben, und Alexander von Humboldt verglich daraufhin die Höhenstufen zahlreicher Hochgebirge der Erde miteinander. Gerade die für die Geistes- und Naturgeschichte so wichtigen Ideen über die Schweiz, die im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert entwickelt wurden, finden in Mathieus Buch wenig Beachtung.
Das Buch, das oft eher den Eindruck einer Materialsammlung als einer Überblicksdarstellung erweckt, ist mit beeindruckenden Fotos und instruktiven Karten und auch mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis versehen. Der Autor lässt es mit einem schönen Satz enden: "Trotz aller historischen Narben stehen da weiterhin mehr als achtzig Viertausender, die uns von ferne zulächeln." Ja, aber man müsste ihnen doch noch näher kommen, dazu den Tälern, den Menschen, den zahlreichen kulturellen Traditionen, die sich von Talschaft zu Talschaft unterscheiden. Aber auch den Vorstellungen und Ideen, die mit der Freiheit der Berge, ihrer Vielfalt, ihrer Natur verknüpft wurden.
HANSJÖRG KÜSTER
Jon Mathieu: "Die Alpen". Raum - Kultur - Geschichte.
Reclam Verlag, Ditzingen 2015. 254 S., Abb., geb., 38,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main