Produktdetails
- Verlag: Böhlaus Nachfolger
- Seitenzahl: 312
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 514g
- ISBN-13: 9783740011055
- ISBN-10: 374001105X
- Artikelnr.: 25302091
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999Hunderttausend heulende Höllenhunde
Für den Herrn waren die Blasphemiker alle kleine Kläffer / Von Friedrich Wilhelm Graf
Wer seinem Gott flucht, der soll seine Schuld tragen. Wer des Herrn Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, muss sterben", heißt es in Leviticus vierundzwanzig. Das altisraelische Recht will Gott gegen frevelnde Beleidigung schützen. Auch im römischen Recht wird den Blasphemikern die Todesstrafe angedroht. In christlichen Rechtsquellen finden sich Äußerungen über die "schwere Sünde" erst relativ spät. Gregor IX. setzt im dreizehnten Jahrhundert für die öffentliche Blasphemie gegen Gott, die Jungfrau Maria und die Heiligen eine kirchliche Zwangsbuße fest. Der Schuldige soll, nach Fasten bei Wasser und Brot an sieben Feiertagen, an den darauf folgenden Sonntagen während der Messe vor der Kirche stehen und am letzten Sonntag barfuß ohne Obergewand und mit einem Leitriemen um den Hals seine Schuld bekennen. Bei hinreichendem Privatvermögen soll er Arme speisen und im Falle der Verweigerung dieser Buße mit dem Personalinterdikt und der Versagung des christlichen Begräbnisses bestraft werden. Die weltlichen Obrigkeiten verpflichtete der Papst, dem Schuldigen noch eine Geldstrafe aufzuerlegen.
Im dreizehnten Jahrhundert begannen die Juristen damit, den Straftatbestand der Gotteslästerung näher zu definieren. Das Delikt umfasste nun jede Gott, Christus und die Heiligen herabsetzende öffentliche Schmähung. Gemeint waren keineswegs nur fluchende einfache Leute, die Gott Übles wünschen oder den göttlichen Namen in ihren Beschimpfungen missbrauchen. Die Juristen konstruierten auch die gelehrte Blasphemie, Gott Eigenschaften wie Allmacht oder Allwissenheit abzusprechen oder ihm wesenswidrige Attribute wie Verlogenheit und Ungerechtigkeit zuzuschreiben. Gemeinsam mit den Theologen wollten sie durch Sprachnormen und semantische Tabus eine Aura des Heiligen, Ehrfurchtgebietenden schützen. Dazu entwickelten sie ein differenzierteres System von Sanktionen. Je nach Art der gotteslästerlichen Sprachhandlung reichte es von Geldstrafen über Auspeitschungen bis hin zu Zungedurchstechen und Galeerenstrafen bei notorischen Wiederholungstätern. Die zunehmende Verschärfung der Strafanordnungen spiegelte die Furcht der Obrigkeiten, dass Gott das ganze Land strafen werde, fühle er sich von seinen Geschöpfen beleidigt. Noch im neunzehnten Jahrhundert wurden Naturkatastrophen als Strafakte eines zornigen Gottes gedeutet.
Alain Cabantous hat die Gotteslästerung im Rahmen seiner marinehistorischen Forschungen entdeckt. In der Schifffahrt vieler europäischer Länder galten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert Disziplinarordnungen, kraft derer blasphemische Äußerungen rigide geahndet wurden. Die Sorge um das Schiff zwang zu harten Maßnahmen gegen Besatzungsmitglieder, die an Bord inkorrekt sprachen. Unterscheidungen von korrekter und illegitimer Rede konzipierten keineswegs nur die Theologen. Vielmehr führten auch die Vertreter der anderen Fakultäten intensive Blasphemiediskurse, sahen sie in der Normierung der Sprache doch eine Chance zur umfassenden Disziplinierung des Menschen. Herrschaftssysteme und Institutionen, die sich durch eine Bezugnahme auf Transzendenz legitimieren, müssen Sprachweisen tabuisieren, in denen die Aura des Heiligen zerstört zu werden droht. Der Schöpfer von Wort und Welt soll nicht zu einem Teil des Geschaffenen herabgesetzt werden dürfen. Nur als transzendente Macht kann er zur Rechtfertigung innerweltlicher Autorität und Ordnung dienen.
Cabantous spannt einen weiten Bogen vom sechzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert. Theologische Traktate, juristische Kommentare, Beichthandbücher, Gerichtsakten und Polizeiberichte spiegeln die Auseinandersetzung konkurrierender Obrigkeiten um Kompetenzen zur Blasphemiebekämpfung. Nach allgemeinen Erwägungen über sprachliche Aggression schildert Cabantous zunächst den Kampf der römischen Kirche gegen die Sprachhäretiker. Zwar verloren die Inquisitionsbehörden schon im sechzehnten Jahrhundert ihr Privileg der Bestrafung gotteslästerlicher Vergehen. Aber auf der Iberischen Halbinsel blieb die Inquisition einflussreich. Um einer gottwohlgefälligen Sprache willen verfolgte sie vornehmlich Protestanten und "conversos", getaufte Juden und Muslime. Französische Kleriker rechtfertigten die Pogrome in der Bartholomäusnacht als Zeichen für Gottes höhere Gerechtigkeit. In Großbritannien ging die anglikanische Religionspolizei gegen die Mitglieder protestantischer Sekten und Deisten vor. Neben dem Common Law diente auch der 1698 erlassene Blasphemy Act dazu, Autoren und Verleger freigeistiger Literatur zu kriminalisieren. Dass es auf der Insel mehr Toleranz und Gewissensfreiheit als auf dem Kontinent gab, ist nur ein Mythos vom britischen Sonderweg. Noch 1796 klagte der Kronanwalt einen Buchhändler an, weil er in London Thomas Paines "The Age of Reason" verkauft hatte.
Zu einem erfolgreichen Blasphemieprozess bedurfte es nur eines Denunzianten und einer Handvoll Zeugen. Sie fanden sich zumeist leicht. Denn die Anwälte der Ordnung nahmen gern Außenseiter ins Visier, die man als bedrohlich empfand. Trinker und Prostituierte, "Sodomiten" und Kleinkriminelle waren die bevorzugten Objekte ihres Bemühens, durch Sanktionen gegen verbale Gottesaggressionen die imaginierte Ordnung durchzusetzen. Die Prediger und Seelsorger verbreiteten Gerichtsangst und Todesfurcht. Cabantous bietet faszinierende Zeugnisse für Interventionen aus dem Himmel, wenn die Obrigkeiten nachlässig zu werden drohten. Kerngesunde Männer hatten ihren Fluch gerade ausgestoßen, da brachen sie schon sterbend zusammen, mit schwarzem Mund, verdrehter Zunge oder sonstigen furchteinflößenden Zeichen des in actu vollstreckten Gottesurteils. Blut und Wunden nahmen in den Mahnpredigten eine zentrale Rolle ein. Wer Christus verflucht, kreuzigt ihn abermals, lautet die homiletische Propaganda für ehrfürchtige Sprache. Die Theologen verfügten freilich nur über die Mittel symbolischer Ausgrenzung aus der kirchlichen Gemeinschaft, etwa durch Verweigerung der Eucharistie. Politische Institutionen gingen ungleich härter vor. Sie stießen die Blasphemiker dauerhaft aus der menschlichen Gesellschaft aus, indem sie ihre Körper verstümmelten. Wer Gott lästerte, dessen Stigmata sollten ihn als einen vom Teufel besessenen Unmenschen zeigen.
Keine soziale Ordnung ohne religiöse Sprachtabus - dies gilt auch in nachchristlichen Zeiten. Selbst die Emanzipationsagenten von 1789 setzten ihre neuen Grundwerte durch semantische Repression durch. Seit der Einführung der Kulte des höchsten Wesens wurde jeder Spott auf die "Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags" mit Sanktionen bis hin zur Guillotinierung bedroht. An den Diskursen über die legitime Revolutionssprache verdeutlicht Cabantous die Logik modernen Terrors. Mit der Sakralisierung der revolutionären Ordnung erfuhr der Begriff der Blasphemie folgenreiche Bedeutungserweiterungen. Nun konnte auch die ironische Distanz zum revolutionär verordneten Bild des Menschen als blasphemischer Akt verfolgt werden. Die Heiligsprechung des Politischen steigerte nur die Terrorpotenziale, die allen religiösen Symbolsprachen inhärent sind. Treten die volonté générale oder das gesunde Volksempfinden an die Stelle von Gottes eschatologischem Gericht, können die neuen Priester, die die Definitionsmacht fürs Allgemeine beanspruchen, neue Götter in Szene setzen.
Leider geht Cabantous im neunzehnten Jahrhundert der Atem aus. Die dicht fließenden modernen Quellen bleiben dem Mentalitätshistoriker der frühen Neuzeit fremd. Seine These, dass im Jahrhundert des bürgerlichen Fortschritts nur noch die Kirche Blasphemie bekämpft habe, ist unzutreffend. Mit der allgemeinen Säkularisierung sei der Straftatbestand verschwunden, behauptet Cabantous. Dies ist in vielen europäischen Gesellschaften jedoch nicht der Fall. Cabantous lässt die begrifflichen Transformationsprozesse der juristischen Blasphemiediskurse seit circa 1800 außer Acht. Die alteuropäische Jurisdiktion hatte sich an der Vorstellung orientiert, dass Gott als juristische Person gedacht werden kann und Anspruch auf Schutzrechte hat. Als selbst Theologen der Begriff der Persönlichkeit Gottes suspekt wurde, konnten die Juristen die Rechtsfigur einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten nicht mehr auf das höchste Wesen anwenden. So bestimmten sie die Gotteslästerung nun als eine der Kirche zugefügte Injurie oder als einen Angriff auf die religiösen Fundamente der öffentlichen Ordnung. Strafrechtlicher Schutz wurde zudem den religiösen Gefühlen frommer Individuen gewährt. Dies provozierte viele neue Rechtskonflikte. Zwar wurde niemand mehr gesteinigt. Aber sprachliche Tabugrenzen bleiben durch mehr oder weniger subtile politische Repression geschützt.
Französische Gelehrte haben Cabantous' Monografie begeistert aufgenommen. Auch der deutschen Ausgabe ist eine positive Resonanz zu wünschen, trotz der unzureichenden Übersetzung. So hat manche Mentalitätshistorikerin in der deutschen Fassung unfreiwillig ihr Geschlecht gewechselt, einige Sätze sind falsch, und das Deutsch des Übersetzers erfüllt den Tatbestand der Leserlästerung. Dies ist bedauerlich, weil Cabantous' Studie auch als eine Vorgeschichte zum aktuellen Sprachregime der political correctness gelesen werden kann. Nicht Staat und Kirchen betreiben derzeit semantische Inquisition, sondern jene "gesellschaftlich relevanten Gruppen", die anderen ihre partikularen Sprachen als allgemein verbindlich vorschreiben wollen.
Alain Cabantous: "Geschichte der Blasphemie". Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar, Weimar 1999. 320 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für den Herrn waren die Blasphemiker alle kleine Kläffer / Von Friedrich Wilhelm Graf
Wer seinem Gott flucht, der soll seine Schuld tragen. Wer des Herrn Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, muss sterben", heißt es in Leviticus vierundzwanzig. Das altisraelische Recht will Gott gegen frevelnde Beleidigung schützen. Auch im römischen Recht wird den Blasphemikern die Todesstrafe angedroht. In christlichen Rechtsquellen finden sich Äußerungen über die "schwere Sünde" erst relativ spät. Gregor IX. setzt im dreizehnten Jahrhundert für die öffentliche Blasphemie gegen Gott, die Jungfrau Maria und die Heiligen eine kirchliche Zwangsbuße fest. Der Schuldige soll, nach Fasten bei Wasser und Brot an sieben Feiertagen, an den darauf folgenden Sonntagen während der Messe vor der Kirche stehen und am letzten Sonntag barfuß ohne Obergewand und mit einem Leitriemen um den Hals seine Schuld bekennen. Bei hinreichendem Privatvermögen soll er Arme speisen und im Falle der Verweigerung dieser Buße mit dem Personalinterdikt und der Versagung des christlichen Begräbnisses bestraft werden. Die weltlichen Obrigkeiten verpflichtete der Papst, dem Schuldigen noch eine Geldstrafe aufzuerlegen.
Im dreizehnten Jahrhundert begannen die Juristen damit, den Straftatbestand der Gotteslästerung näher zu definieren. Das Delikt umfasste nun jede Gott, Christus und die Heiligen herabsetzende öffentliche Schmähung. Gemeint waren keineswegs nur fluchende einfache Leute, die Gott Übles wünschen oder den göttlichen Namen in ihren Beschimpfungen missbrauchen. Die Juristen konstruierten auch die gelehrte Blasphemie, Gott Eigenschaften wie Allmacht oder Allwissenheit abzusprechen oder ihm wesenswidrige Attribute wie Verlogenheit und Ungerechtigkeit zuzuschreiben. Gemeinsam mit den Theologen wollten sie durch Sprachnormen und semantische Tabus eine Aura des Heiligen, Ehrfurchtgebietenden schützen. Dazu entwickelten sie ein differenzierteres System von Sanktionen. Je nach Art der gotteslästerlichen Sprachhandlung reichte es von Geldstrafen über Auspeitschungen bis hin zu Zungedurchstechen und Galeerenstrafen bei notorischen Wiederholungstätern. Die zunehmende Verschärfung der Strafanordnungen spiegelte die Furcht der Obrigkeiten, dass Gott das ganze Land strafen werde, fühle er sich von seinen Geschöpfen beleidigt. Noch im neunzehnten Jahrhundert wurden Naturkatastrophen als Strafakte eines zornigen Gottes gedeutet.
Alain Cabantous hat die Gotteslästerung im Rahmen seiner marinehistorischen Forschungen entdeckt. In der Schifffahrt vieler europäischer Länder galten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert Disziplinarordnungen, kraft derer blasphemische Äußerungen rigide geahndet wurden. Die Sorge um das Schiff zwang zu harten Maßnahmen gegen Besatzungsmitglieder, die an Bord inkorrekt sprachen. Unterscheidungen von korrekter und illegitimer Rede konzipierten keineswegs nur die Theologen. Vielmehr führten auch die Vertreter der anderen Fakultäten intensive Blasphemiediskurse, sahen sie in der Normierung der Sprache doch eine Chance zur umfassenden Disziplinierung des Menschen. Herrschaftssysteme und Institutionen, die sich durch eine Bezugnahme auf Transzendenz legitimieren, müssen Sprachweisen tabuisieren, in denen die Aura des Heiligen zerstört zu werden droht. Der Schöpfer von Wort und Welt soll nicht zu einem Teil des Geschaffenen herabgesetzt werden dürfen. Nur als transzendente Macht kann er zur Rechtfertigung innerweltlicher Autorität und Ordnung dienen.
Cabantous spannt einen weiten Bogen vom sechzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert. Theologische Traktate, juristische Kommentare, Beichthandbücher, Gerichtsakten und Polizeiberichte spiegeln die Auseinandersetzung konkurrierender Obrigkeiten um Kompetenzen zur Blasphemiebekämpfung. Nach allgemeinen Erwägungen über sprachliche Aggression schildert Cabantous zunächst den Kampf der römischen Kirche gegen die Sprachhäretiker. Zwar verloren die Inquisitionsbehörden schon im sechzehnten Jahrhundert ihr Privileg der Bestrafung gotteslästerlicher Vergehen. Aber auf der Iberischen Halbinsel blieb die Inquisition einflussreich. Um einer gottwohlgefälligen Sprache willen verfolgte sie vornehmlich Protestanten und "conversos", getaufte Juden und Muslime. Französische Kleriker rechtfertigten die Pogrome in der Bartholomäusnacht als Zeichen für Gottes höhere Gerechtigkeit. In Großbritannien ging die anglikanische Religionspolizei gegen die Mitglieder protestantischer Sekten und Deisten vor. Neben dem Common Law diente auch der 1698 erlassene Blasphemy Act dazu, Autoren und Verleger freigeistiger Literatur zu kriminalisieren. Dass es auf der Insel mehr Toleranz und Gewissensfreiheit als auf dem Kontinent gab, ist nur ein Mythos vom britischen Sonderweg. Noch 1796 klagte der Kronanwalt einen Buchhändler an, weil er in London Thomas Paines "The Age of Reason" verkauft hatte.
Zu einem erfolgreichen Blasphemieprozess bedurfte es nur eines Denunzianten und einer Handvoll Zeugen. Sie fanden sich zumeist leicht. Denn die Anwälte der Ordnung nahmen gern Außenseiter ins Visier, die man als bedrohlich empfand. Trinker und Prostituierte, "Sodomiten" und Kleinkriminelle waren die bevorzugten Objekte ihres Bemühens, durch Sanktionen gegen verbale Gottesaggressionen die imaginierte Ordnung durchzusetzen. Die Prediger und Seelsorger verbreiteten Gerichtsangst und Todesfurcht. Cabantous bietet faszinierende Zeugnisse für Interventionen aus dem Himmel, wenn die Obrigkeiten nachlässig zu werden drohten. Kerngesunde Männer hatten ihren Fluch gerade ausgestoßen, da brachen sie schon sterbend zusammen, mit schwarzem Mund, verdrehter Zunge oder sonstigen furchteinflößenden Zeichen des in actu vollstreckten Gottesurteils. Blut und Wunden nahmen in den Mahnpredigten eine zentrale Rolle ein. Wer Christus verflucht, kreuzigt ihn abermals, lautet die homiletische Propaganda für ehrfürchtige Sprache. Die Theologen verfügten freilich nur über die Mittel symbolischer Ausgrenzung aus der kirchlichen Gemeinschaft, etwa durch Verweigerung der Eucharistie. Politische Institutionen gingen ungleich härter vor. Sie stießen die Blasphemiker dauerhaft aus der menschlichen Gesellschaft aus, indem sie ihre Körper verstümmelten. Wer Gott lästerte, dessen Stigmata sollten ihn als einen vom Teufel besessenen Unmenschen zeigen.
Keine soziale Ordnung ohne religiöse Sprachtabus - dies gilt auch in nachchristlichen Zeiten. Selbst die Emanzipationsagenten von 1789 setzten ihre neuen Grundwerte durch semantische Repression durch. Seit der Einführung der Kulte des höchsten Wesens wurde jeder Spott auf die "Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags" mit Sanktionen bis hin zur Guillotinierung bedroht. An den Diskursen über die legitime Revolutionssprache verdeutlicht Cabantous die Logik modernen Terrors. Mit der Sakralisierung der revolutionären Ordnung erfuhr der Begriff der Blasphemie folgenreiche Bedeutungserweiterungen. Nun konnte auch die ironische Distanz zum revolutionär verordneten Bild des Menschen als blasphemischer Akt verfolgt werden. Die Heiligsprechung des Politischen steigerte nur die Terrorpotenziale, die allen religiösen Symbolsprachen inhärent sind. Treten die volonté générale oder das gesunde Volksempfinden an die Stelle von Gottes eschatologischem Gericht, können die neuen Priester, die die Definitionsmacht fürs Allgemeine beanspruchen, neue Götter in Szene setzen.
Leider geht Cabantous im neunzehnten Jahrhundert der Atem aus. Die dicht fließenden modernen Quellen bleiben dem Mentalitätshistoriker der frühen Neuzeit fremd. Seine These, dass im Jahrhundert des bürgerlichen Fortschritts nur noch die Kirche Blasphemie bekämpft habe, ist unzutreffend. Mit der allgemeinen Säkularisierung sei der Straftatbestand verschwunden, behauptet Cabantous. Dies ist in vielen europäischen Gesellschaften jedoch nicht der Fall. Cabantous lässt die begrifflichen Transformationsprozesse der juristischen Blasphemiediskurse seit circa 1800 außer Acht. Die alteuropäische Jurisdiktion hatte sich an der Vorstellung orientiert, dass Gott als juristische Person gedacht werden kann und Anspruch auf Schutzrechte hat. Als selbst Theologen der Begriff der Persönlichkeit Gottes suspekt wurde, konnten die Juristen die Rechtsfigur einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten nicht mehr auf das höchste Wesen anwenden. So bestimmten sie die Gotteslästerung nun als eine der Kirche zugefügte Injurie oder als einen Angriff auf die religiösen Fundamente der öffentlichen Ordnung. Strafrechtlicher Schutz wurde zudem den religiösen Gefühlen frommer Individuen gewährt. Dies provozierte viele neue Rechtskonflikte. Zwar wurde niemand mehr gesteinigt. Aber sprachliche Tabugrenzen bleiben durch mehr oder weniger subtile politische Repression geschützt.
Französische Gelehrte haben Cabantous' Monografie begeistert aufgenommen. Auch der deutschen Ausgabe ist eine positive Resonanz zu wünschen, trotz der unzureichenden Übersetzung. So hat manche Mentalitätshistorikerin in der deutschen Fassung unfreiwillig ihr Geschlecht gewechselt, einige Sätze sind falsch, und das Deutsch des Übersetzers erfüllt den Tatbestand der Leserlästerung. Dies ist bedauerlich, weil Cabantous' Studie auch als eine Vorgeschichte zum aktuellen Sprachregime der political correctness gelesen werden kann. Nicht Staat und Kirchen betreiben derzeit semantische Inquisition, sondern jene "gesellschaftlich relevanten Gruppen", die anderen ihre partikularen Sprachen als allgemein verbindlich vorschreiben wollen.
Alain Cabantous: "Geschichte der Blasphemie". Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar, Weimar 1999. 320 S., geb., 58,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Wer meint, ein Todesurteil wegen Blasphemie, wie es der iranische Ajatollah Chomeini gegen Salman Rushdie verhängt hat, wäre dem christlichen Abendland grundlegend fremd, der sollte Alain Cabantous lesen, meint Ulrike Brunotte. Sie hält seine "Geschichte der Blasphemie" für die überzeugende Demonstration der fundamentalen Rolle, die die Blasphemie und ihre Bekämpfung bei der Entstehung der modernen europäischen Gesellschaften gespielt haben. Von der Wucht der Beweise hat sich Brunotte offenbar mitreißen lassen. So schreibt sie denn auch sehr einnehmend. Sehr überzeugend stellt sie Cabantous Grundgedanken dar, wie sich über die "Gotteslästerung" das Verhältnis zwischen einem zu zivilisierenden Volk und einer disziplinierenden Obrigkeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Allein die Fülle der in dem Buch präsentierten Prozessakten hält Brunotte für bisweilen etwas ermüdend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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