Eine Bibel für Kunsthistoriker. In Fachkreisen gilt Gombrichs Buch längst als unbestrittenes Standardwerk mit großem Einfluß auf das ganze Fachgebiet Kunstgeschichte.
Gombrich studierte Kunstgeschichte in Wien und ging 1936 nach London, um am Warburg-Institut zu arbeiten, dessen Direktor er später von 1959 bis 1976 war. 1953 erschien "Die Geschichte der Kunst" in der ersten Auflage, viele weitere sollten folgen. Gombrich nimmt seine Leser liebevoll an die Hand und führt sie durch den Kosmos Kunst, ohne dabei lehrmeisterhaft, väterlich oder anbiedernd zu sein. Dabei folgt er treu seinem Motto: "Es gibt keine Kunst, nur Künstler." Das sind Menschen, die die Welt abbilden und erklären und zwar mit künstlerischen Mitteln. Unbestritten lebt jeder Mensch in seiner ganz eigenen Welt, in seiner ganz eigenen Epoche. Deshalb ist für Gombrich Kunstgeschichte auch immer Geschichte. Gombrich doziert nicht, sondern lehrt uns genau hinzuschauen, Bilder gleichsam zu lesen. Tiefschürfende Betrachtungen und tiefenpsychologische Untersuchungen sind nicht sein Anliegen. Das Bild rangierte für Gombrich immer vor der Schrift. Deshalb lag es Gombrich besonders am Herzen, daß seine "Geschichte der Kunst" im Laufe ihres Alterungsprozesses über mittlerweile 15 Auflagen vor allem im Bildteil immer wieder verbessert wurde.
Gombrich studierte Kunstgeschichte in Wien und ging 1936 nach London, um am Warburg-Institut zu arbeiten, dessen Direktor er später von 1959 bis 1976 war. 1953 erschien "Die Geschichte der Kunst" in der ersten Auflage, viele weitere sollten folgen. Gombrich nimmt seine Leser liebevoll an die Hand und führt sie durch den Kosmos Kunst, ohne dabei lehrmeisterhaft, väterlich oder anbiedernd zu sein. Dabei folgt er treu seinem Motto: "Es gibt keine Kunst, nur Künstler." Das sind Menschen, die die Welt abbilden und erklären und zwar mit künstlerischen Mitteln. Unbestritten lebt jeder Mensch in seiner ganz eigenen Welt, in seiner ganz eigenen Epoche. Deshalb ist für Gombrich Kunstgeschichte auch immer Geschichte. Gombrich doziert nicht, sondern lehrt uns genau hinzuschauen, Bilder gleichsam zu lesen. Tiefschürfende Betrachtungen und tiefenpsychologische Untersuchungen sind nicht sein Anliegen. Das Bild rangierte für Gombrich immer vor der Schrift. Deshalb lag es Gombrich besonders am Herzen, daß seine "Geschichte der Kunst" im Laufe ihres Alterungsprozesses über mittlerweile 15 Auflagen vor allem im Bildteil immer wieder verbessert wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.1996Abgehängtes Jahrhundert
Ernst Gombrichs "Geschichte der Kunst" und die Gegenwart
Es gibt nicht nur geglückte Bücher, es gibt auch Glücksbücher. Ein solches ist "Die Geschichte der Kunst" von Ernst Gombrich, das in Zeiten, die darauf gar nicht erpicht sind, überraschend zu einer Art Hausbuch geworden ist. Der Originaltitel des 1950 zuerst erschienenen Buches macht deutlicher, worum es geht: "The Story of Art". Hier wird die Geschichte der Kunst aller Epochen und Weltgegenden von den Anfängen bis zur Gegenwart erzählt, für jedermann verständlich, aber nicht als Plauderei, sondern als äußerst komprimierte Übermittlung dessen, was über die besprochenen Kunstwerke, Künstler und Stile gewußt wird.
Der Autor hatte schon einmal etwas Ähnliches unternommen, eine Weltgeschichte für Kinder, die unlängst als "Kurze Weltgeschichte für junge Leser" wiederaufgelegt wurde. Dabei zeigte sich, daß das Buch trotz seines schon beachtlichen Alters kaum etwas von seiner Frische verloren hatte. In beiden Fällen hat man es mit den Früchten einer ungewöhnlichen pädagogischen Begabung zu tun. Sie ist auch im fachwissenschaftlichen OEuvre des 1909 in Wien geborenen Kunsthistorikers, der seit Mitte der dreißiger Jahre in England lebt, überall spürbar. Darüber hinaus lebt in Gombrichs Gabe der Vereinfachung des Komplizierten, die er übrigens mit dem anderen großen Wiener, Karl Popper, teilt, eine Eigenart der Wiener Schule der Kunstgeschichte fort, die ein besonderes didaktisches Geschick in der Vermittlung komplizierter Überlieferungen und absonderlicher Kunstgebilde besaß.
Soeben ist die deutsche Übersetzung der "Geschichte der Kunst" in der sechzehnten Auflage erschienen, nach mehreren Verlagsstationen jetzt zum ersten Mal bei S. Fischer. In derselben Region bewegt sich die englische Ausgabe des in über fünfundzwanzig Sprachen übersetzten Buches, das nun zum ersten Mal in einer "internationalen Ausgabe" in gleicher Ausstattung erscheint. Im Gespräch mit Didier Eribon (Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, Klett-Cotta, Stuttgart 1993) hat Ernst Gombrich die Anfänge dieses erstaunlichen Bestsellers geschildert, vor allem auf welchen Widerstand in seiner damaligen wissenschaftlichen Umgebung sein Plan gestoßen war, ein solches Buch zu schreiben.
Fritz Saxl, der damalige Direktor des Londoner Warburg Instituts - später übernahm Gombrich selbst diese Position -, riet ihm dringend davon ab, sich durch sein Vorhaben, eine Kunstgeschichte für die Jugend zu schreiben, von ernsthafter Arbeit ablenken zu lassen: "Ich würde das sehr ungern sehen", sagte Saxl, "Sie haben Besseres zu tun." Die "Story of Art" kam trotzdem zustande. Sie behielt die Erzählhaltung des für Jugendliche gedachten Buches bei und profitierte vielleicht sogar vom Sinken des Bildungsniveaus, indem ein Jugendbuch zu einem Buch für Erwachsene wurde. Darüber hinaus hat das vom Akademischen scheinbar wegführende Buch für seinen Autor das Tor zur Universitätskarriere und internationaler Bekanntheit weit aufgestoßen. Insofern ist es ein Glücksbuch.
Eine Geschichte ohne Ende
"The Story of Art" erzählt nicht nur eine Geschichte, es hat mittlerweile selber eine. Und nicht nur das. Da schon die erste Auflage die Geschichte der Kunst bis in die Gegenwart fortführte und der Autor zweimal durch Erweiterungen den Anschluß an die jeweilige zeitgenössische Kunst hergestellt hat, schließt das Buch heute nicht mehr an der Schwelle der fünfziger, sondern der neunziger Jahre. Die Kunst der vergangenen Jahrzehnte ist in das Buch eingewandert, und sie steht mit ihren jüngsten Entwicklungen in Wartestellung, ob sie in die hier erzählte Geschichte aufgenommen werden kann. Der Autor glaubt inzwischen, daß seine Entscheidung, den Anschluß an die Gegenwart zu suchen, ein Fehler war. Jedenfalls hat sie ihm eine Reihe von lästigen Problemen beschert, etwa den Rollenkonflikt zwischen Kritiker und Historiker. Im Idealfall würde dieser dort seine Arbeit aufnehmen, wo jener sie beendigt hat. Die Geschichte, die vom Anfang bis zum Ende erzählt sein will, erlaubt solche feinen Trennungen der Aufgaben nicht.
Jede richtige Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Das gilt auch für diese, von der der Verfasser wünscht, der Leser möge sie tatsächlich von Anfang an und alles Spätere im Lichte des jeweils Vorhergehenden lesen. Aber hat diese Geschichte wirklich ein Ende? Das derzeit letzte Kapitel ist überschrieben: "Eine endlose Geschichte". Die Geschichte der Kunst, will das sagen, bleibt vorläufig ohne ein Ende, oder sollte man nicht eher sagen: Sie verliert endlos, ohne sich zu einem auch nur vorläufigen Ende zu verdichten.
Eine Geschichte der Kunst, wie sie hier erzählt wird, verwandelt sich bei Annäherung an die Gegenwart in ein Mittelding zwischen Gegenwart und Geschichte: in eine Chronik der Moden. Auf das Risiko, ungewollt einen solchen Wechsel der literarischen Gattung herbeizuführen, hatte der Autor sich eingelassen, als er 1966 zum ersten Mal ein Postskriptum hinzufügte, das die künstlerische Entwicklung seit 1950 resümieren wollte. Mit dem nicht nachlassenden Erfolg des Buches wurde 1989 ein zweites Mal ein Gegenwartsanschluß hergestellt, mit wachsender Ungewißheit, ob man sich dabei in der Chronik der Moden verliere oder schon auf dem Boden jener Geschichte Halt finde, die hier von den Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux an erzählt wird.
"Das Tagesgeschehen wird erst dann zur ,Geschichte'", meint Gombrich mit einer fast altväterlichen Auffassung, "wenn wir genügend Abstand gewonnen haben, um zu wissen, wie es sich, wenn überhaupt, auf spätere Entwicklungen auswirken wird." Platzhalter dieser geschichtlichen Gewißheit sind in der Chronik der laufenden Ereignisse Prognosen darüber, was als nächstes passieren wird. Ein paar solcher Prognosen hat Gombrich in den Nachträgen formuliert, zum Beispiel: "Gegenwärtig sieht es so aus, als werde diese Aussöhnung zwischen Photograph und Maler künftig noch an Bedeutung gewinnen." Das Fazit, das der Leser aus all dem ziehen kann, dürfte etwa lauten: Die Kunst der vergangenen Jahrzehnte wie auch des zwanzigsten Jahrhunderts hat nur bedingt Chancen, in die "Geschichte der Kunst" aufgenommen zu werden.
Die Kluft zwischen Tagesmoden und Kunstentwicklung scheint sich nicht zu schließen, obwohl mittlerweile nicht fünfzig Jahre, sondern mehr als hundert Jahre darauf harren, in Gombrichs Geschichte der Kunst überzeugend, das heißt mit einer deutlichen Charakterisierung ihres Beitrags zur allgemeinen Kunstentwicklung, einbezogen zu werden. Man darf vermuten, daß die Moderne dauerhaft unerlöst bleiben wird als Inbegriff eines diffusen und am Ende nicht schlüssigen Experimentierens. Die aneinandergereihten Nachträge des Buches sind ein alarmierendes Zeichen. Der Leser kann sich kaum verhehlen, daß überall ein tiefer Vorbehalt des Autors gegen die künstlerische Potenz des Jahrhunderts spürbar ist oder deutlich ausgesprochen wird. Vielleicht hat dies sogar zum Erfolg des Buches beigetragen.
Abwarten ist nicht genug
Sein Verfasser liebt die einfachen Wahrheiten, und er besitzt ein besonders Geschick, sie mit Scharfsinn so weit aufzurüsten, daß sie sich gegen den hochgestochenen Unsinn modischer Kunstkommentare zu behaupten vermögen. Der Leser wird ermutigt einzugestehen, daß er sich in erster Linie für die dargestellten Gegenstände und Geschehnisse auf Bildern interessiert und oft nur nebenbei für Malweise oder Komposition. In ähnlicher Weise kann die These, daß man die Theorien eines Künstlers nicht akzeptieren müsse, um seine Werke zu schätzen, ermutigend wirken.
Und so enthält Gombrichs Buch noch manch ähnlichen Ratschlag, und alle haben das eine Ziel, sich vom hochtrabenden Jargon der Künstler und Kunstkritiker nicht beeindrucken zu lassen. Es kann kein Zweifel sein: Der Entmythologisierer Gombrich hat in seinem ungeliebten zwanzigsten Jahrhundert reichen Stoff gefunden. Aber es ist auch der Grund für die nicht zu übersehende Hemmung, die Geschichte der Kunst wirklich zu Ende zu erzählen oder ihr ein hypothetisches Ende vorzuzeichnen. Doch die Uhr des ablaufenden Jahrhunderts sagt: Abwarten ist nicht mehr genug.
Das Buch hat in seiner derzeitigen Fassung zwei Schlüsse. Nach ein paar Seiten über den Stimmungsumschwung, den die Postmoderne gebracht habe, folgt ein letzter Abschnitt "Neue Entdeckungen". Es ist eine nicht gewöhnliche Art des Nachtrags, deren Sinn aber sofort einleuchtet. Als im Jahre 1506 die Laokoon-Gruppe und der Apoll vom Belvedere entdeckt wurden, führte dies, zusammen mit anderen antiken Funden und Wiederentdeckungen, binnen kurzem zu einer dramatischen Veränderung der Kunst der Zeit. Ähnliche Wirkungen nicht nur auf das Wissen der Zeit, sondern auf ihre Kunst lassen sich im achtzehnten Jahrhundert für das ausgegrabene Pompeji und die damals entdeckte griechische Vasenmalerei im neunzehnten für eine Fülle von archäologischen Funden feststellen. In all diesen Fällen hat es einen Austausch gegeben zwischen den Entdeckungen der Zeit und ihren eigenen Schöpfungen.
Unübersehbar, das lehrt die bei Gombrich angeführte Liste, scheint sich dieser künstlerische Austausch zwischen den Zeiten und Orten abzuschwächen. Und vollends die bedeutenden Entdeckungen aus den vergangenen Jahrzehnten, die in dem Schlußkapitel vorgestellt werden, scheinen ganz und gar abgedichtet gegen die zeitgenössische Kunstpraxis: Die Athleten von Riace (1972), das Königsgrab in Vergine mit Wandgemälden aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. (siebziger Jahre), die chinesische Terrakotta-Armee aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., der Fund von 364 Skulpturenfragmenten von Notre-Dame in Paris (1977) mit ihren Spuren von Bemalung und Vergoldung, die die Annahme von Polychromie nahelegen - all diese und andere großartigen Kunstwerke werden wie selbstverständlich nur als Bereicherung unseres Wissens angesehen, nicht aber als mögliche Anstöße für eine Veränderung unseres zeitgenössischen Kunstgeschmacks.
Vergessen scheint zu sein, daß einmal die sogenannte "Negerkunst" Kubismus wie Expressionismus nicht bloß ästhetisch bereicherte, sondern der entstehenden jungen Kunst eine elementare Formulierungshilfe bot. Daß heute kaum jemand mit ähnlichen Wirkungen rechnet, könnte in der Tat ein Symptom für eine Erschöpfung der kreativen Potenz sein. Unbeabsichtigt stützt der Schlußabschnitt des Buches die Skepsis des Autors gegenüber der Kunst der Gegenwart. HENNING RITTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ernst Gombrichs "Geschichte der Kunst" und die Gegenwart
Es gibt nicht nur geglückte Bücher, es gibt auch Glücksbücher. Ein solches ist "Die Geschichte der Kunst" von Ernst Gombrich, das in Zeiten, die darauf gar nicht erpicht sind, überraschend zu einer Art Hausbuch geworden ist. Der Originaltitel des 1950 zuerst erschienenen Buches macht deutlicher, worum es geht: "The Story of Art". Hier wird die Geschichte der Kunst aller Epochen und Weltgegenden von den Anfängen bis zur Gegenwart erzählt, für jedermann verständlich, aber nicht als Plauderei, sondern als äußerst komprimierte Übermittlung dessen, was über die besprochenen Kunstwerke, Künstler und Stile gewußt wird.
Der Autor hatte schon einmal etwas Ähnliches unternommen, eine Weltgeschichte für Kinder, die unlängst als "Kurze Weltgeschichte für junge Leser" wiederaufgelegt wurde. Dabei zeigte sich, daß das Buch trotz seines schon beachtlichen Alters kaum etwas von seiner Frische verloren hatte. In beiden Fällen hat man es mit den Früchten einer ungewöhnlichen pädagogischen Begabung zu tun. Sie ist auch im fachwissenschaftlichen OEuvre des 1909 in Wien geborenen Kunsthistorikers, der seit Mitte der dreißiger Jahre in England lebt, überall spürbar. Darüber hinaus lebt in Gombrichs Gabe der Vereinfachung des Komplizierten, die er übrigens mit dem anderen großen Wiener, Karl Popper, teilt, eine Eigenart der Wiener Schule der Kunstgeschichte fort, die ein besonderes didaktisches Geschick in der Vermittlung komplizierter Überlieferungen und absonderlicher Kunstgebilde besaß.
Soeben ist die deutsche Übersetzung der "Geschichte der Kunst" in der sechzehnten Auflage erschienen, nach mehreren Verlagsstationen jetzt zum ersten Mal bei S. Fischer. In derselben Region bewegt sich die englische Ausgabe des in über fünfundzwanzig Sprachen übersetzten Buches, das nun zum ersten Mal in einer "internationalen Ausgabe" in gleicher Ausstattung erscheint. Im Gespräch mit Didier Eribon (Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, Klett-Cotta, Stuttgart 1993) hat Ernst Gombrich die Anfänge dieses erstaunlichen Bestsellers geschildert, vor allem auf welchen Widerstand in seiner damaligen wissenschaftlichen Umgebung sein Plan gestoßen war, ein solches Buch zu schreiben.
Fritz Saxl, der damalige Direktor des Londoner Warburg Instituts - später übernahm Gombrich selbst diese Position -, riet ihm dringend davon ab, sich durch sein Vorhaben, eine Kunstgeschichte für die Jugend zu schreiben, von ernsthafter Arbeit ablenken zu lassen: "Ich würde das sehr ungern sehen", sagte Saxl, "Sie haben Besseres zu tun." Die "Story of Art" kam trotzdem zustande. Sie behielt die Erzählhaltung des für Jugendliche gedachten Buches bei und profitierte vielleicht sogar vom Sinken des Bildungsniveaus, indem ein Jugendbuch zu einem Buch für Erwachsene wurde. Darüber hinaus hat das vom Akademischen scheinbar wegführende Buch für seinen Autor das Tor zur Universitätskarriere und internationaler Bekanntheit weit aufgestoßen. Insofern ist es ein Glücksbuch.
Eine Geschichte ohne Ende
"The Story of Art" erzählt nicht nur eine Geschichte, es hat mittlerweile selber eine. Und nicht nur das. Da schon die erste Auflage die Geschichte der Kunst bis in die Gegenwart fortführte und der Autor zweimal durch Erweiterungen den Anschluß an die jeweilige zeitgenössische Kunst hergestellt hat, schließt das Buch heute nicht mehr an der Schwelle der fünfziger, sondern der neunziger Jahre. Die Kunst der vergangenen Jahrzehnte ist in das Buch eingewandert, und sie steht mit ihren jüngsten Entwicklungen in Wartestellung, ob sie in die hier erzählte Geschichte aufgenommen werden kann. Der Autor glaubt inzwischen, daß seine Entscheidung, den Anschluß an die Gegenwart zu suchen, ein Fehler war. Jedenfalls hat sie ihm eine Reihe von lästigen Problemen beschert, etwa den Rollenkonflikt zwischen Kritiker und Historiker. Im Idealfall würde dieser dort seine Arbeit aufnehmen, wo jener sie beendigt hat. Die Geschichte, die vom Anfang bis zum Ende erzählt sein will, erlaubt solche feinen Trennungen der Aufgaben nicht.
Jede richtige Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Das gilt auch für diese, von der der Verfasser wünscht, der Leser möge sie tatsächlich von Anfang an und alles Spätere im Lichte des jeweils Vorhergehenden lesen. Aber hat diese Geschichte wirklich ein Ende? Das derzeit letzte Kapitel ist überschrieben: "Eine endlose Geschichte". Die Geschichte der Kunst, will das sagen, bleibt vorläufig ohne ein Ende, oder sollte man nicht eher sagen: Sie verliert endlos, ohne sich zu einem auch nur vorläufigen Ende zu verdichten.
Eine Geschichte der Kunst, wie sie hier erzählt wird, verwandelt sich bei Annäherung an die Gegenwart in ein Mittelding zwischen Gegenwart und Geschichte: in eine Chronik der Moden. Auf das Risiko, ungewollt einen solchen Wechsel der literarischen Gattung herbeizuführen, hatte der Autor sich eingelassen, als er 1966 zum ersten Mal ein Postskriptum hinzufügte, das die künstlerische Entwicklung seit 1950 resümieren wollte. Mit dem nicht nachlassenden Erfolg des Buches wurde 1989 ein zweites Mal ein Gegenwartsanschluß hergestellt, mit wachsender Ungewißheit, ob man sich dabei in der Chronik der Moden verliere oder schon auf dem Boden jener Geschichte Halt finde, die hier von den Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux an erzählt wird.
"Das Tagesgeschehen wird erst dann zur ,Geschichte'", meint Gombrich mit einer fast altväterlichen Auffassung, "wenn wir genügend Abstand gewonnen haben, um zu wissen, wie es sich, wenn überhaupt, auf spätere Entwicklungen auswirken wird." Platzhalter dieser geschichtlichen Gewißheit sind in der Chronik der laufenden Ereignisse Prognosen darüber, was als nächstes passieren wird. Ein paar solcher Prognosen hat Gombrich in den Nachträgen formuliert, zum Beispiel: "Gegenwärtig sieht es so aus, als werde diese Aussöhnung zwischen Photograph und Maler künftig noch an Bedeutung gewinnen." Das Fazit, das der Leser aus all dem ziehen kann, dürfte etwa lauten: Die Kunst der vergangenen Jahrzehnte wie auch des zwanzigsten Jahrhunderts hat nur bedingt Chancen, in die "Geschichte der Kunst" aufgenommen zu werden.
Die Kluft zwischen Tagesmoden und Kunstentwicklung scheint sich nicht zu schließen, obwohl mittlerweile nicht fünfzig Jahre, sondern mehr als hundert Jahre darauf harren, in Gombrichs Geschichte der Kunst überzeugend, das heißt mit einer deutlichen Charakterisierung ihres Beitrags zur allgemeinen Kunstentwicklung, einbezogen zu werden. Man darf vermuten, daß die Moderne dauerhaft unerlöst bleiben wird als Inbegriff eines diffusen und am Ende nicht schlüssigen Experimentierens. Die aneinandergereihten Nachträge des Buches sind ein alarmierendes Zeichen. Der Leser kann sich kaum verhehlen, daß überall ein tiefer Vorbehalt des Autors gegen die künstlerische Potenz des Jahrhunderts spürbar ist oder deutlich ausgesprochen wird. Vielleicht hat dies sogar zum Erfolg des Buches beigetragen.
Abwarten ist nicht genug
Sein Verfasser liebt die einfachen Wahrheiten, und er besitzt ein besonders Geschick, sie mit Scharfsinn so weit aufzurüsten, daß sie sich gegen den hochgestochenen Unsinn modischer Kunstkommentare zu behaupten vermögen. Der Leser wird ermutigt einzugestehen, daß er sich in erster Linie für die dargestellten Gegenstände und Geschehnisse auf Bildern interessiert und oft nur nebenbei für Malweise oder Komposition. In ähnlicher Weise kann die These, daß man die Theorien eines Künstlers nicht akzeptieren müsse, um seine Werke zu schätzen, ermutigend wirken.
Und so enthält Gombrichs Buch noch manch ähnlichen Ratschlag, und alle haben das eine Ziel, sich vom hochtrabenden Jargon der Künstler und Kunstkritiker nicht beeindrucken zu lassen. Es kann kein Zweifel sein: Der Entmythologisierer Gombrich hat in seinem ungeliebten zwanzigsten Jahrhundert reichen Stoff gefunden. Aber es ist auch der Grund für die nicht zu übersehende Hemmung, die Geschichte der Kunst wirklich zu Ende zu erzählen oder ihr ein hypothetisches Ende vorzuzeichnen. Doch die Uhr des ablaufenden Jahrhunderts sagt: Abwarten ist nicht mehr genug.
Das Buch hat in seiner derzeitigen Fassung zwei Schlüsse. Nach ein paar Seiten über den Stimmungsumschwung, den die Postmoderne gebracht habe, folgt ein letzter Abschnitt "Neue Entdeckungen". Es ist eine nicht gewöhnliche Art des Nachtrags, deren Sinn aber sofort einleuchtet. Als im Jahre 1506 die Laokoon-Gruppe und der Apoll vom Belvedere entdeckt wurden, führte dies, zusammen mit anderen antiken Funden und Wiederentdeckungen, binnen kurzem zu einer dramatischen Veränderung der Kunst der Zeit. Ähnliche Wirkungen nicht nur auf das Wissen der Zeit, sondern auf ihre Kunst lassen sich im achtzehnten Jahrhundert für das ausgegrabene Pompeji und die damals entdeckte griechische Vasenmalerei im neunzehnten für eine Fülle von archäologischen Funden feststellen. In all diesen Fällen hat es einen Austausch gegeben zwischen den Entdeckungen der Zeit und ihren eigenen Schöpfungen.
Unübersehbar, das lehrt die bei Gombrich angeführte Liste, scheint sich dieser künstlerische Austausch zwischen den Zeiten und Orten abzuschwächen. Und vollends die bedeutenden Entdeckungen aus den vergangenen Jahrzehnten, die in dem Schlußkapitel vorgestellt werden, scheinen ganz und gar abgedichtet gegen die zeitgenössische Kunstpraxis: Die Athleten von Riace (1972), das Königsgrab in Vergine mit Wandgemälden aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. (siebziger Jahre), die chinesische Terrakotta-Armee aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., der Fund von 364 Skulpturenfragmenten von Notre-Dame in Paris (1977) mit ihren Spuren von Bemalung und Vergoldung, die die Annahme von Polychromie nahelegen - all diese und andere großartigen Kunstwerke werden wie selbstverständlich nur als Bereicherung unseres Wissens angesehen, nicht aber als mögliche Anstöße für eine Veränderung unseres zeitgenössischen Kunstgeschmacks.
Vergessen scheint zu sein, daß einmal die sogenannte "Negerkunst" Kubismus wie Expressionismus nicht bloß ästhetisch bereicherte, sondern der entstehenden jungen Kunst eine elementare Formulierungshilfe bot. Daß heute kaum jemand mit ähnlichen Wirkungen rechnet, könnte in der Tat ein Symptom für eine Erschöpfung der kreativen Potenz sein. Unbeabsichtigt stützt der Schlußabschnitt des Buches die Skepsis des Autors gegenüber der Kunst der Gegenwart. HENNING RITTER
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