Diese Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1900 bis 1918 bildet den zweiten und abschließenden Teil von Peter Sprengels großer Literaturgeschichte der Wilhelminischen Epoche. Die Darstellung legt besonderen Wert auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der deutschen, österreichischen und Schweizer Situation. Schwerpunkte sind die Autorenporträts der bedeutendsten Schriftsteller von Rilke bis Thomas Mann. Eine Besonderheit bildet das Kapitel über Literatur und Weltkrieg, das sich mit der Frage der Darstellbarkeit eines modernen Kriegs in der Literatur auseinandersetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2005Parallelaktionen im Quadrat
Wegweisend: Peter Sprengels Literaturgeschichte von 1900 bis 1918
Ein paar große Namen, deren Werke zum Wichtigsten gehören, was deutschsprachige Autoren im 20. Jahrhundert zur Weltliteratur beigesteuert haben - Thomas Mann und Franz Kafka, Rilke und Trakl, Hofmannsthal und Schnitzler etwa -, bezeichnen zugleich die Schwierigkeit, eine deutsche Literaturgeschichte zu schreiben, welche die Zeitspanne umfaßt, die von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des "Großen Krieges" reicht, wie der Erste Weltkrieg von den Zeitgenossen genannt wurde. Allen definitorischen Schwierigkeiten zum Trotz bildet die Epoche eben doch eine Einheit, die sowohl in ideologischen "Parallelaktionen" machtpolitisch übersättigter Nationen als auch im selbstverliebten Spiel mit den Empfindungen der eigenen zärtlich verwöhnten Psyche begründet ist.
Symbolismus, Expressionismus, Psychoanalyse: All solche - meist aus anderen Kontexten entliehenen - Begriffe gelten mit Bezug auf die Literatur immer nur für die Produktion weniger Jahre, für einzelne Facetten schriftstellerischen Schaffens, für kurze Abschnitte im Leben eines Autors und haben als literaturgeschichtliche Termini nur gemeinsam, daß sie höchst unbefriedigend sind. Schon bei seiner 1998 erschienenen "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende", dem ersten Teil seines nun vollendeten zweibändigen Projekts, hatte sich daher der an der Freien Universität Berlin lehrende Peter Sprengel entschieden, eine auf den ersten Blick vielleicht ein wenig altmodisch schematisch erscheinende Gliederung nach den traditionellen Großgattungen zu wählen, die er noch dazu - Altphilologe, der er auch ist - ganz gegen die heute üblichen Usancen in der Reihenfolge Erzählprosa, Dramatik und Lyrik bietet, in einer Folge also, die den Vorschriften ältester antiker Literaturtheorien entspricht. Der nichtfiktionalen Prosa, einer in der hier behandelten Periode besonders wichtigen Produktion, wird zu Recht gleichfalls der Rang einer Gattung eingeräumt.
Dadurch, daß bei dieser Anordnung des Stoffes das Schaffen vieler Dichter, deren Werk sich auf mehrere Gattungen erstreckt, an mehr als einer Stelle zur Sprache kommt, stört überhaupt nicht, da Sprengel alles Biographische ohnehin knapp hält und immer nur in Bezug auf einzelne Werke erörtert. Die Erfahrung von Mitforschern, Lehrern und Studenten dürfte ihm längst recht gegeben haben, wie klug die ganz pragmatische Ordnung gewählt ist, deren zweite Gliederungsebene von dem regionalen Prinzip bestimmt ist, daß innerhalb der Gattungen zunächst von der Produktion in der Schweiz gehandelt wird, dann von derjenigen in Österreich und zuletzt von derjenigen, die im Deutschen Reich erschienen war. Daß über dieser Struktur des Bandes epochentypische Besonderheiten, welche die Texte geprägt haben, nicht zu kurz kommen, dafür sorgen jeweils die vorangestellten Einführungen, die von Formen, Stilen, Einflüssen und sonstigen komparatistischen Aspekten handeln.
Hier werden auch Unschärfen erörtert, die das gewählte Einteilungsprinzip zwar erschweren, jedoch nicht in Frage stellen, wie zum Beispiel das zunehmende Ausfransen klarer Grenzen der einzelnen Genres. Häufig faßt Sprengel in einem Kapitel das Schaffen von zwei, vereinzelt auch von mehreren Autoren zusammen: Albert Ehrenstein und Robert Müller, Rilke und Musil bei den österreichischen Prosaisten, mit Stehr und den Brüdern Hauptmann, Jakob Wassermann und Georg Hermann bei den deutschen kommen so zusammen, und nicht immer beziehen sich diese Zusammenstellungen auf Autoren, die bei aller Differenz des Werks so viel miteinander verbunden hat wie Hofmannsthal und Schnitzler. Natürlich wechseln die Zusammenstellungen von Gattung zu Gattung.
Das knapp hundertfünfzigseitige "Porträt einer Epoche", das den Band eröffnet, läßt besonders die charakteristischen Tendenzen der Zeit hervortreten, etwa die Krise der Autorität, die Erfahrung von Beschleunigung und Nervosität, die Neigung zu alternativen Lebensformen, die Kollektivphantasien Tanz, Opfer und Untergang als Voraussetzungen der Kunst; schildert die geistigen Grundlagen der Epoche in den neuen philosophischen und wissenschaftlichen Schulen, aber auch in der Esoterik; zeichnet in ihren Grundlinien Stile und Richtungen vom Jugendstil zum Expressionismus, von der Neuromantik bis zum Dadaismus nach und skizziert schließlich Institutionen und Prozesse des literarischen Lebens, so Gruppenbildungen, Verlage, Zeitschriften, Autorenförderung und - vielleicht in allzu wenigen Strichen - die Einrichtungen und Verfahren der Zensur.
Sachliche Information und behutsame Interpretation, also Unterrichtung über Inhalte, Quellen, Entstehung, zeitgeschichtliche Bezüge, Rezeption, werden unaufdringlich und, weil alles klar gedacht ist, in einer klaren Sprache geboten, die nicht den geringsten Anflug eines - sit venia verbo - verquasten Germanistenjargons aufweist. Man möchte das Buch gern auch als ein Zeichen dafür nehmen, daß inzwischen nicht nur Historiker, sondern auch Literaturhistoriker ihre Verachtung für die narrativen Grundlagen ihres Tuns endlich wieder abgelegt haben. Allenthalben ist zu spüren, daß das Buch nicht als Verschnitt bereits vorhandener Werke entstanden ist, sondern umfassender eigener Belesenheit entstammt. Mit Vergnügen spürt man, wie es dem Verfasser gelingt, die solchen Werken oft inhärente Langeweile durch Ironie - allein schon im Arrangement des Stoffes - fernzuhalten, so etwa wenn er unmittelbar im Anschluß an die verspannten Jugend-Sonette Rudolf Borchardts aus dem Jahre 1913 die "etwas herberen" aus Mynonas "Hundert Bonbons" von 1918 folgen läßt.
An Ausführlichkeit wird Sprengels Literaturgeschichte derzeit von keiner anderen übertroffen, und man hat lange schon auf eine Darstellung wie diese gewartet, deren Horizont der Weite des Gegenstandes statt der Enge von Lehrplänen entspricht: Wo etwa ist außerhalb der Spezialliteratur und Lexika denn noch im Kontext ihrer Zeit die Rede von Autoren wie Paul Boldt, dem durch ein einziges Gedicht, die "Jungen Pferde" (1912), zu Ruhm gelangten Sänger zwiespältiger sexueller Erfahrung, wo von dem Schöpfer melancholischer und zynischer Großstadtgedichte Ernst Blass, wo von dem frühvollendeten Lyriker Alfred Wolfenstein?
Ein unerschöpfliches Werk: belehrendes Handbuch, sicherer Wegweiser und ein Lesebuch voller ungeahnter Anregungen für den Neugierigen - ein Buch für Kritiker und Leser, für Literaturwissenschaftler und Studenten.
HANS-ALBRECHT KOCH
Peter Sprengel: "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs". C.H. Beck Verlag, München 2004, XIII, 924 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wegweisend: Peter Sprengels Literaturgeschichte von 1900 bis 1918
Ein paar große Namen, deren Werke zum Wichtigsten gehören, was deutschsprachige Autoren im 20. Jahrhundert zur Weltliteratur beigesteuert haben - Thomas Mann und Franz Kafka, Rilke und Trakl, Hofmannsthal und Schnitzler etwa -, bezeichnen zugleich die Schwierigkeit, eine deutsche Literaturgeschichte zu schreiben, welche die Zeitspanne umfaßt, die von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis zum Ende des "Großen Krieges" reicht, wie der Erste Weltkrieg von den Zeitgenossen genannt wurde. Allen definitorischen Schwierigkeiten zum Trotz bildet die Epoche eben doch eine Einheit, die sowohl in ideologischen "Parallelaktionen" machtpolitisch übersättigter Nationen als auch im selbstverliebten Spiel mit den Empfindungen der eigenen zärtlich verwöhnten Psyche begründet ist.
Symbolismus, Expressionismus, Psychoanalyse: All solche - meist aus anderen Kontexten entliehenen - Begriffe gelten mit Bezug auf die Literatur immer nur für die Produktion weniger Jahre, für einzelne Facetten schriftstellerischen Schaffens, für kurze Abschnitte im Leben eines Autors und haben als literaturgeschichtliche Termini nur gemeinsam, daß sie höchst unbefriedigend sind. Schon bei seiner 1998 erschienenen "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende", dem ersten Teil seines nun vollendeten zweibändigen Projekts, hatte sich daher der an der Freien Universität Berlin lehrende Peter Sprengel entschieden, eine auf den ersten Blick vielleicht ein wenig altmodisch schematisch erscheinende Gliederung nach den traditionellen Großgattungen zu wählen, die er noch dazu - Altphilologe, der er auch ist - ganz gegen die heute üblichen Usancen in der Reihenfolge Erzählprosa, Dramatik und Lyrik bietet, in einer Folge also, die den Vorschriften ältester antiker Literaturtheorien entspricht. Der nichtfiktionalen Prosa, einer in der hier behandelten Periode besonders wichtigen Produktion, wird zu Recht gleichfalls der Rang einer Gattung eingeräumt.
Dadurch, daß bei dieser Anordnung des Stoffes das Schaffen vieler Dichter, deren Werk sich auf mehrere Gattungen erstreckt, an mehr als einer Stelle zur Sprache kommt, stört überhaupt nicht, da Sprengel alles Biographische ohnehin knapp hält und immer nur in Bezug auf einzelne Werke erörtert. Die Erfahrung von Mitforschern, Lehrern und Studenten dürfte ihm längst recht gegeben haben, wie klug die ganz pragmatische Ordnung gewählt ist, deren zweite Gliederungsebene von dem regionalen Prinzip bestimmt ist, daß innerhalb der Gattungen zunächst von der Produktion in der Schweiz gehandelt wird, dann von derjenigen in Österreich und zuletzt von derjenigen, die im Deutschen Reich erschienen war. Daß über dieser Struktur des Bandes epochentypische Besonderheiten, welche die Texte geprägt haben, nicht zu kurz kommen, dafür sorgen jeweils die vorangestellten Einführungen, die von Formen, Stilen, Einflüssen und sonstigen komparatistischen Aspekten handeln.
Hier werden auch Unschärfen erörtert, die das gewählte Einteilungsprinzip zwar erschweren, jedoch nicht in Frage stellen, wie zum Beispiel das zunehmende Ausfransen klarer Grenzen der einzelnen Genres. Häufig faßt Sprengel in einem Kapitel das Schaffen von zwei, vereinzelt auch von mehreren Autoren zusammen: Albert Ehrenstein und Robert Müller, Rilke und Musil bei den österreichischen Prosaisten, mit Stehr und den Brüdern Hauptmann, Jakob Wassermann und Georg Hermann bei den deutschen kommen so zusammen, und nicht immer beziehen sich diese Zusammenstellungen auf Autoren, die bei aller Differenz des Werks so viel miteinander verbunden hat wie Hofmannsthal und Schnitzler. Natürlich wechseln die Zusammenstellungen von Gattung zu Gattung.
Das knapp hundertfünfzigseitige "Porträt einer Epoche", das den Band eröffnet, läßt besonders die charakteristischen Tendenzen der Zeit hervortreten, etwa die Krise der Autorität, die Erfahrung von Beschleunigung und Nervosität, die Neigung zu alternativen Lebensformen, die Kollektivphantasien Tanz, Opfer und Untergang als Voraussetzungen der Kunst; schildert die geistigen Grundlagen der Epoche in den neuen philosophischen und wissenschaftlichen Schulen, aber auch in der Esoterik; zeichnet in ihren Grundlinien Stile und Richtungen vom Jugendstil zum Expressionismus, von der Neuromantik bis zum Dadaismus nach und skizziert schließlich Institutionen und Prozesse des literarischen Lebens, so Gruppenbildungen, Verlage, Zeitschriften, Autorenförderung und - vielleicht in allzu wenigen Strichen - die Einrichtungen und Verfahren der Zensur.
Sachliche Information und behutsame Interpretation, also Unterrichtung über Inhalte, Quellen, Entstehung, zeitgeschichtliche Bezüge, Rezeption, werden unaufdringlich und, weil alles klar gedacht ist, in einer klaren Sprache geboten, die nicht den geringsten Anflug eines - sit venia verbo - verquasten Germanistenjargons aufweist. Man möchte das Buch gern auch als ein Zeichen dafür nehmen, daß inzwischen nicht nur Historiker, sondern auch Literaturhistoriker ihre Verachtung für die narrativen Grundlagen ihres Tuns endlich wieder abgelegt haben. Allenthalben ist zu spüren, daß das Buch nicht als Verschnitt bereits vorhandener Werke entstanden ist, sondern umfassender eigener Belesenheit entstammt. Mit Vergnügen spürt man, wie es dem Verfasser gelingt, die solchen Werken oft inhärente Langeweile durch Ironie - allein schon im Arrangement des Stoffes - fernzuhalten, so etwa wenn er unmittelbar im Anschluß an die verspannten Jugend-Sonette Rudolf Borchardts aus dem Jahre 1913 die "etwas herberen" aus Mynonas "Hundert Bonbons" von 1918 folgen läßt.
An Ausführlichkeit wird Sprengels Literaturgeschichte derzeit von keiner anderen übertroffen, und man hat lange schon auf eine Darstellung wie diese gewartet, deren Horizont der Weite des Gegenstandes statt der Enge von Lehrplänen entspricht: Wo etwa ist außerhalb der Spezialliteratur und Lexika denn noch im Kontext ihrer Zeit die Rede von Autoren wie Paul Boldt, dem durch ein einziges Gedicht, die "Jungen Pferde" (1912), zu Ruhm gelangten Sänger zwiespältiger sexueller Erfahrung, wo von dem Schöpfer melancholischer und zynischer Großstadtgedichte Ernst Blass, wo von dem frühvollendeten Lyriker Alfred Wolfenstein?
Ein unerschöpfliches Werk: belehrendes Handbuch, sicherer Wegweiser und ein Lesebuch voller ungeahnter Anregungen für den Neugierigen - ein Buch für Kritiker und Leser, für Literaturwissenschaftler und Studenten.
HANS-ALBRECHT KOCH
Peter Sprengel: "Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs". C.H. Beck Verlag, München 2004, XIII, 924 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2005Durchgefühlt
Souverän erneuert Peter Sprengel die Literaturgeschichte
Vor fast 100 Jahren, 1911, erschien eine Literaturgeschichte, wie es sie vorher nicht gegeben hatte. Unter dem Titel „Dichtung und Dichter der Zeit” wurde ein Überblick über die deutsche Literatur der letzten drei Jahrzehnte gegeben, eines Zeitraums, an den sich die germanistische Zunft zuvor nicht wirklich herangewagt hatte. Mit zahlreichen ausführlichen Textproben und üppiger Bebilderung hatte der Chemnitzer Privatgelehrte Albert Soergel einen neuen Typus Literaturgeschichte kreiert, was ihm durch einen ungewöhnlichen Erfolg vergolten wurde - 1925 ließ er einen zweiten Teil zum Expressionismus folgen.
Peter Sprengel verweist im Vorwort zu seiner Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur zwischen Jahrhundertwende und dem Ende des Ersten Weltkriegs ausdrücklich auf Soergel, dessen Projekt das seine, was Umfang und Anspruch betrifft, ähnelt, wenn ihm auch dessen subjektivistisch-hymnischer Ton völlig fehlt. Der erste Band seines ehrgeizigen und voluminösen Unternehmens erschien 1998 und umfasste die Literatur zwischen 1870 und 1900. Beide Bände zusammengenommen, nebenbei auch noch Teilbände der „Geschichte der deutschen Literatur” des C. H. Beck-Verlags, sind, das sei sogleich konstatiert, ein großer Wurf, eine glorreiche restitutio in integrum der so oft totgesagten, zumindest kleingeredeten Literaturgeschichte.
Wer die Nase voll hat von allen Methodendiskussionen früherer und von allen De-, Re- und Neukonstruktionen literaturtheoretischer Wechselbälger und -bäder jüngerer Zeiten, der wird sich hier aus der Lektüre des „Sprengel”, wie man künftig sagen wird müssen (so wie man früher vom „Soergel” sprach) neu gestärkt erheben.
Wie schon im ersten Band hat sich Sprengel für eine Gliederung entschieden, die sich nicht an Schulen, Richtungen und Stiloberbegriffen orientiert, sondern vermeintlich traditioneller an den guten alten Gattungen Erzählprosa, Dramatik und Lyrik (dies ist übrigens auch bereits die Gliederung bei Soergel), mit gutem Grund die Gattung „Nichtfiktionale Prosa” hinzufügend und im hier speziellen Fall ein abschließendes Kapitel „Literatur im Weltkrieg” anhängend, das zu den Glanzstücken des Buches gehört. Voran geht das „Porträt einer Epoche”, dem das Kunststück gelingt, auf knapp 150 Seiten die wesentlichen Tendenzen des Zeitalters zu bündeln und zu analysieren, und wer auf seine Stile und Richtungen nicht ganz verzichten möchte, der kommt hier auf seine (knappen) Kosten. Innerhalb der Gattungskapitel wählt Sprengel den einleuchtenden Weg, sich an den nationalen und regionalen Unterschieden innerhalb der deutschsprachigen Literatur zu orientieren, denn wer wollte bestreiten, dass die Berliner Moderne um 1900 oder um 1910 etwas anderes ist als die gleichzeitige Wiener Moderne.
Kurios (und das gibt auch Sprengel selbst zu) wirkt sich die Konsequenz aus, der Schweiz jeweils ein eigenes Kapitel zuzugestehen: schon bei der Erzählprosa muss Robert Walser die helvetische Ehre nahezu allein auf seine schmalen Schultern wuchten, in der Dramatik muss er auf zwei Seiten völlig vereinsamt den Rütli-Schwur leisten, und im Abschnitt Lyrik ist die Schweiz gänzlich abhanden gekommen - Robert Walser musste hier passen. Ansonsten aber bewährt sich das Gliederungsprinzip durchaus, und es bewährt sich vor allem der angesichts der gewaltigen Stoffmassen nur zu bewundernde weite Blick und die Sicherheit, ja Souveränität des Urteils.
Welcher Autor einer noch so umfangreichen Literaturgeschichte würde sich nicht gruseln vor der Aufgabe, die Bedeutung Kafkas anhand des Kernbestandes seines Werks auf 26 Seiten darzustellen? Sprengel hat es gewagt, und es ist ihm gelungen. Aber nicht nur das wird man diesem Buch hoch anzurechnen haben. Zum ersten Mal haben wir eine deutsche Literaturgeschichte dieses Zeitraums, in der die Bedeutung von Karl Kraus ebenso klar erkannt wie angemessen beschrieben ist, und das betrifft nicht nur die adäquate Darstellung seines inkommensurablen Weltkriegsdramas „Die letzten Tage der Menschheit”, sondern auch den Lyriker, Essayisten und Polemiker Kraus.
Zum ersten Mal auch wird in einem Werk dieses Zuschnitts der Rang des Erzählers Eduard von Keyserling angemessen gewürdigt. Eine Fundgrube besonderer Art ist der Abschnitt über die nichtfiktionale Prosa: Georg Simmel, Walther Rathenau, die Theaterkritiker Alfred Kerr und Siegfried Jacobsohn, die Briefkultur eines Hofmannsthal und Rilke, Kulturkritik und Biographik - nichts entgeht dem enzyklopädischen Blick Peter Sprengels. Und vor allem: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat” - dieses Buch nimmt Grillparzers Diktum aus dem „Armen Spielmann” ernst.
Reichtum ohne Drittmittel
Welch ein Reichtum an nur scheinbar Entlegenem wird hier ausgebreitet: Die phantastische und die Horror-Literatur werden konzis dargestellt - Hanns Heinz Ewers, Alfred Kubin und Gustav Meyrink erhalten den ihrem Erfolg und ihrer zeittypischen Signatur entsprechenden Platz. Das frühe Kino mit seiner Ausstrahlungskraft auf die Literaten wird ebenfalls berücksichtigt, aber auch vor dem klassischen Pornographicon „Josefine Mutzenbacher”, sei es nun von Felix Salten, also die Kehrseite von „Bambi”, oder nicht, zeigt der Germanist Sprengel keine Berührungsängste.
Überall besticht sein weitgehend nüchterner Ton, immer wieder von milder Ironie vitalisiert und lesbar weit über den Kreis der Fachleute hinaus. In erstaunlich vielen Fällen regt die Lektüre zu überprüfenden Überlegungen an: Haben wir die Qualität von Max Brods Frühwerk bisher völlig übersehen, hat Robert Müller es verdient, dass er nach wie vor eine obskure Randfigur ist?
Auch bei rund 900 Seiten kann es nicht anders sein, als dass der Leser an manchen, durchaus seltenen Stellen seine eigenen Präferenzen und Werturteile nicht ausreichend repräsentiert sieht: den Lyriker Rudolf Borchardt, denn doch eine säkulare Erscheinung, auf ebenso drei Seiten behandelt zu finden wie die deutlich bescheidenere Figur Alfred Lichtensteins, das schmerzt, und Arthur Schnitzlers Dramen „Das weite Land” und „Professor Bernhardi” hat Sprengel in ihrem Rang nicht zur Gänze erkannt; aber solche Monita verblassen gegenüber der respekteinflößenden Gesamtleistung, die, wohlgemerkt, nicht von einem Autorenkollektiv erarbeitet wurde, sondern von einem Berliner Germanistikprofessor, solo, ohne drittmittelfinanzierte Hilfskraftscharen.
Mit diesem Band, mit den beiden zusammengehörenden Bänden, die die deutsche Literatur zwischen 1870 und 1918 umfassen und vermessen, eine Epoche von nicht wieder erreichter Vielfalt, Fülle und Farbigkeit der Personen und Werke, hat sich, Peter Sprengel sei Dank, die ärmliche Magd Literaturgeschichte ihrer Lumpen entledigt und steht glänzend rehabilitiert da. Ein Wunsch nur bleibt offen: eine preiswerte Sonderausgabe wäre diesem fulminanten Kompendium für die Zukunft zu wünschen.
JENS MALTE FISCHER
PETER SPRENGEL: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. C. H. Beck Verlag, München 2004. 937 S., 49,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Souverän erneuert Peter Sprengel die Literaturgeschichte
Vor fast 100 Jahren, 1911, erschien eine Literaturgeschichte, wie es sie vorher nicht gegeben hatte. Unter dem Titel „Dichtung und Dichter der Zeit” wurde ein Überblick über die deutsche Literatur der letzten drei Jahrzehnte gegeben, eines Zeitraums, an den sich die germanistische Zunft zuvor nicht wirklich herangewagt hatte. Mit zahlreichen ausführlichen Textproben und üppiger Bebilderung hatte der Chemnitzer Privatgelehrte Albert Soergel einen neuen Typus Literaturgeschichte kreiert, was ihm durch einen ungewöhnlichen Erfolg vergolten wurde - 1925 ließ er einen zweiten Teil zum Expressionismus folgen.
Peter Sprengel verweist im Vorwort zu seiner Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur zwischen Jahrhundertwende und dem Ende des Ersten Weltkriegs ausdrücklich auf Soergel, dessen Projekt das seine, was Umfang und Anspruch betrifft, ähnelt, wenn ihm auch dessen subjektivistisch-hymnischer Ton völlig fehlt. Der erste Band seines ehrgeizigen und voluminösen Unternehmens erschien 1998 und umfasste die Literatur zwischen 1870 und 1900. Beide Bände zusammengenommen, nebenbei auch noch Teilbände der „Geschichte der deutschen Literatur” des C. H. Beck-Verlags, sind, das sei sogleich konstatiert, ein großer Wurf, eine glorreiche restitutio in integrum der so oft totgesagten, zumindest kleingeredeten Literaturgeschichte.
Wer die Nase voll hat von allen Methodendiskussionen früherer und von allen De-, Re- und Neukonstruktionen literaturtheoretischer Wechselbälger und -bäder jüngerer Zeiten, der wird sich hier aus der Lektüre des „Sprengel”, wie man künftig sagen wird müssen (so wie man früher vom „Soergel” sprach) neu gestärkt erheben.
Wie schon im ersten Band hat sich Sprengel für eine Gliederung entschieden, die sich nicht an Schulen, Richtungen und Stiloberbegriffen orientiert, sondern vermeintlich traditioneller an den guten alten Gattungen Erzählprosa, Dramatik und Lyrik (dies ist übrigens auch bereits die Gliederung bei Soergel), mit gutem Grund die Gattung „Nichtfiktionale Prosa” hinzufügend und im hier speziellen Fall ein abschließendes Kapitel „Literatur im Weltkrieg” anhängend, das zu den Glanzstücken des Buches gehört. Voran geht das „Porträt einer Epoche”, dem das Kunststück gelingt, auf knapp 150 Seiten die wesentlichen Tendenzen des Zeitalters zu bündeln und zu analysieren, und wer auf seine Stile und Richtungen nicht ganz verzichten möchte, der kommt hier auf seine (knappen) Kosten. Innerhalb der Gattungskapitel wählt Sprengel den einleuchtenden Weg, sich an den nationalen und regionalen Unterschieden innerhalb der deutschsprachigen Literatur zu orientieren, denn wer wollte bestreiten, dass die Berliner Moderne um 1900 oder um 1910 etwas anderes ist als die gleichzeitige Wiener Moderne.
Kurios (und das gibt auch Sprengel selbst zu) wirkt sich die Konsequenz aus, der Schweiz jeweils ein eigenes Kapitel zuzugestehen: schon bei der Erzählprosa muss Robert Walser die helvetische Ehre nahezu allein auf seine schmalen Schultern wuchten, in der Dramatik muss er auf zwei Seiten völlig vereinsamt den Rütli-Schwur leisten, und im Abschnitt Lyrik ist die Schweiz gänzlich abhanden gekommen - Robert Walser musste hier passen. Ansonsten aber bewährt sich das Gliederungsprinzip durchaus, und es bewährt sich vor allem der angesichts der gewaltigen Stoffmassen nur zu bewundernde weite Blick und die Sicherheit, ja Souveränität des Urteils.
Welcher Autor einer noch so umfangreichen Literaturgeschichte würde sich nicht gruseln vor der Aufgabe, die Bedeutung Kafkas anhand des Kernbestandes seines Werks auf 26 Seiten darzustellen? Sprengel hat es gewagt, und es ist ihm gelungen. Aber nicht nur das wird man diesem Buch hoch anzurechnen haben. Zum ersten Mal haben wir eine deutsche Literaturgeschichte dieses Zeitraums, in der die Bedeutung von Karl Kraus ebenso klar erkannt wie angemessen beschrieben ist, und das betrifft nicht nur die adäquate Darstellung seines inkommensurablen Weltkriegsdramas „Die letzten Tage der Menschheit”, sondern auch den Lyriker, Essayisten und Polemiker Kraus.
Zum ersten Mal auch wird in einem Werk dieses Zuschnitts der Rang des Erzählers Eduard von Keyserling angemessen gewürdigt. Eine Fundgrube besonderer Art ist der Abschnitt über die nichtfiktionale Prosa: Georg Simmel, Walther Rathenau, die Theaterkritiker Alfred Kerr und Siegfried Jacobsohn, die Briefkultur eines Hofmannsthal und Rilke, Kulturkritik und Biographik - nichts entgeht dem enzyklopädischen Blick Peter Sprengels. Und vor allem: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat” - dieses Buch nimmt Grillparzers Diktum aus dem „Armen Spielmann” ernst.
Reichtum ohne Drittmittel
Welch ein Reichtum an nur scheinbar Entlegenem wird hier ausgebreitet: Die phantastische und die Horror-Literatur werden konzis dargestellt - Hanns Heinz Ewers, Alfred Kubin und Gustav Meyrink erhalten den ihrem Erfolg und ihrer zeittypischen Signatur entsprechenden Platz. Das frühe Kino mit seiner Ausstrahlungskraft auf die Literaten wird ebenfalls berücksichtigt, aber auch vor dem klassischen Pornographicon „Josefine Mutzenbacher”, sei es nun von Felix Salten, also die Kehrseite von „Bambi”, oder nicht, zeigt der Germanist Sprengel keine Berührungsängste.
Überall besticht sein weitgehend nüchterner Ton, immer wieder von milder Ironie vitalisiert und lesbar weit über den Kreis der Fachleute hinaus. In erstaunlich vielen Fällen regt die Lektüre zu überprüfenden Überlegungen an: Haben wir die Qualität von Max Brods Frühwerk bisher völlig übersehen, hat Robert Müller es verdient, dass er nach wie vor eine obskure Randfigur ist?
Auch bei rund 900 Seiten kann es nicht anders sein, als dass der Leser an manchen, durchaus seltenen Stellen seine eigenen Präferenzen und Werturteile nicht ausreichend repräsentiert sieht: den Lyriker Rudolf Borchardt, denn doch eine säkulare Erscheinung, auf ebenso drei Seiten behandelt zu finden wie die deutlich bescheidenere Figur Alfred Lichtensteins, das schmerzt, und Arthur Schnitzlers Dramen „Das weite Land” und „Professor Bernhardi” hat Sprengel in ihrem Rang nicht zur Gänze erkannt; aber solche Monita verblassen gegenüber der respekteinflößenden Gesamtleistung, die, wohlgemerkt, nicht von einem Autorenkollektiv erarbeitet wurde, sondern von einem Berliner Germanistikprofessor, solo, ohne drittmittelfinanzierte Hilfskraftscharen.
Mit diesem Band, mit den beiden zusammengehörenden Bänden, die die deutsche Literatur zwischen 1870 und 1918 umfassen und vermessen, eine Epoche von nicht wieder erreichter Vielfalt, Fülle und Farbigkeit der Personen und Werke, hat sich, Peter Sprengel sei Dank, die ärmliche Magd Literaturgeschichte ihrer Lumpen entledigt und steht glänzend rehabilitiert da. Ein Wunsch nur bleibt offen: eine preiswerte Sonderausgabe wäre diesem fulminanten Kompendium für die Zukunft zu wünschen.
JENS MALTE FISCHER
PETER SPRENGEL: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. C. H. Beck Verlag, München 2004. 937 S., 49,90 Euro.
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