Das Handbuch der Familie spricht ein Machtwort über die Liebe
Von den Wohnverhältnissen über die Eßgewohnheiten bis zu Erziehungsstrategien: Die europäische Kernfamilie hat ein Handbuch erhalten. Ein interessanter Befund sticht bei dieser breit angelegten, von kundigen Autoren für Antike, Mittelalter und Neuzeit gesondert beschriebenen "Geschichte der Familie" heraus: Der häufig angenommene Wandel von der "Vernunftehe" zur "Liebesehe" als historisch dingfest zu machender Paradigmenwechsel hat in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden.
Andreas Gestrich, der die Familie der Neuzeit schildert, hält es für sinnlos, gleichsam einen historischen Anfang der Partnerliebe zu suchen. Denn die Vorstellung von Liebe als einer gewissermaßen lange verborgenen oder unterdrückten Fähigkeit menschlichen Fühlens, die historisch zu einem bestimmten Zeitpunkt "befreit" worden sei, übersehe die Tatsache, daß "Emotionen wie Liebe kulturell wandelbare Konstruktionen sozialer Beziehungen" seien. Eine Sicht der Liebe, die ihr einen festen, unwandelbaren Kern zuzuschreiben versuche, verfehle gerade die kulturgeschichtlich wichtige Aufgabe, nach dem Wandel dieses Gefühls zu fragen. "Liebe" als emotionales Kriterium der Partnerwahl, so Gestrich, "findet sich sicher nicht erst seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert". Er weist darauf hin, daß Emotionen und materielle Interessen keinen Gegensatz darstellen müssen. O Wahnsinn des Gefühls, wie es kommt und geht, bald hier auftaucht, bald dort! In der Sprache des Sozialhistorikers Gestrich, der vielfältig an die "Geschichte des privaten Lebens" von Philippe Ariès anknüpft, liest sich dies so: "Emotionen sind vielmehr eingelagert in vielschichtige Prozesse des sozialen Austauschs und der gegenseitigen materiellen und sozialen Abhängigkeit."
Das heißt: Was aus Vernunft begann, kann in Liebe enden - und umgekehrt. Gestrich fordert, hinter die sprachliche Codierung von Liebe zu schauen: "Es ist ebenso irreführend, die Abwesenheit materieller Interessen anzunehmen, wenn in bürgerlichen Werberitualen des 19. und 20. Jahrhunderts nur von Liebe die Rede ist, wie es falsch wäre, von der Betonung primär materieller Interessen bei der bäuerlichen Partnerwahl der frühen Neuzeit auf die Abwesenheit emotionaler Beziehungsstrukturen zu schließen." Nun ist es also auch historisch beglaubigt: Wo die Liebe hinfällt, haben weder Bürger noch Bauer in der Hand.
CHRISTIAN GEYER
Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause, Michael Mitterauer: "Geschichte der Familie". Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2003. 750 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
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