Im Jahrhundert der Flüchtlinge setzte sich erst weit nach 1945 eine internationale Flüchtlingspolitik mit globalem Ausmaß durch.Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Flüchtlinge, in dem Millionen Menschen aufgrund von Krieg, Gewalt und Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten. Mit den Fluchtbewegungen entstand das System der internationalen Flüchtlingshilfe. Es setzte sich die Vorstellung durch, dass es die Aufgabe der Staatengemeinschaft sei, Geflüchtete zu unterstützen und dafür leistungsfähige Strukturen aufzubauen. Bis in die späten 1950er-Jahre glaubte die Staatengemeinschaft jedoch, das massive Fluchtgeschehen sei ein vorübergehendes Problem, das nur Europa betreffe. Das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) war daher zunächst eine kleine Behörde mit wenig Einfluss.Jakob Schönhagen schildert eingehend, wie seit den 1960er-Jahren schrittweise und gegen viele Widerstände eine internationale Flüchtlingspolitik entstand, die weltweit ausgerichtet war - mit den Flüchtlingskrisen in Algerien und Bangladesch als den entscheidenden Stationen. Der Autor rekonstruiert ebenso, welche Folgen dieser späte Entstehungsprozess bis heute hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2023Vom Provisorium zur Daueraufgabe
Der Weg zu einer internationalen Flüchtlingspolitik war lang und verschlungen. Ein Historiker zeichnet ihn nach.
Von Julia Anton
Magdalena Reiswich floh 1944. Als "Volksdeutsche" hatte sie mit ihrer Familie in einem Dorf nahe Odessa gelebt. Doch allmählich zeichnete sich die Niederlage der Wehrmacht ab, die Gewalt gegen deutsche Minderheiten nahm zu. Also machte sich Reiswich auf Richtung Westen, über Ungarn ins deutsch besetzte Polen, später weiter nach Brandenburg - mehr als 1500 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Bis Ende des Jahrzehnts wurden allein aus Ostmitteleuropa mehr als zwölf Millionen Menschen vertrieben.
Durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen verloren insgesamt mehr Menschen ihre Heimat als durch jedes andere Ereignis zuvor. Die internationale Staatengemeinschaft setzte deshalb auf eine gemeinsame Kraftanstrengung: Sie gründeten Organisationen, die die Krise möglichst rasch lösen und die Opfer von Vertreibung nach dem Krieg in ihre Heimat zurückbringen oder in anderen Staaten ansiedeln sollten. Das Problem mit den Flüchtlingen in Europa, so war man überzeugt, war ein vorübergehendes, das man nur ein für alle mal beseitigen müsste, um eine stabile Nachkriegsordnung zu schaffen. Der Auftrag der Organisationen war deshalb zeitlich begrenzt. Auch das Amt der hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), das 1951 gegründet wurde, war zu Beginn nur eine kleine Behörde ohne großen Einfluss. Heute ist es die größte humanitäre Organisation der Welt. Doch der Weg dorthin war lang.
Der Historiker Jakob Schönhagen hat sich der Frage gewidmet, wie, warum und unter welchen Bedingungen die Flüchtlingsproblematik schließlich als globales Problem wahrgenommen wurde, das auch nur mit einer globalen Politik zu lösen ist. Dazu hat er die Antriebskräfte der internationalen Flüchtlingspolitik analysiert, ihre konkrete politische und institutionelle Ausformung sowie die Flüchtlingshilfe in der Praxis. Geforscht hat er unter anderem in den Nationalarchiven der USA, Großbritanniens, Indiens und Frankreichs. Schönhagen, 1989 geboren, arbeitet am Historischen Seminar an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Sein Buch "Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik 1945 - 1975" ist die überarbeitete Fassung einer Studie, die 2021 an der dortigen Philosophischen Fakultät als Dissertation angenommen wurde.
Schönhagen beschreibt, wie in den Nachkriegsjahren, in denen viele Menschen auf der Flucht waren, stets vermieden wurde, dauerhafte Strukturen zu etablieren. Notprogramme für Flüchtlinge in Korea und Palästina wurden ausgelagert, Flüchtlingshilfe drehte sich vor allem um Menschen auf dem europäischen Kontinent und jene, die vor dem Kommunismus flohen. Die Stellung der Flüchtlingspolitik wurde durch geopolitische Fragen mitbestimmt.
Das änderte sich erst um 1960, obwohl zu dieser Zeit insgesamt deutlich weniger Menschen auf der Flucht waren als in den Jahren zuvor. Als entscheidende Station macht Schönhagen die Flüchtlingskrise in Algerien aus, wo die französische Armee einen blutigen Krieg gegen die Nationale Befreiungsfront führte. Mehr als 300.000 Menschen flohen nach Tunesien und Marokko. Beide Länder waren selbst erst wenige Jahre zuvor unabhängig von der Kolonialmacht geworden und den Vereinten Nationen beigetreten, wo sie nun den UNHCR um Hilfe anfragten. Die Behörde hatte gerade erst erfolgreich 200.000 Flüchtlinge aus Ungarn binnen eines Jahre auf westliche Länder verteilt. Nun forderte ein tunesischer Diplomat für sein Land das Gleiche - und forderte die Staatengemeinschaft so heraus. Schließlich flohen die Menschen dieses Mal nicht vom Osten in den Westen, sondern vor einem westlichen Staat. Letztlich zwangen die Solidaritätsbekundungen arabischer, asiatischer, afrikanischer und Staaten des Ostblocks den Westen zum Handeln, ein diplomatischer Drahtseilakt. Dennoch: Das Bild vom Flüchtling als Europäer und Kommunismusopfer wandelte sich. Der Westen reagierte mit einer Entpolitisierung des Diskurses. Statt der Fluchtursachen wurde zunehmend das Leid der einzelnen Gruppen in der Vordergrund gerückt. Der UNHCR wurde in eine "unpolitische" Notfalleinheit umgewandelt, der humanitäre Ansatz gestärkt - sein Aufgabenbereich aber eben, wenn auch erst nach langwieriger Debatte, dauerhaft ausgedehnt. Der visionäre Gedanke der Nachkriegszeit, das Flüchtlingsproblem vollständig lösen zu können, wurde aufgegeben, stattdessen akzeptierte man, dass es auf der Welt stets Fluchtgeschehen geben würde. Wenn man sie schon nicht verhindern konnte, wolle man die Not wenigstens lindern. Dafür setzte der UNHCR in den folgenden Jahren auch auf drastische Bilder, um nicht nur in der Politik, sondern auch in der Zivilgesellschaft um Engagement zu werben. Die Auslegung der Rechte von Flüchtlingen blieb durch die historisch gewachsenen Strukturen dennoch situations- und kontextabhängig - und ist es auch heute noch.
Schönhagen geht bei seiner Analyse in die Tiefe und zeichnet dabei ein umfassendes Bild der komplexen Ereignisse, die die internationale Flüchtlingspolitik in dieser Zeit prägten. Er macht auch deutlich, welche Folgen dieser Entstehungsprozess bis heute hat. Für den Leser ist das durchaus herausfordernd, denn dieser Prozess war, wie der Autor deutlich macht, keineswegs geradlinig und immer wieder von Widersprüchen wie Rückschritten geprägt. Hilfreich sind die Geschichten über Einzelne, die das politische Geschehen greifbar machen: Magdalena Reiswich etwa verlor bei einem Bombenangriff auf Brandenburg an der Havel ihre Mutter und ihre Geschwister. Sie und selbst und ihr Vater wurden nach Kriegsende in die Ukraine repatriiert, galten jedoch als Kollaborateure und mussten Zwangsarbeit im Ural verrichten. Erst 1974 konnte Reiswich in die Bundesrepublik ausreisen.
Was also lässt sich lernen aus den beschwerlichen Anfängen internationaler Flüchtlingspolitik, in denen es oft weniger um die Schicksale der Notleidenden ging als um die Anliegen der Aufnahmegesellschaften? Schönhagens Fazit fällt erstaunlich optimistisch aus: "Flüchtlingspolitik ist das Produkt politischer Aushandlungsprozesse, ihr Charakter grundsätzlich wandelbar", schreibt er. "Vielleicht gibt das Anlass zur Hoffnung."
Jakob Schönhagen: Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik 1945 - 1975.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 432 S., 46,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Weg zu einer internationalen Flüchtlingspolitik war lang und verschlungen. Ein Historiker zeichnet ihn nach.
Von Julia Anton
Magdalena Reiswich floh 1944. Als "Volksdeutsche" hatte sie mit ihrer Familie in einem Dorf nahe Odessa gelebt. Doch allmählich zeichnete sich die Niederlage der Wehrmacht ab, die Gewalt gegen deutsche Minderheiten nahm zu. Also machte sich Reiswich auf Richtung Westen, über Ungarn ins deutsch besetzte Polen, später weiter nach Brandenburg - mehr als 1500 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Bis Ende des Jahrzehnts wurden allein aus Ostmitteleuropa mehr als zwölf Millionen Menschen vertrieben.
Durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen verloren insgesamt mehr Menschen ihre Heimat als durch jedes andere Ereignis zuvor. Die internationale Staatengemeinschaft setzte deshalb auf eine gemeinsame Kraftanstrengung: Sie gründeten Organisationen, die die Krise möglichst rasch lösen und die Opfer von Vertreibung nach dem Krieg in ihre Heimat zurückbringen oder in anderen Staaten ansiedeln sollten. Das Problem mit den Flüchtlingen in Europa, so war man überzeugt, war ein vorübergehendes, das man nur ein für alle mal beseitigen müsste, um eine stabile Nachkriegsordnung zu schaffen. Der Auftrag der Organisationen war deshalb zeitlich begrenzt. Auch das Amt der hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), das 1951 gegründet wurde, war zu Beginn nur eine kleine Behörde ohne großen Einfluss. Heute ist es die größte humanitäre Organisation der Welt. Doch der Weg dorthin war lang.
Der Historiker Jakob Schönhagen hat sich der Frage gewidmet, wie, warum und unter welchen Bedingungen die Flüchtlingsproblematik schließlich als globales Problem wahrgenommen wurde, das auch nur mit einer globalen Politik zu lösen ist. Dazu hat er die Antriebskräfte der internationalen Flüchtlingspolitik analysiert, ihre konkrete politische und institutionelle Ausformung sowie die Flüchtlingshilfe in der Praxis. Geforscht hat er unter anderem in den Nationalarchiven der USA, Großbritanniens, Indiens und Frankreichs. Schönhagen, 1989 geboren, arbeitet am Historischen Seminar an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Sein Buch "Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik 1945 - 1975" ist die überarbeitete Fassung einer Studie, die 2021 an der dortigen Philosophischen Fakultät als Dissertation angenommen wurde.
Schönhagen beschreibt, wie in den Nachkriegsjahren, in denen viele Menschen auf der Flucht waren, stets vermieden wurde, dauerhafte Strukturen zu etablieren. Notprogramme für Flüchtlinge in Korea und Palästina wurden ausgelagert, Flüchtlingshilfe drehte sich vor allem um Menschen auf dem europäischen Kontinent und jene, die vor dem Kommunismus flohen. Die Stellung der Flüchtlingspolitik wurde durch geopolitische Fragen mitbestimmt.
Das änderte sich erst um 1960, obwohl zu dieser Zeit insgesamt deutlich weniger Menschen auf der Flucht waren als in den Jahren zuvor. Als entscheidende Station macht Schönhagen die Flüchtlingskrise in Algerien aus, wo die französische Armee einen blutigen Krieg gegen die Nationale Befreiungsfront führte. Mehr als 300.000 Menschen flohen nach Tunesien und Marokko. Beide Länder waren selbst erst wenige Jahre zuvor unabhängig von der Kolonialmacht geworden und den Vereinten Nationen beigetreten, wo sie nun den UNHCR um Hilfe anfragten. Die Behörde hatte gerade erst erfolgreich 200.000 Flüchtlinge aus Ungarn binnen eines Jahre auf westliche Länder verteilt. Nun forderte ein tunesischer Diplomat für sein Land das Gleiche - und forderte die Staatengemeinschaft so heraus. Schließlich flohen die Menschen dieses Mal nicht vom Osten in den Westen, sondern vor einem westlichen Staat. Letztlich zwangen die Solidaritätsbekundungen arabischer, asiatischer, afrikanischer und Staaten des Ostblocks den Westen zum Handeln, ein diplomatischer Drahtseilakt. Dennoch: Das Bild vom Flüchtling als Europäer und Kommunismusopfer wandelte sich. Der Westen reagierte mit einer Entpolitisierung des Diskurses. Statt der Fluchtursachen wurde zunehmend das Leid der einzelnen Gruppen in der Vordergrund gerückt. Der UNHCR wurde in eine "unpolitische" Notfalleinheit umgewandelt, der humanitäre Ansatz gestärkt - sein Aufgabenbereich aber eben, wenn auch erst nach langwieriger Debatte, dauerhaft ausgedehnt. Der visionäre Gedanke der Nachkriegszeit, das Flüchtlingsproblem vollständig lösen zu können, wurde aufgegeben, stattdessen akzeptierte man, dass es auf der Welt stets Fluchtgeschehen geben würde. Wenn man sie schon nicht verhindern konnte, wolle man die Not wenigstens lindern. Dafür setzte der UNHCR in den folgenden Jahren auch auf drastische Bilder, um nicht nur in der Politik, sondern auch in der Zivilgesellschaft um Engagement zu werben. Die Auslegung der Rechte von Flüchtlingen blieb durch die historisch gewachsenen Strukturen dennoch situations- und kontextabhängig - und ist es auch heute noch.
Schönhagen geht bei seiner Analyse in die Tiefe und zeichnet dabei ein umfassendes Bild der komplexen Ereignisse, die die internationale Flüchtlingspolitik in dieser Zeit prägten. Er macht auch deutlich, welche Folgen dieser Entstehungsprozess bis heute hat. Für den Leser ist das durchaus herausfordernd, denn dieser Prozess war, wie der Autor deutlich macht, keineswegs geradlinig und immer wieder von Widersprüchen wie Rückschritten geprägt. Hilfreich sind die Geschichten über Einzelne, die das politische Geschehen greifbar machen: Magdalena Reiswich etwa verlor bei einem Bombenangriff auf Brandenburg an der Havel ihre Mutter und ihre Geschwister. Sie und selbst und ihr Vater wurden nach Kriegsende in die Ukraine repatriiert, galten jedoch als Kollaborateure und mussten Zwangsarbeit im Ural verrichten. Erst 1974 konnte Reiswich in die Bundesrepublik ausreisen.
Was also lässt sich lernen aus den beschwerlichen Anfängen internationaler Flüchtlingspolitik, in denen es oft weniger um die Schicksale der Notleidenden ging als um die Anliegen der Aufnahmegesellschaften? Schönhagens Fazit fällt erstaunlich optimistisch aus: "Flüchtlingspolitik ist das Produkt politischer Aushandlungsprozesse, ihr Charakter grundsätzlich wandelbar", schreibt er. "Vielleicht gibt das Anlass zur Hoffnung."
Jakob Schönhagen: Geschichte der internationalen Flüchtlingspolitik 1945 - 1975.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 432 S., 46,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Julia Anton schöpft Hoffnung mit der zum Buch ausgearbeiteten Dissertation des Freiburger Historikers Jakob Schönhagen. Dass Flüchtlingspolitik wandelbar ist im Sinne von Aushandlungsprozessen hält sie für ein bemerkenswert optimistisches Fazit der Studie, die zunächst deutlich macht, dass die Schicksale der Notleidenden eher zweitrangig sind. Den Wandel der Flüchtlingspolitik und ihre Stationen, Brüche und Rückschritte schildert ihr der Autor quellenstark, aber durchaus fordernd. Hilfreich für das Verstehen findet Anton die im Buch dokumentierten Fallgeschichten von Geflüchteten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Schönhagen geht bei seiner Analyse in die Tiefe und zeichnet dabei ein umfassendes Bild der komplexen Ereignisse« (Julia Anton, FAZ, 28.11.2023)