Der Islam hält die Welt in Atem - die zerfallenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die Flüchtlingsströme aus den Kriegsgebieten und der blutige Vormarsch des IS sorgen täglich für neue Schlagzeilen. Doch die Verkürzung des Islam auf Religion plus Terrorismus gehört zu den grundlegenden Irrtümern des Westens. Sie durch ein differenzierteres Bild der islamischen Welt und ihrer unterschiedlichen Gesellschaften zu überwinden, das ist die große Leistung dieses Buches. Reinhard Schulze schildert und erklärt die islamische Geschichte vom Beginn der Entkolonialisierung am Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur dramatischen Situation in unseren Tagen. Er erörtert alle wichtigen politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen und beschränkt sich dabei nicht nur auf den Nahen Osten, sondern geht auch auf die Regionen der islamischen Peripherie ein, wo Millionen von Muslimen leben. Seine glänzende Analyse der Geschehnisse seit dem 11. September 2001 macht vor allem eines deutlich - wir können die Ursachen der heutigen islamischen Mobilisierung nicht verstehen, wenn wir uns nicht mit den historischen Bedingungen vertraut machen, aus denen sie entstanden ist.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es handelt sich hierbei um eine Neuauflage eines bereits erschienen grundlegenden Buchs über Reformbewegungen innerhalb des Islams - ein Standardwerks, wenn man dem Rezensenten Rainer Stephan glaubt. Der Islam habe sich hier sehr wohl als fähig zur Auseinandersetzung mit dem Westen erwiesen, wenn auch vielleicht nur bis zu einem gewissen Grad. Das Buch bedurfte nach der Erstauflage von 1994 einer Neuauflage, die auch auf das Phänomen des islamistischen Terrors eingeht. Der Rezensent sieht diese Extremismen als Folge eines Zerfallsprozesses von Öffentlichkeit, den man in abgeschwächter Form auch aus dem Westen kenne, wo ja ebenfalls mit den Rechtspopulisten neue, die Öffentlichkeit negierende Ideologien entstanden sind. Schuld an dem Schlamassel ist für Schulze einzig und allein der Markt, durch den "der Wert der Bindung als Ressource" in den Hintergrund getreten sei, resümiert der Rezensent, der diese These plausibel zu finden scheint.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2016Islam plus Terror greift zu kurz
Modernisierung zwischen Glauben und Ideologie: Reinhard Schulzes Tiefenbohrung über die islamische Welt kommt zur rechten Zeit.
Fast ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seitdem der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze seine "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert" vorlegte. Er deutete damals die historischen Entwicklungen in jenem Teil der Welt als einen schwierigen Prozess der Modernisierung und nahm damit "Abschied von den Märchenländern" (F.A.Z. vom 26. Oktober 1994). Im Jahre 2002 erschien eine zweite Auflage. Nun hat er sein Werk nochmals ergänzt, erweitert, vertieft und sozusagen "runderneuert".
Denn seit der letzten Publikation hat sich die asymmetrische Konfrontation zwischen den Verfechtern islamischer Ideologien und dem Westen, aber auch in den islamischen Ländern selbst drastisch verschärft. Das afghanische Desaster, der "11. September", der unselige amerikanisch-britische Krieg im Irak im Jahre 2003, der zwar Saddam Hussein stürzte, aber dort ein politisch-religiöses Machtvakuum und Chaos erzeugte, die "Arabellion" - der Arabische Frühling - einschließlich des Schlachtens in Syrien, dessen brutaler Höhepunkt die Schreckensherrschaft des "Islamischen Staates" (IS) ist - dies alles bedarf ergänzender Beschreibung und Analyse. Islam plus Terror greift zu kurz.
Schulzes These von einer "islamischen Modernisierung" und Aufklärung, die - bevor sie recht in Gang kommen konnte - auch durch den Einfluss des Westens zwar irgendwie stimuliert, doch auch behindert und in ganz bestimmter Weise geformt worden sei, blieb unter seinen Kollegen nicht unkritisiert. Andere wiederum, etwa in Frankreich der Islamwissenschaftler Olivier Roy ("L'islam mondialisé, 2002; deutsch: "Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung", 2006), nahmen sie auf und deuteten die jüngsten Verwerfungen im Islam in ebendiesem Sinne - als einen schmerzhaften, zutiefst widersprüchlichen Prozess der Auseinandersetzung mit einer unausweichlichen (Selbst-)Modernisierung und deren hauptsächlich westlicher Vorstellungswelt und den damit verbundenen Begriffen und Denkstilen.
Die Grundstruktur hat der Autor in der neuen Fassung beibehalten. Fünf der ursprünglich sechs Kapitel hat der in Bern lehrende Orientalist um durchschnittlich zwanzig Druckseiten ergänzt, die Überschriften, einschließlich der Überschriften der jeweiligen Unterabschnitte des Buches, blieben weitgehend unverändert: Wie in der ersten und zweiten Fassung bietet Schulze eine durch Aktualisierungen aufgefrischte Tour d'horizon der Geistes-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie der politischen Geschichte der islamischen Länder seit 1900. Das heißt seit dem Ende des Osmanischen Reichs und der - vor allem im Nahen Osten, doch beileibe nicht nur dort, sondern auch in Nordafrika, Indonesien und Mittelasien - massiven kulturellen und politischen "Osmose" durch den Westen, die natürlich auch der seit Bonapartes Ägypten-Feldzug (1798) gepflegten europäischen Machtpolitik und deren "Divide et impera" geschuldet war; über die oft turbulenten Findungsprozesse zwischen religiösem Erwachen und säkularer Erneuerung, eingespannt in den Rahmen eigener ökonomischer Möglichkeiten (Erdöl) und fremder politischer wie wirtschaftlicher Zwänge (Weltwirtschaftskrisen).
Eine "islamische Bürgerlichkeit" entweder säkular gedacht oder religiös gerechtfertigt, bestimmte lange im vorigen Jahrhundert den Diskurs über eine "islamische Welt"; einen Höhepunkt erreichten Begriffe wie "islamische Nation" etwa mit der Revolution Ajatollah Chomeinis in Iran 1979 - in einem vom Islam geprägten Land, das, wie die Türkei, doch im Unterschied zur disparaten arabischen Welt mit heute zwischen einundzwanzig und sechsundzwanzig Staaten, sprachlich und ethnisch einigermaßen homogen war. Es war, nach Schulze, die letzte islamische Sozialutopie, die zu etablieren man unternahm.
Das sechste Kapitel heißt nun "Die Erosion der islamischen Öffentlichkeit" und analysiert ausführlich jene anni horribiles zwischen 1979 und 1989, die nicht umsonst den Aufstieg radikalislamischer bis terroristischer Gruppen brachten, deren "wirkungsvollste" lange Zeit Al Qaida war. Die sowjetische Besetzung Afghanistans und deren gewalttätige Folgen, die Golfkriege, der Bürgerkrieg in Algerien und etliche kleinere Konflikte zertrümmerten sowohl die islamische Öffentlichkeit als auch das Vertrauen in eine zuvor entstandene "islamische Bürgerlichkeit" sowie die Hoffnung auf die säkular ausgerichteten Eliten, die in den Jahrzehnten zuvor geglaubt hatten - unter Einbeziehung mancher islamischer Elemente -, durch social design oder engineering die Gesellschaften erfolgreich entwickeln zu können. Indigene und auswärtige Aktionen wirkten bei diesem Kollaps zusammen. Als Höhepunkt erscheinen die Ereignisse im Irak nach 2003 sowie der nun fünf Jahre währende Krieg in Syrien.
Ein neues, siebtes Kapitel beschäftigt sich mit dem Arabischen Frühling und den Jahren danach. Es fügt sich in das vom Autor errichtete Gerüst gut ein. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Technik, Nation, Kultur, Fortschritt, Zivilisation - dies alles sind Begriffe der Moderne, in deren Kontext sich nach Schulze eine islamische Öffentlichkeit entfaltet hatte, die im zurückliegenden Jahrhundert den Diskurs - eine spezifische "islamische Rede", wie er es nennt - prägte.
Der sichtbarste Ausdruck dieser Modernität war das dem islamischen Orient bis dahin fremde Konzept des Nationalstaates. Die islamische Öffentlichkeit war dadurch andererseits zersplittert in sechsundfünfzig Nationalstaaten, von denen, wie der Autor hervorhebt, einundvierzig mitsamt ihren Grenzen koloniale Neuschöpfungen sind. Die an Diskursen der Moderne geschulte und oft auch ausgerichtete "islamische Rede" veränderte auch manche religiösen Auffassungen. So wurde die Scharia aus einem Komplex überkommener juristischer Entscheidungen aus der Vergangenheit eine "absolute, von Gott bestimmte normative Ordnung, die unabhängig von den Juristen existiere", wie er schon im Vorwort schreibt.
Durch das Internet, das insbesondere seit dem Arabischen Frühling immer wichtiger wurde, entstand aus einer islamischen Öffentlichkeit eine zusätzliche virtuelle Weltöffentlichkeit, die zur Lockerung der schon traditionell gewordenen islamischen Öffentlichkeit und ihres Diskurses ebenfalls beitrug.
Ausführlich wird dieser einstweilen in der Aporie gestrandete Arabische Frühling behandelt, als Resultat des totalen Scheiterns der Eliten. Der Autor betrachtet im Einzelnen Tunesien, Algerien, Ägypten, Libyen, Nigeria, Mali, Mauretanien, den Jemen, Bahrein sowie das Vorspiel im Libanon nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Rafiq al Hariri. Einzig die ölreichen Golf-Monarchien wie Qatar oder die Vereinigten Arabischen Emirate blieben verschont, weil sie noch in der Lage sind, aus dem Ölreichtum erlöste "Renten" (im Sinne des Renten-Kapitalismus) an breite Schichten zu verteilen.
Das Beispiel der türkischen AKP missriet in Ägypten, da die Islamisten nach ihrem Wahlsieg dort keinerlei Unterstützung durch die Wirtschaft erfuhren und nicht bereit waren, pluralistische Strukturen zuzulassen. Ultraislamische Gruppierungen wie Boko Haram, Shabaab oder der IS saugen aus dem Scheitern der Modernisierung und dem Zerfall staatlicher wie gesellschaftlicher Ordnungen und der sie tragenden Normen (Nigeria, Somalia, Libyen, Irak, Syrien) ihren Honig.
Der Autor sieht in seinem Ansatz keineswegs den einzig möglichen. Man kann die jüngere und jüngste Geschichte der "islamischen Welt" auch ideengeschichtlich, anthropologisch, sozialgeschichtlich, feministisch und auf viele andere Weisen darstellen. Ein Desiderat wäre eine Untersuchung jener Entwicklungen, die mit der immer größer werdenden islamischen "Diaspora" in Amerika, Europa oder im südlichen Afrika zusammenhängen. Schulzes Darstellung indes erhellt vieles, was im ewigen Streit um eine tatsächliche oder vermeintliche "westöstliche Weltgegensätzlichkeit" nicht gesehen wird oder zu Unrecht auf der Strecke bleibt. In einer Zeit, da - hervorgerufen durch unbeschreiblichen Terror in aktuellen Krisen-Brennpunkten, aber zunehmend auch in Europa - zahlreiche Publikationen sich zwangsläufig einseitig mit den radikalsten "islamischen" Ideologien befassen, kommt eine solche Tiefenbohrung, die auch die wachsende Interdependenz der Kulturen aufzeigt, wie Schulze sie vorlegt, genau zur rechten Zeit.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Reinhard Schulze: "Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart".
Verlag C. H. Beck, München 2016. 760 S., geb., 34,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Modernisierung zwischen Glauben und Ideologie: Reinhard Schulzes Tiefenbohrung über die islamische Welt kommt zur rechten Zeit.
Fast ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seitdem der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze seine "Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert" vorlegte. Er deutete damals die historischen Entwicklungen in jenem Teil der Welt als einen schwierigen Prozess der Modernisierung und nahm damit "Abschied von den Märchenländern" (F.A.Z. vom 26. Oktober 1994). Im Jahre 2002 erschien eine zweite Auflage. Nun hat er sein Werk nochmals ergänzt, erweitert, vertieft und sozusagen "runderneuert".
Denn seit der letzten Publikation hat sich die asymmetrische Konfrontation zwischen den Verfechtern islamischer Ideologien und dem Westen, aber auch in den islamischen Ländern selbst drastisch verschärft. Das afghanische Desaster, der "11. September", der unselige amerikanisch-britische Krieg im Irak im Jahre 2003, der zwar Saddam Hussein stürzte, aber dort ein politisch-religiöses Machtvakuum und Chaos erzeugte, die "Arabellion" - der Arabische Frühling - einschließlich des Schlachtens in Syrien, dessen brutaler Höhepunkt die Schreckensherrschaft des "Islamischen Staates" (IS) ist - dies alles bedarf ergänzender Beschreibung und Analyse. Islam plus Terror greift zu kurz.
Schulzes These von einer "islamischen Modernisierung" und Aufklärung, die - bevor sie recht in Gang kommen konnte - auch durch den Einfluss des Westens zwar irgendwie stimuliert, doch auch behindert und in ganz bestimmter Weise geformt worden sei, blieb unter seinen Kollegen nicht unkritisiert. Andere wiederum, etwa in Frankreich der Islamwissenschaftler Olivier Roy ("L'islam mondialisé, 2002; deutsch: "Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung", 2006), nahmen sie auf und deuteten die jüngsten Verwerfungen im Islam in ebendiesem Sinne - als einen schmerzhaften, zutiefst widersprüchlichen Prozess der Auseinandersetzung mit einer unausweichlichen (Selbst-)Modernisierung und deren hauptsächlich westlicher Vorstellungswelt und den damit verbundenen Begriffen und Denkstilen.
Die Grundstruktur hat der Autor in der neuen Fassung beibehalten. Fünf der ursprünglich sechs Kapitel hat der in Bern lehrende Orientalist um durchschnittlich zwanzig Druckseiten ergänzt, die Überschriften, einschließlich der Überschriften der jeweiligen Unterabschnitte des Buches, blieben weitgehend unverändert: Wie in der ersten und zweiten Fassung bietet Schulze eine durch Aktualisierungen aufgefrischte Tour d'horizon der Geistes-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie der politischen Geschichte der islamischen Länder seit 1900. Das heißt seit dem Ende des Osmanischen Reichs und der - vor allem im Nahen Osten, doch beileibe nicht nur dort, sondern auch in Nordafrika, Indonesien und Mittelasien - massiven kulturellen und politischen "Osmose" durch den Westen, die natürlich auch der seit Bonapartes Ägypten-Feldzug (1798) gepflegten europäischen Machtpolitik und deren "Divide et impera" geschuldet war; über die oft turbulenten Findungsprozesse zwischen religiösem Erwachen und säkularer Erneuerung, eingespannt in den Rahmen eigener ökonomischer Möglichkeiten (Erdöl) und fremder politischer wie wirtschaftlicher Zwänge (Weltwirtschaftskrisen).
Eine "islamische Bürgerlichkeit" entweder säkular gedacht oder religiös gerechtfertigt, bestimmte lange im vorigen Jahrhundert den Diskurs über eine "islamische Welt"; einen Höhepunkt erreichten Begriffe wie "islamische Nation" etwa mit der Revolution Ajatollah Chomeinis in Iran 1979 - in einem vom Islam geprägten Land, das, wie die Türkei, doch im Unterschied zur disparaten arabischen Welt mit heute zwischen einundzwanzig und sechsundzwanzig Staaten, sprachlich und ethnisch einigermaßen homogen war. Es war, nach Schulze, die letzte islamische Sozialutopie, die zu etablieren man unternahm.
Das sechste Kapitel heißt nun "Die Erosion der islamischen Öffentlichkeit" und analysiert ausführlich jene anni horribiles zwischen 1979 und 1989, die nicht umsonst den Aufstieg radikalislamischer bis terroristischer Gruppen brachten, deren "wirkungsvollste" lange Zeit Al Qaida war. Die sowjetische Besetzung Afghanistans und deren gewalttätige Folgen, die Golfkriege, der Bürgerkrieg in Algerien und etliche kleinere Konflikte zertrümmerten sowohl die islamische Öffentlichkeit als auch das Vertrauen in eine zuvor entstandene "islamische Bürgerlichkeit" sowie die Hoffnung auf die säkular ausgerichteten Eliten, die in den Jahrzehnten zuvor geglaubt hatten - unter Einbeziehung mancher islamischer Elemente -, durch social design oder engineering die Gesellschaften erfolgreich entwickeln zu können. Indigene und auswärtige Aktionen wirkten bei diesem Kollaps zusammen. Als Höhepunkt erscheinen die Ereignisse im Irak nach 2003 sowie der nun fünf Jahre währende Krieg in Syrien.
Ein neues, siebtes Kapitel beschäftigt sich mit dem Arabischen Frühling und den Jahren danach. Es fügt sich in das vom Autor errichtete Gerüst gut ein. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Technik, Nation, Kultur, Fortschritt, Zivilisation - dies alles sind Begriffe der Moderne, in deren Kontext sich nach Schulze eine islamische Öffentlichkeit entfaltet hatte, die im zurückliegenden Jahrhundert den Diskurs - eine spezifische "islamische Rede", wie er es nennt - prägte.
Der sichtbarste Ausdruck dieser Modernität war das dem islamischen Orient bis dahin fremde Konzept des Nationalstaates. Die islamische Öffentlichkeit war dadurch andererseits zersplittert in sechsundfünfzig Nationalstaaten, von denen, wie der Autor hervorhebt, einundvierzig mitsamt ihren Grenzen koloniale Neuschöpfungen sind. Die an Diskursen der Moderne geschulte und oft auch ausgerichtete "islamische Rede" veränderte auch manche religiösen Auffassungen. So wurde die Scharia aus einem Komplex überkommener juristischer Entscheidungen aus der Vergangenheit eine "absolute, von Gott bestimmte normative Ordnung, die unabhängig von den Juristen existiere", wie er schon im Vorwort schreibt.
Durch das Internet, das insbesondere seit dem Arabischen Frühling immer wichtiger wurde, entstand aus einer islamischen Öffentlichkeit eine zusätzliche virtuelle Weltöffentlichkeit, die zur Lockerung der schon traditionell gewordenen islamischen Öffentlichkeit und ihres Diskurses ebenfalls beitrug.
Ausführlich wird dieser einstweilen in der Aporie gestrandete Arabische Frühling behandelt, als Resultat des totalen Scheiterns der Eliten. Der Autor betrachtet im Einzelnen Tunesien, Algerien, Ägypten, Libyen, Nigeria, Mali, Mauretanien, den Jemen, Bahrein sowie das Vorspiel im Libanon nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Rafiq al Hariri. Einzig die ölreichen Golf-Monarchien wie Qatar oder die Vereinigten Arabischen Emirate blieben verschont, weil sie noch in der Lage sind, aus dem Ölreichtum erlöste "Renten" (im Sinne des Renten-Kapitalismus) an breite Schichten zu verteilen.
Das Beispiel der türkischen AKP missriet in Ägypten, da die Islamisten nach ihrem Wahlsieg dort keinerlei Unterstützung durch die Wirtschaft erfuhren und nicht bereit waren, pluralistische Strukturen zuzulassen. Ultraislamische Gruppierungen wie Boko Haram, Shabaab oder der IS saugen aus dem Scheitern der Modernisierung und dem Zerfall staatlicher wie gesellschaftlicher Ordnungen und der sie tragenden Normen (Nigeria, Somalia, Libyen, Irak, Syrien) ihren Honig.
Der Autor sieht in seinem Ansatz keineswegs den einzig möglichen. Man kann die jüngere und jüngste Geschichte der "islamischen Welt" auch ideengeschichtlich, anthropologisch, sozialgeschichtlich, feministisch und auf viele andere Weisen darstellen. Ein Desiderat wäre eine Untersuchung jener Entwicklungen, die mit der immer größer werdenden islamischen "Diaspora" in Amerika, Europa oder im südlichen Afrika zusammenhängen. Schulzes Darstellung indes erhellt vieles, was im ewigen Streit um eine tatsächliche oder vermeintliche "westöstliche Weltgegensätzlichkeit" nicht gesehen wird oder zu Unrecht auf der Strecke bleibt. In einer Zeit, da - hervorgerufen durch unbeschreiblichen Terror in aktuellen Krisen-Brennpunkten, aber zunehmend auch in Europa - zahlreiche Publikationen sich zwangsläufig einseitig mit den radikalsten "islamischen" Ideologien befassen, kommt eine solche Tiefenbohrung, die auch die wachsende Interdependenz der Kulturen aufzeigt, wie Schulze sie vorlegt, genau zur rechten Zeit.
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Reinhard Schulze: "Geschichte der islamischen Welt von 1900 bis zur Gegenwart".
Verlag C. H. Beck, München 2016. 760 S., geb., 34,95 [Euro].
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