Diese Einführung bietet erstmals einen geschichtlichen Überblick über die europäische Genremalerei des 15. bis 17. Jahrhunderts.Aus dem Inhalt: Arbeit und existienzielle Not; Landwirtschaftliche Tätigkeiten; Handwerk und Gewerbe; Künstlerische Arbeit; Manufaktur und Verlagswesen; Montanwesen; Armut und Bettelwesen; Markt und Mobilität; Handel und Verkauf; Geld und Kredit; Verkehr und Reisen; Individuelle und kollektive Lebensführung; Eheschließung; Geburt; Familie; Mahlzeiten; Die Rolle der Hausmutter; Das Verhältnis von Mutter und Kind; Das Verhältnis der Hausmutter zum Gesinde; Erotik und Sexualität; Festkultur und Karneval; Spiele; Alte und neue Wissenschaft; Die Kunst des Wahrsagens
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2004Vermeer mit blauem Auge
Norbert Schneider rächt die Unterdrückten in der Genremalerei
Der Kunsthistoriker Norbert Schneider hat eine besondere Neigung zu gattungsspezifischen Untersuchungen. Er schreibt - in der Terminologie der Kunstakademien des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts - "Bücher nach Fächern". Nach dem Stilleben, dem Porträt und der Landschaftsmalerei hat er sich jetzt der Genremalerei verschrieben. Nach einem konzisen Forschungsüberblick im Vorwort formuliert Schneider seine eigene Vorgehensweise, die sich nicht auf die Behandlung der gemeinhin mit der Gattung assoziierten niederländischen Genreszenen beschränken möchte, sondern gesamteuropäisch ansetzt.
Dies gelingt aber gerade im Falle Italiens nur, indem Schneider Bilder unter das Genre subsumiert, auf denen alltagsrelevante Handlungen wie Verlobungen oder Eheschließungen dargestellt sind. Anders ist es schwer zu erklären, wieso biblische Historien wie Lorenzettis Geburt Mariens, Raffaels Sposalizio oder Veroneses Hochzeit zu Kana hier unter dem Rubrum Genre verhandelt werden. Unterteilt nach den Sphären der Produktion (Landwirtschaft, Handwerk, Manufaktur, Armut, Bettelwesen), der Distribution (Handel, Geld, Reisen) und der Reproduktion (Familie, Ehe, Geburt, Sexualität, Feste, Spiele, Wissenschaft), werden in lockerer Folge einzelne Bilder vorgestellt, auf denen frühneuzeitliche Alltagshandlungen der einzelnen Kategorien gezeigt ist. Schneiders Stärke ist hierbei die Aufschlüsselung vieler interessanter realienkundlicher und sozialhistorischer Details.
Dieser fruchtbare Ansatz der Verbindung von Kunstbetrachtung mit Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte dient allerdings nur einem recht vordergründigen Zweck: zu zeigen, "wie im Alltag das Wert- und Normengefüge der feudalen Institutionen schrittweise umgeschichtet wurde". Feudalismus und Staatsgewalt sind nach Schneider per se zu verurteilen, da sie danach streben, die niederen Klassen sozial zu disziplinieren, zu kontrollieren und damit zu unterdrücken. Methodisch siedelt sich Schneider als Rächer der Enterbten in einem merkwürdigen Gemisch aus Eliasscher Zivilisationstheorie und Foucaultscher Ideologiekritik an - wobei letzterer erstaunlicherweise nicht einmal im Literaturverzeichnis zu finden ist und auch in den entscheidenden Passagen, in denen der Autor die Kriminalisierung von Demenz in der frühneuzeitlichen Gesellschaft anprangert, nicht genannt wird.
In diesem simplen Gesellschaftsmodell normativer Überformung von oben bleibt dem geknechteten kleinen Mann neben der dumpfen Resignation nur das Aufbegehren mit freilich sehr eingeschränkten Mitteln. Richard van Dülmen, Schneiders Hauptgewährsmann für die Widerständigen in der Alltagsgeschichte der Frühen Neuzeit, hatte ja immerhin noch an eine zunehmende Emanzipation des Individuums geglaubt. Schneiders Teleologie hingegen ist eine zutiefst negative: Mit fortschreitender Lektüre fragt sich der Leser immer häufiger, wer eigentlich dieser ominöse "man" ist, der den Druck von oben auf die armen niederen Stände immer mehr verstärkt.
Wer ist es, der da seinen bösen Weltplan Schritt für Schritt, gnadenlos und intentional abgefeimt, durchsetzt? Schneider gibt die Antwort selbst: Die obrigkeitlichen Ordnungssysteme von Staat und Kirche haben "seit dem Spätmittelalter" ein Interesse daran, durch alle erdenklichen oktroyierten Normen und Rechtsinstrumente das gesamte Alltagsgeschehen und insbesondere die Geschlechterbeziehungen einer permanenten öffentlichen Kontrolle zu unterziehen. "Auf diese Weise hoffte man, die aufgrund ökonomischer Transformationsprozesse komplexer gewordenen Sozialstrukturen und die sich daraus ergebenden Rechtsprobleme in den Griff zu bekommen." Der Staat legt die Rollenmuster innerhalb der Familie mit Hilfe von Bildern fest, die allein zum Zwecke dieser Normdurchsetzung zirkulieren.
Dieser kritische Impetus wäre durchaus zu begrüßen, wenn er nicht derart ideologisch daherkäme. Vor allem stellt sich die Frage, welche Funktion der Kunst in diesem alltäglichen Aufeinanderprallen von guten Armen und bösen Besitzenden zukommt. Erwartungsgemäß - und noch verstärkt durch die "niedere Gattung" des Genres - bleiben der Malerei nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder bildet sie penibel Alltagsrealität ab, dient damit dokumentarischen Zwecken und liefert Belege für Schneiders Thesen. Oder aber sie popularisiert die von oben oktroyierten Normen durch beschönigende Darstellung und übt damit den gewünschten Habitus effizient ein.
Dem Künstler, der problematischerweise selbst zu den Eliten gehört, muß in diesem Modell seine Autonomie möglichst weit entzogen werden. Daß er ästhetischen Fragen nachgehen könnte, ist nicht vorgesehen - so ist das einzige Zugeständnis, das Schneider Georges de la Tour macht, daß dieser in seinem Bild "Das Neugeborene" jansenistisches Gedankengut illustrieren darf. Gut ist der Künstler nur dann, wenn er mit den armen Bevölkerungsschichten sympathisiert. Und wenn trotz der eisenharten Zwangsmechanismen der Triebunterdrückung inkriminierte Sujets wie zum Beispiel die "Lockere Gesellschaft" weiterhin auf Bildern dargestellt werden, kann dies nur einem kollektiven kompensatorischen Interesse am Verdrängten entspringen.
So verhilft diese klassenkämpferische Sicht auf die Kunst Norbert Schneider praktischerweise auch zu einem zweifelsfreien Qualitätskriterium: Schlechte Künstler bequemen sich den herrschenden Verhältnissen an und malen eine heile Welt des kleinen Glücks, die herrschaftsstabilisierend wirkt. Gute Künstler hingegen bedienen sich satirischer oder realistisch-abbildender Mittel der Gesellschaftskritik, sie löcken wider den Stachel staatlicher Zwangsgewalt und sexueller Einschränkungen. Vermeer beispielsweise kann sich glücklich schätzen, in diesem Urteilsmuster gerade noch mit einem blauen Auge davonzukommen. Denn seine Frauen sind so gegeben, daß sie - von außerehelichen Kavalieren zum Weingenuß gedrängt oder mit Liebesbriefen becirct - zumindest ansatzweise in ambivalente Gefühlsregungen versetzt werden, die andeuten, daß sie der Erwiderung zarter, vorsichtig an den Ehefesseln rüttelnder Gefühle nicht gänzlich abgeneigt sind. Die Note für diesen Künstler lautet also "voll befriedigend", denn es hat den Anschein "daß Vermeer diese gesellschaftliche Ächtungs- und Diskriminierungstendenz", die den Ehebruch sanktioniert, "nicht, jedenfalls nicht eindeutig, unterstützt, vielmehr die Legitimität der Artikulation eines libidinösen Verlangens, das durch die strenge asketische Ehemoral ständig unterdrückt wurde, anerkennt".
CHRISTINE TAUBER
Norbert Schneider: "Geschichte der Genremalerei". Die Entdeckung des Alltags in der Kunst der Frühen Neuzeit. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2004. 224 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
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Norbert Schneider rächt die Unterdrückten in der Genremalerei
Der Kunsthistoriker Norbert Schneider hat eine besondere Neigung zu gattungsspezifischen Untersuchungen. Er schreibt - in der Terminologie der Kunstakademien des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts - "Bücher nach Fächern". Nach dem Stilleben, dem Porträt und der Landschaftsmalerei hat er sich jetzt der Genremalerei verschrieben. Nach einem konzisen Forschungsüberblick im Vorwort formuliert Schneider seine eigene Vorgehensweise, die sich nicht auf die Behandlung der gemeinhin mit der Gattung assoziierten niederländischen Genreszenen beschränken möchte, sondern gesamteuropäisch ansetzt.
Dies gelingt aber gerade im Falle Italiens nur, indem Schneider Bilder unter das Genre subsumiert, auf denen alltagsrelevante Handlungen wie Verlobungen oder Eheschließungen dargestellt sind. Anders ist es schwer zu erklären, wieso biblische Historien wie Lorenzettis Geburt Mariens, Raffaels Sposalizio oder Veroneses Hochzeit zu Kana hier unter dem Rubrum Genre verhandelt werden. Unterteilt nach den Sphären der Produktion (Landwirtschaft, Handwerk, Manufaktur, Armut, Bettelwesen), der Distribution (Handel, Geld, Reisen) und der Reproduktion (Familie, Ehe, Geburt, Sexualität, Feste, Spiele, Wissenschaft), werden in lockerer Folge einzelne Bilder vorgestellt, auf denen frühneuzeitliche Alltagshandlungen der einzelnen Kategorien gezeigt ist. Schneiders Stärke ist hierbei die Aufschlüsselung vieler interessanter realienkundlicher und sozialhistorischer Details.
Dieser fruchtbare Ansatz der Verbindung von Kunstbetrachtung mit Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte dient allerdings nur einem recht vordergründigen Zweck: zu zeigen, "wie im Alltag das Wert- und Normengefüge der feudalen Institutionen schrittweise umgeschichtet wurde". Feudalismus und Staatsgewalt sind nach Schneider per se zu verurteilen, da sie danach streben, die niederen Klassen sozial zu disziplinieren, zu kontrollieren und damit zu unterdrücken. Methodisch siedelt sich Schneider als Rächer der Enterbten in einem merkwürdigen Gemisch aus Eliasscher Zivilisationstheorie und Foucaultscher Ideologiekritik an - wobei letzterer erstaunlicherweise nicht einmal im Literaturverzeichnis zu finden ist und auch in den entscheidenden Passagen, in denen der Autor die Kriminalisierung von Demenz in der frühneuzeitlichen Gesellschaft anprangert, nicht genannt wird.
In diesem simplen Gesellschaftsmodell normativer Überformung von oben bleibt dem geknechteten kleinen Mann neben der dumpfen Resignation nur das Aufbegehren mit freilich sehr eingeschränkten Mitteln. Richard van Dülmen, Schneiders Hauptgewährsmann für die Widerständigen in der Alltagsgeschichte der Frühen Neuzeit, hatte ja immerhin noch an eine zunehmende Emanzipation des Individuums geglaubt. Schneiders Teleologie hingegen ist eine zutiefst negative: Mit fortschreitender Lektüre fragt sich der Leser immer häufiger, wer eigentlich dieser ominöse "man" ist, der den Druck von oben auf die armen niederen Stände immer mehr verstärkt.
Wer ist es, der da seinen bösen Weltplan Schritt für Schritt, gnadenlos und intentional abgefeimt, durchsetzt? Schneider gibt die Antwort selbst: Die obrigkeitlichen Ordnungssysteme von Staat und Kirche haben "seit dem Spätmittelalter" ein Interesse daran, durch alle erdenklichen oktroyierten Normen und Rechtsinstrumente das gesamte Alltagsgeschehen und insbesondere die Geschlechterbeziehungen einer permanenten öffentlichen Kontrolle zu unterziehen. "Auf diese Weise hoffte man, die aufgrund ökonomischer Transformationsprozesse komplexer gewordenen Sozialstrukturen und die sich daraus ergebenden Rechtsprobleme in den Griff zu bekommen." Der Staat legt die Rollenmuster innerhalb der Familie mit Hilfe von Bildern fest, die allein zum Zwecke dieser Normdurchsetzung zirkulieren.
Dieser kritische Impetus wäre durchaus zu begrüßen, wenn er nicht derart ideologisch daherkäme. Vor allem stellt sich die Frage, welche Funktion der Kunst in diesem alltäglichen Aufeinanderprallen von guten Armen und bösen Besitzenden zukommt. Erwartungsgemäß - und noch verstärkt durch die "niedere Gattung" des Genres - bleiben der Malerei nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder bildet sie penibel Alltagsrealität ab, dient damit dokumentarischen Zwecken und liefert Belege für Schneiders Thesen. Oder aber sie popularisiert die von oben oktroyierten Normen durch beschönigende Darstellung und übt damit den gewünschten Habitus effizient ein.
Dem Künstler, der problematischerweise selbst zu den Eliten gehört, muß in diesem Modell seine Autonomie möglichst weit entzogen werden. Daß er ästhetischen Fragen nachgehen könnte, ist nicht vorgesehen - so ist das einzige Zugeständnis, das Schneider Georges de la Tour macht, daß dieser in seinem Bild "Das Neugeborene" jansenistisches Gedankengut illustrieren darf. Gut ist der Künstler nur dann, wenn er mit den armen Bevölkerungsschichten sympathisiert. Und wenn trotz der eisenharten Zwangsmechanismen der Triebunterdrückung inkriminierte Sujets wie zum Beispiel die "Lockere Gesellschaft" weiterhin auf Bildern dargestellt werden, kann dies nur einem kollektiven kompensatorischen Interesse am Verdrängten entspringen.
So verhilft diese klassenkämpferische Sicht auf die Kunst Norbert Schneider praktischerweise auch zu einem zweifelsfreien Qualitätskriterium: Schlechte Künstler bequemen sich den herrschenden Verhältnissen an und malen eine heile Welt des kleinen Glücks, die herrschaftsstabilisierend wirkt. Gute Künstler hingegen bedienen sich satirischer oder realistisch-abbildender Mittel der Gesellschaftskritik, sie löcken wider den Stachel staatlicher Zwangsgewalt und sexueller Einschränkungen. Vermeer beispielsweise kann sich glücklich schätzen, in diesem Urteilsmuster gerade noch mit einem blauen Auge davonzukommen. Denn seine Frauen sind so gegeben, daß sie - von außerehelichen Kavalieren zum Weingenuß gedrängt oder mit Liebesbriefen becirct - zumindest ansatzweise in ambivalente Gefühlsregungen versetzt werden, die andeuten, daß sie der Erwiderung zarter, vorsichtig an den Ehefesseln rüttelnder Gefühle nicht gänzlich abgeneigt sind. Die Note für diesen Künstler lautet also "voll befriedigend", denn es hat den Anschein "daß Vermeer diese gesellschaftliche Ächtungs- und Diskriminierungstendenz", die den Ehebruch sanktioniert, "nicht, jedenfalls nicht eindeutig, unterstützt, vielmehr die Legitimität der Artikulation eines libidinösen Verlangens, das durch die strenge asketische Ehemoral ständig unterdrückt wurde, anerkennt".
CHRISTINE TAUBER
Norbert Schneider: "Geschichte der Genremalerei". Die Entdeckung des Alltags in der Kunst der Frühen Neuzeit. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2004. 224 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine sorgfältige Arbeit und ein simpler Gedanke - allzu simpel, findet die Rezensentin Christine Tauber. Denn Norbert Schneiders "Geschichte der Genremalerei" stelle diese als einen bloßen Spiegel gesellschaftlicher Werte der Frühen Neuzeit dar - die Ästhetik wird der "Aussage" untergeordnet, und die ist entweder affirmativ im Sinne der Herrschenden oder formuliere einen Widerstand gegen die herrschende Ordnung. Nun hat die Rezensentin gar nichts dagegen, Kunstgeschichte mit Sozialgeschichte zu verbinden, auch die machtkritische Perspektive stört sie nicht per se, aber: Ein bisschen komplizierter sei die Sache ja dann doch als Schneider sie aus seiner "klassenkämpferische Sicht" darstelle. Von wegen: "Schlechte Künstler bequemen sich den herrschenden Verhältnissen an und malen eine heile Welt des kleinen Glücks, die herrschaftsstabilisierend wirkt. Gute Künstler hingegen bedienen sich satirischer oder realistisch- abbildender Mittel der Gesellschaftskritik". Ideologiekritik ideologisch - das kann's nicht sein, meint Tauber.
© Perlentaucher Medien GmbH
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