John Rawls ist fraglos der bedeutendste amerikanische Philosoph im Bereich der politischen Philosophie und der Moralphilosophie. Seine Geschichte der Moralphilosophie, die als Manuskript lange unter der Hand zirkulierte und einen fast mythischen Ruf hatte, vereinigt seine Vorlesungen an der Harvard University, durch deren Schule eine ganze Generation amerikanischer wie kontinentaler Philosophen gegangen ist. Rawls verbindet darin eine Relektüre der Klassiker der Moralphilosophie mit einer Neubestimmung der Moralphilosophie als solcher. In subtilen Interpretationen kanonischer Texte von Hume, Leibniz, Kant und Hegel profilieren sich sowohl eine Geschichte der Moralphilosophie als auch eine Perspektive auf aktuelle Fragen und Probleme.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002Kant mit Vieren
Das moralphilosophische Quartett: John Rawls bespricht sich mit den Klassikern seines Fachs
Ein neues Buch von John Rawls? Man kann gespannt sein, was der Moralphilosoph Neues zu bieten hat, dessen Buch „A Theory of Justice” von 1971 nach Auffassung der Herausgeberin des vorliegenden Bandes, Barbara Herman, „die Sozialphilosophie und die politische Philosophie des vergangenen Vierteljahrhunderts” in ihren Fragestellungen und Argumentationen bestimmt habe. Nun, es ist kein Buch, in dem Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit erneuert, ergänzt oder revidiert hat, sondern es handelt sich um seine Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie, die er seit den sechziger Jahren, als sein bahnbrechendes Buch noch gar nicht erschienen war, regelmäßig in Harvard gehalten hat.
Etwa anderthalb Wochen nach Beginn seiner ersten Vorlesungen hatte Rawls Mitleid mit den Studenten, die sich verzweifelt bemühten, Wort für Wort mitzuschreiben. Er bot ihnen vervielfältigte Exemplare seiner handschriftlichen Aufzeichnungen für 40 Cent an. Wir haben nun die im Preis gestiegene Ausgabe vorliegen, deren Publikation zunächst nicht vorgesehen war. Nach vielem Bitten ließ Rawls sich dazu bewegen, seine Zustimmung zur Buchpublikation zu geben. Zum einen – typisch Rawls – unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten, denn es konnte nicht angehen, dass nur diejenigen in den Besitz des Manuskripts kamen, die jemanden kannten, der einen Freund hatte, der einen ehemaligen Ethik-Studenten aus Harvard kannte. Zum anderen überarbeitete Rawls sein Vorlesungsmanuskript über die Jahrzehnte ständig, und die Fassung seiner letzten Vorlesung von 1991 schien ihm so weit gediehen zu sein, dass er die Veröffentlichung verantworten konnte.
Im Überlegungsgleichgewicht
In der uns vorliegenden Buchfassung interpretiert Rawls das Werk der vier großen Moralphilosophen: Hume, Leibniz, Kant und Hegel, wobei Kant den breitesten Raum einnimmt, was nicht verwunderlich ist, denn Kants Gedanken leiteten Rawls bei der Abfassung seiner Theorie der Gerechtigkeit. Die für alle vier Philosophen gleiche Ausgangsfrage fasst Rawls so zusammen: Die Reformation habe die religiöse Homogenität der Gesellschaft gesprengt, und dadurch drängte sich die Frage auf, wie man denn mit Menschen anderen Glaubens in ein und derselben Gesellschaft zusammen leben könne. Dies ist auch die Frage von Rawls eigener Philosophie. Er suchte eine Grundlage, auf die sich alle, gleich welcher religiösen Überzeugung, einlassen könnten. In seiner Theory of Justice finden wir den Satz: „Wenn etwa Bürger von einer Religion zur anderen konvertieren oder nicht länger einer bestehenden religiösen Glaubenslehre anhängen, hören sie damit nicht auf, für Fragen der politischen Gerechtigkeit dieselben Personen zu sein, die sie vorher waren. Es gibt keinen, wie wir es nennen könnten, Verlust der öffentlichen Identität, ihrer Identität im Bezug auf die grundlegenden Rechtsbeziehungen.” Rawls fand den Bezugspunkt für die Interaktionen der Bürger in einer individualisierten Gesellschaft in seinen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen.
In den hier vorliegenden historischen Interpretationen ging Rawls mit großer Sorgfalt vor. Er wirft den vier Philosophen nicht etwa vor, dass sie bestimmte Fragen nicht beantwortet hätten, sondern sagt, dass sie möglicherweise deshalb nicht gestellt werden konnten, weil sie sozialhistorisch noch nicht von Interesse gewesen seien. Rawls interpretiert unter Berücksichtigung ihres zeitbedingten Verständnisses moralischer Probleme. Im Dialog mit ihnen entwickelt er seine eigene Theorie. Angesichts dieser Vorgehensweise drängt sich der Vergleich mit Talcott Parsons auf, von dem Habermas einmal sagte, dass aus dem Kreis der produktiven Gesellschaftstheoretiker niemand mit gleicher Intensität das Gespräch mit den Klassikern der Disziplin aufgenommen und den Anschluss der eigenen Theorie an diese Tradition hergestellt hätte. Das gilt auch für Rawls. Parsons, der zur gleichen Zeit in Harvard lehrte, ging von einem ähnlichen Problem aus. Dem Soziologen ging es um die Beantwortung der Frage, wie eine Gesellschaft von Individuen überhaupt möglich sein kann, wenn die Verfolgung der eigenen Interessen zum leitenden Prinzip des menschlichen Handelns wird. Dieser Zustand des Individualismus trete dann ein, wenn die religiösen Werte nicht mehr wie selbstverständlich gelten, anerkannt und befolgt würden.
Der Unterschied zwischen beiden Theoretikern wird durch ihre unterschiedlichen Kant-Interpretationen deutlich. Parsons gibt der Kantischen Idee der Freiheit als Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen moralischen Gesetz eine soziologische Wendung, indem er den Kategorischen Imperativ mit den soziologisch ermittelten Kontingenzen verbindet, die sich aus dem physischen, psychischen, interaktiven und normativen Bereich ergeben. Die Verbindung dieser Subsysteme des Handelns wird durch die Orientierung am gesellschaftlichen Wertkonsens hergestellt. Nur unter den Bedingungen der Berücksichtigung sozialer Kontingenzen lassen sich nach Parsons moralische Regeln realisieren. Ansonsten würden sie ideale Gedanken bleiben. Der Philosoph Rawls hingegen modifiziert und präzisiert die Kantische Moralauffassung für die liberale Gesellschaft der Gegenwart.
Weil Kant für Rawls Ausgangspunkt und Basis bei der Ausarbeitung seiner ei-genen Theorie war, ist das Kapitel über den Kant-Kritiker Hegel interessant. Besonders hier zeigt sich der hermeneutische Eros, mit dem Rawls in seinen historischen Deutungen vorgeht. Er nimmt nicht Partei für den einen oder den anderen, auch nicht für Kant. Sondern Rawls zeigt, dass aus einer Auffassung, die man selbst für verfehlt hält, noch etwas zu lernen sei. Er betont in seiner eigenen Philosophie, dass eine Reihe von festen Überzeugungen, die wir in der gegenwärtigen liberalen Gesellschaft hätten, mit in die Konstitutionsüberlegungen der Gerechtigkeitsgrundsätze einbezogen werden müssten, wie die, dass alle Menschen politisch gleichberechtigt sind, dass es keine Sklaverei geben dürfe, dass Rassenunterschiede die Gleichberechtigung nicht verhindern dürften. Dazu gehöre aber auch die allseits anerkannte formale Logik, und – was fragwürdig ist – die Annahme der Entscheidungs- und Spieltheorie. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sind also nicht rein formal, sondern mit den konsensuellen Überzeugungen der Gegenwart gefüllt, deren Summe Rawls den apokryphen Begriff „Überlegungsgleichgewicht” gibt.
Mit diesem Buch sind wir im Besitz einer überaus genauen Lesart der vier be-deutendsten klassischen Moralphilosophen der Neuzeit. Rawls verfuhr übrigens ganz anders als Kant. Letzterer setzte sich mit Hume auseinander, kritisierte ihn, und entwickelte aus dieser Kritik seine eigene Position, obwohl er die englische Sprache nicht beherrschte und Hume nur aus übersetzten Zitaten anderer Autoren kannte. Rawls konzediert seinem Favoriten in dieser fragwürdigen Vorgehensweise freundlicherweise eine schnelle und hohe Auffassungsgabe.
DETLEF HORSTER
JOHN RAWLS: Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – He-gel. Herausgegeben von Barbara Herman, übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 486 Seiten, 39,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das moralphilosophische Quartett: John Rawls bespricht sich mit den Klassikern seines Fachs
Ein neues Buch von John Rawls? Man kann gespannt sein, was der Moralphilosoph Neues zu bieten hat, dessen Buch „A Theory of Justice” von 1971 nach Auffassung der Herausgeberin des vorliegenden Bandes, Barbara Herman, „die Sozialphilosophie und die politische Philosophie des vergangenen Vierteljahrhunderts” in ihren Fragestellungen und Argumentationen bestimmt habe. Nun, es ist kein Buch, in dem Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit erneuert, ergänzt oder revidiert hat, sondern es handelt sich um seine Vorlesungen zur Geschichte der Moralphilosophie, die er seit den sechziger Jahren, als sein bahnbrechendes Buch noch gar nicht erschienen war, regelmäßig in Harvard gehalten hat.
Etwa anderthalb Wochen nach Beginn seiner ersten Vorlesungen hatte Rawls Mitleid mit den Studenten, die sich verzweifelt bemühten, Wort für Wort mitzuschreiben. Er bot ihnen vervielfältigte Exemplare seiner handschriftlichen Aufzeichnungen für 40 Cent an. Wir haben nun die im Preis gestiegene Ausgabe vorliegen, deren Publikation zunächst nicht vorgesehen war. Nach vielem Bitten ließ Rawls sich dazu bewegen, seine Zustimmung zur Buchpublikation zu geben. Zum einen – typisch Rawls – unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten, denn es konnte nicht angehen, dass nur diejenigen in den Besitz des Manuskripts kamen, die jemanden kannten, der einen Freund hatte, der einen ehemaligen Ethik-Studenten aus Harvard kannte. Zum anderen überarbeitete Rawls sein Vorlesungsmanuskript über die Jahrzehnte ständig, und die Fassung seiner letzten Vorlesung von 1991 schien ihm so weit gediehen zu sein, dass er die Veröffentlichung verantworten konnte.
Im Überlegungsgleichgewicht
In der uns vorliegenden Buchfassung interpretiert Rawls das Werk der vier großen Moralphilosophen: Hume, Leibniz, Kant und Hegel, wobei Kant den breitesten Raum einnimmt, was nicht verwunderlich ist, denn Kants Gedanken leiteten Rawls bei der Abfassung seiner Theorie der Gerechtigkeit. Die für alle vier Philosophen gleiche Ausgangsfrage fasst Rawls so zusammen: Die Reformation habe die religiöse Homogenität der Gesellschaft gesprengt, und dadurch drängte sich die Frage auf, wie man denn mit Menschen anderen Glaubens in ein und derselben Gesellschaft zusammen leben könne. Dies ist auch die Frage von Rawls eigener Philosophie. Er suchte eine Grundlage, auf die sich alle, gleich welcher religiösen Überzeugung, einlassen könnten. In seiner Theory of Justice finden wir den Satz: „Wenn etwa Bürger von einer Religion zur anderen konvertieren oder nicht länger einer bestehenden religiösen Glaubenslehre anhängen, hören sie damit nicht auf, für Fragen der politischen Gerechtigkeit dieselben Personen zu sein, die sie vorher waren. Es gibt keinen, wie wir es nennen könnten, Verlust der öffentlichen Identität, ihrer Identität im Bezug auf die grundlegenden Rechtsbeziehungen.” Rawls fand den Bezugspunkt für die Interaktionen der Bürger in einer individualisierten Gesellschaft in seinen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen.
In den hier vorliegenden historischen Interpretationen ging Rawls mit großer Sorgfalt vor. Er wirft den vier Philosophen nicht etwa vor, dass sie bestimmte Fragen nicht beantwortet hätten, sondern sagt, dass sie möglicherweise deshalb nicht gestellt werden konnten, weil sie sozialhistorisch noch nicht von Interesse gewesen seien. Rawls interpretiert unter Berücksichtigung ihres zeitbedingten Verständnisses moralischer Probleme. Im Dialog mit ihnen entwickelt er seine eigene Theorie. Angesichts dieser Vorgehensweise drängt sich der Vergleich mit Talcott Parsons auf, von dem Habermas einmal sagte, dass aus dem Kreis der produktiven Gesellschaftstheoretiker niemand mit gleicher Intensität das Gespräch mit den Klassikern der Disziplin aufgenommen und den Anschluss der eigenen Theorie an diese Tradition hergestellt hätte. Das gilt auch für Rawls. Parsons, der zur gleichen Zeit in Harvard lehrte, ging von einem ähnlichen Problem aus. Dem Soziologen ging es um die Beantwortung der Frage, wie eine Gesellschaft von Individuen überhaupt möglich sein kann, wenn die Verfolgung der eigenen Interessen zum leitenden Prinzip des menschlichen Handelns wird. Dieser Zustand des Individualismus trete dann ein, wenn die religiösen Werte nicht mehr wie selbstverständlich gelten, anerkannt und befolgt würden.
Der Unterschied zwischen beiden Theoretikern wird durch ihre unterschiedlichen Kant-Interpretationen deutlich. Parsons gibt der Kantischen Idee der Freiheit als Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen moralischen Gesetz eine soziologische Wendung, indem er den Kategorischen Imperativ mit den soziologisch ermittelten Kontingenzen verbindet, die sich aus dem physischen, psychischen, interaktiven und normativen Bereich ergeben. Die Verbindung dieser Subsysteme des Handelns wird durch die Orientierung am gesellschaftlichen Wertkonsens hergestellt. Nur unter den Bedingungen der Berücksichtigung sozialer Kontingenzen lassen sich nach Parsons moralische Regeln realisieren. Ansonsten würden sie ideale Gedanken bleiben. Der Philosoph Rawls hingegen modifiziert und präzisiert die Kantische Moralauffassung für die liberale Gesellschaft der Gegenwart.
Weil Kant für Rawls Ausgangspunkt und Basis bei der Ausarbeitung seiner ei-genen Theorie war, ist das Kapitel über den Kant-Kritiker Hegel interessant. Besonders hier zeigt sich der hermeneutische Eros, mit dem Rawls in seinen historischen Deutungen vorgeht. Er nimmt nicht Partei für den einen oder den anderen, auch nicht für Kant. Sondern Rawls zeigt, dass aus einer Auffassung, die man selbst für verfehlt hält, noch etwas zu lernen sei. Er betont in seiner eigenen Philosophie, dass eine Reihe von festen Überzeugungen, die wir in der gegenwärtigen liberalen Gesellschaft hätten, mit in die Konstitutionsüberlegungen der Gerechtigkeitsgrundsätze einbezogen werden müssten, wie die, dass alle Menschen politisch gleichberechtigt sind, dass es keine Sklaverei geben dürfe, dass Rassenunterschiede die Gleichberechtigung nicht verhindern dürften. Dazu gehöre aber auch die allseits anerkannte formale Logik, und – was fragwürdig ist – die Annahme der Entscheidungs- und Spieltheorie. Die Gerechtigkeitsgrundsätze sind also nicht rein formal, sondern mit den konsensuellen Überzeugungen der Gegenwart gefüllt, deren Summe Rawls den apokryphen Begriff „Überlegungsgleichgewicht” gibt.
Mit diesem Buch sind wir im Besitz einer überaus genauen Lesart der vier be-deutendsten klassischen Moralphilosophen der Neuzeit. Rawls verfuhr übrigens ganz anders als Kant. Letzterer setzte sich mit Hume auseinander, kritisierte ihn, und entwickelte aus dieser Kritik seine eigene Position, obwohl er die englische Sprache nicht beherrschte und Hume nur aus übersetzten Zitaten anderer Autoren kannte. Rawls konzediert seinem Favoriten in dieser fragwürdigen Vorgehensweise freundlicherweise eine schnelle und hohe Auffassungsgabe.
DETLEF HORSTER
JOHN RAWLS: Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – He-gel. Herausgegeben von Barbara Herman, übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 486 Seiten, 39,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Instinkt wie bei den Brieftauben
John Rawls braucht für die Moralphilosophie keinen Kompaß / Von Wolfgang Kersting
Die Diskrepanz zwischen den Verheißungen des ekstatischen Klappentextes und dem Inhalt des Buches ist so eklatant, daß auch ein nicht zum Mißmut neigender Leser sich nach der Leküre fragen mag, ob diese Vorlesungsmanuskripte wohl den Weg zwischen zwei deutsche Buchdeckel gefunden hätten, wenn ihr Verfasser nicht John Rawls hieße. Die Irritation beginnt bereits mit dem Titel, der eine Geschichte der Moralphilosophie verspricht. Dabei wird man das Buch noch nicht einmal als Darstellung der neuzeitlichen Moralphilosophie bezeichnen dürfen, denn es beschränkt sich auf die Behandlung der moralphilosophischen Positionen von Hume, Leibniz, Kant und Hegel.
Die mehr oder weniger ausgearbeiteten Vorlesungsskripte sollte man auch nicht, wie der Klappentext es tut, als "Relektüre" bezeichnen, denn natürlich müssen Hume, Leibniz oder Hegel nun nicht anders gelesen werden als vorher. Wir haben es hier mit Vorlesungen für das Grundstudium zu tun, die jemandem, der mit der Humeschen Moral-sense-Theorie, den Grundzügen der rationalistischen Metaphysik Leibniz' und dem Hauptgedanken der Hegelschen Versöhnungsphilosophie vertraut ist, nicht zu neuen Einsichten verhelfen.
Bei der Zurückweisung dieses plumpen Marketings muß sich der Rezensent nicht allein auf sein Urteil verlassen. Rawls selbst hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß eine Beschäftigung mit den großen Texten der philosophischen Überlieferung sich aller Aktualisierung enthalten müsse. Man dürfe nicht unter dem Deckmantel der hermeneutischen Unausweichlichkeit von Vorurteilen das eigene Problemverständnis zum Maßstab des Verständnisses und der Bewertung tradierter Texte machen. Vielmehr müsse es darum gehen, die Probleme, mit denen sich die Philosophen in der Vergangenheit beschäftigten, so zu formulieren und zu diskutieren, wie diese selbst sie in ihrer historischen Situation aufgefaßt haben. Schon gar nicht teilt er die Ignoranz analytischer Philosophiegeschichtsschreibung, die den eigenen kontingenten Gegenwartsstandpunkt verabsolutiert und vergangenes philosophisches Denken nur insoweit gelten läßt, wie es durch "Rekonstruktion" gerettet werden kann.
Vielleicht war es dieser unvermutete Respekt vor der Tradition, der Rawls' Vorlesungen im analytischen Milieu der amerikanischen Universitätsphilosophie wie Samisdattexte des historischen Sinns zirkulieren ließ und ihren, so wieder der Klappentext, "fast mythischen Ruf" begründete. Bei der Abfassung seiner Theorie der Gerechtigkeit freilich hat Rawls diese Einsicht in die Geschichtlichkeit allen philosophischen Problemverständnisses gründlich vergessen, da er mit ihr ja nichts Geringeres beansprucht, als einen für alle Zeiten und alle Gesellschaften gültigen Gerechtigkeitsmaßstab gefunden zu haben und die Welt von Havard aus wie sub specie aeternitatis beurteilen zu können.
Rawls' Hume-Vorlesungen bieten eine solide Einführung. Vor der Folie eines anspruchslosen, selbst nicht theoriebefrachteten Begriffs praktischer Überlegung macht Rawls die Eigentümlichkeiten des Humeschen Kontrastprogramms einer naturalisierten Moral deutlich. Hume kennt keine prinzipienkompetente Vernunft. Die moralische Urteilstätigkeit ist nur Reflex psychologischer Gesetzlichkeiten. Selbst die Figur des judicious spectator, des verständnisvollen Betrachters, ist lediglich metaphorischer Ausdruck natürlicher Veranlagung. Diese Revision des traditionellen rationalistischen Moralverständnisses ist Folge der metaphysikkritischen Konzeption des Empirismus, die Prinzipienbegründungen durch psychologische Erklärungen ersetzt. Wird Moral als Naturtatsache erkannt, dann verliert sie alles Erregungspotential, wird als ideologisches Machtmittel untauglich. Empiristische Aufklärung stiftet Gelassenheit. Rawls nennt das Humes "Natur-Fideismus": Die Welt ist eine Welt ohne Gott und daher ein guter Aufenthaltsort.
Wie die Herausgeberin berichtet, hat Rawls die beiden gesondert abgedruckten Leibniz-Vorlesungen in der Regel als Exkurs in seine Kant-Vorlesungen eingefügt, um die rationalistische Weltsicht und die rationalistische Perfektionsmoral der Leibniz-Wolffschen Metaphysik zu skizzieren, die Kant abgelehnt und durch seine Transzendentalphilosophie und seine Konzeption der reinen gesetzgebenden praktischen Vernunft ersetzt hat. Jedoch dienen Rawls diese eingeschobenen Vorlesungen nicht nur als Kontrastfolie, sie sollen auch Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Leibniz deutlich machen. So sieht Rawls Kant insbesondere hinsichtlich seiner Konzeption des Vernunftglaubens, der philosophischen Versöhnung des religiösen Glaubens mit der praktischen Prinzipienvernunft, von Leibniz beeinflußt. Und auch das Vollkommenheitsmotiv, das in Kants zweiter Kritik den rätselhaften Übergang von der Analytik der praktischen Vernunft zur Dialektik der praktischen Vernunft organisiert, ist in seinen Augen leibnizianisches Erbe.
Einführungen in die Moralphilosophie Kants, insbesondere englischsprachige, konzentrieren sich zumeist auf die Grundlegungsschrift, reduzieren Kants Moralphilosophie daher auf einen Vergleich der Imperativ-Formulierungen und auf das in vielerlei Hinsicht an die zeitgenössische moralphilosophische Debatte anschließende Universalisierungsmotiv. Der Vorzug von Rawls' Kant-Vorlesungen liegt darin, daß er sich um eine vollständige Darstellung bemüht, nicht nur die Grundlegungsschrift heranzieht, sondern auch die "Kritik der praktischen Vernunft" und "Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft".
Er will dabei zeigen, daß es niemanden wundern sollte, daß Kant in der zweiten Kritik die Moralphilosophie zur Religionsphilosophie, zu einer metaphysischen Weltanschauung ausweitet, da das Konzept des Moralgesetzes von Anfang an religiös-metaphysische Nebenbedeutungen besitzt, die dann mit dem Übergang zur Dialektik der praktischen Vernunft systematisch ausgearbeitet werden. Man verharmlost den kategorischen Imperativ unzulässig, wenn man ihn lediglich als Kompaß der Pflichtenerkenntnis betrachtet. Im Moralgesetz ist nicht nur eine deontische Logik des Verbotenen, Gebotenen und Erlaubten eingelassen, es schließt auch eine Weltsicht ein, die ausgebreitet werden muß, will man Kants Moralphilosophie angemessen verstehen.
Es ist fraglos interessant zu sehen, wie der wirkungsmächtigste Moralphilosoph der Gegenwart den größten Moralphilosophen der Neuzeit liest, wie der systematische Kantianer, der kantianische Konstruktivist die Schriften des historischen Kant interpretiert. Wer jedoch Rawls' Kant-Vorlesungen kurzschlüssig nach Hinweisen auf die Theorie der Gerechtigkeit durchforstet, wird nicht fündig. Rawls ist ein sehr dezenter Interpret, der hinter den darzulegenden Text völlig zurücktritt. Weder entnimmt er seiner Gerechtigkeitskonzeption Interpretationsperspektiven, noch kann man irgendwo in seiner Kant-Interpretation Frühformen seiner eigenen Konzeption erblicken.
Erstaunlicherweise sind es gerade die beiden abschließenden Hegel-Vorlesungen, in denen sich Rawls' eigenes systematisches Interesse bemerkbar macht. Rawls interpretiert Hegel als gemäßigten Liberalen. Er schließt sich damit der vorherrschenden Sichtweise der amerikanischen Literatur an, denn außerhalb Deutschlands hat man Hegels institutionalistischen Liberalismus immer ernster genommen als hier, wo es lange Zeit Mode war - man denke an Kiesewetters Buch "Von Hegel zu Hitler" -, in der "Rechtsphilosophie" vor allem nach frühen Spuren deutschen Ungeistes zu suchen. Das zentrale Konzept des Hegelschen Liberalismus ist für Rawls die sich selbst wollende Freiheit, die die Institutionen als Wirklichkeit der Freiheit erkennt und anerkennt. In der Bejahung der Institution sieht er die Gemeinsamkeit zwischen der Hegelschen Rechtsphilosophie und seiner Gerechtigkeitstheorie. Die Freiheit, so führt er aus, verlangt nach Institutionen. Institutionen sind die Rahmenbedingungen individueller Lebenskarrieren, ihre normativen Profile gehen den Individuen durch Sozialisation und Erfahrung unter die Haut und bestimmen ihre Sichtweisen und ihre Erfolgschancen gleichermaßen.
Gerade darum sei es wichtig, die institutionelle Verfassung der Gesellschaft so einzurichten, daß sie dem Allgemeinwohl diene, Rechtsgleichheit garantiere und sozioökonomische Ungleichheit nur unter der Bedingung zulasse, daß sie auch für die Schlechtestgestellten von Vorteil sei. Diese Interpretation legt es nahe, Rawls' Wendung von der Gerechtigkeitstheorie zum Politischen Liberalismus geradezu als Hegelsche Kehre zu bezeichnen. Denn der hochfliegende Allgemeingültigkeitsanspruch ist dahin. Rawls will mit seiner Theorie nicht mehr, als seine Zeit in Gedanken zu fassen.
Läßt sich also der Hegelsche Sittlichkeitsinstitutionalismus mit dem Alphabet des Rawlsschen Liberalismus nachbuchstabieren, so verschwindet jedoch alle Gemeinsamkeit, wenn der rationalistische Optimismus der Hegelschen Hintergrundmetaphysik ins Spiel gebracht wird. Rawls besteht gegen Hegel darauf, daß der Liberalismus erlösungsresistent sei, noch nicht einmal ein Bedürfnis nach vollständiger Erkenntnis kenne, mit Kontingenzen gut umzugehen wisse und zu keiner Metaphysik Zuflucht nehmen müsse, um die gegebene Wirklichkeit als einigermaßen bekömmlichen Weltzustand zu empfinden.
John Rawls: "Geschichte der Moralphilosophie". Hume - Leibniz - Kant - Hegel. Hrsg. von Barbara Herman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 486 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John Rawls braucht für die Moralphilosophie keinen Kompaß / Von Wolfgang Kersting
Die Diskrepanz zwischen den Verheißungen des ekstatischen Klappentextes und dem Inhalt des Buches ist so eklatant, daß auch ein nicht zum Mißmut neigender Leser sich nach der Leküre fragen mag, ob diese Vorlesungsmanuskripte wohl den Weg zwischen zwei deutsche Buchdeckel gefunden hätten, wenn ihr Verfasser nicht John Rawls hieße. Die Irritation beginnt bereits mit dem Titel, der eine Geschichte der Moralphilosophie verspricht. Dabei wird man das Buch noch nicht einmal als Darstellung der neuzeitlichen Moralphilosophie bezeichnen dürfen, denn es beschränkt sich auf die Behandlung der moralphilosophischen Positionen von Hume, Leibniz, Kant und Hegel.
Die mehr oder weniger ausgearbeiteten Vorlesungsskripte sollte man auch nicht, wie der Klappentext es tut, als "Relektüre" bezeichnen, denn natürlich müssen Hume, Leibniz oder Hegel nun nicht anders gelesen werden als vorher. Wir haben es hier mit Vorlesungen für das Grundstudium zu tun, die jemandem, der mit der Humeschen Moral-sense-Theorie, den Grundzügen der rationalistischen Metaphysik Leibniz' und dem Hauptgedanken der Hegelschen Versöhnungsphilosophie vertraut ist, nicht zu neuen Einsichten verhelfen.
Bei der Zurückweisung dieses plumpen Marketings muß sich der Rezensent nicht allein auf sein Urteil verlassen. Rawls selbst hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß eine Beschäftigung mit den großen Texten der philosophischen Überlieferung sich aller Aktualisierung enthalten müsse. Man dürfe nicht unter dem Deckmantel der hermeneutischen Unausweichlichkeit von Vorurteilen das eigene Problemverständnis zum Maßstab des Verständnisses und der Bewertung tradierter Texte machen. Vielmehr müsse es darum gehen, die Probleme, mit denen sich die Philosophen in der Vergangenheit beschäftigten, so zu formulieren und zu diskutieren, wie diese selbst sie in ihrer historischen Situation aufgefaßt haben. Schon gar nicht teilt er die Ignoranz analytischer Philosophiegeschichtsschreibung, die den eigenen kontingenten Gegenwartsstandpunkt verabsolutiert und vergangenes philosophisches Denken nur insoweit gelten läßt, wie es durch "Rekonstruktion" gerettet werden kann.
Vielleicht war es dieser unvermutete Respekt vor der Tradition, der Rawls' Vorlesungen im analytischen Milieu der amerikanischen Universitätsphilosophie wie Samisdattexte des historischen Sinns zirkulieren ließ und ihren, so wieder der Klappentext, "fast mythischen Ruf" begründete. Bei der Abfassung seiner Theorie der Gerechtigkeit freilich hat Rawls diese Einsicht in die Geschichtlichkeit allen philosophischen Problemverständnisses gründlich vergessen, da er mit ihr ja nichts Geringeres beansprucht, als einen für alle Zeiten und alle Gesellschaften gültigen Gerechtigkeitsmaßstab gefunden zu haben und die Welt von Havard aus wie sub specie aeternitatis beurteilen zu können.
Rawls' Hume-Vorlesungen bieten eine solide Einführung. Vor der Folie eines anspruchslosen, selbst nicht theoriebefrachteten Begriffs praktischer Überlegung macht Rawls die Eigentümlichkeiten des Humeschen Kontrastprogramms einer naturalisierten Moral deutlich. Hume kennt keine prinzipienkompetente Vernunft. Die moralische Urteilstätigkeit ist nur Reflex psychologischer Gesetzlichkeiten. Selbst die Figur des judicious spectator, des verständnisvollen Betrachters, ist lediglich metaphorischer Ausdruck natürlicher Veranlagung. Diese Revision des traditionellen rationalistischen Moralverständnisses ist Folge der metaphysikkritischen Konzeption des Empirismus, die Prinzipienbegründungen durch psychologische Erklärungen ersetzt. Wird Moral als Naturtatsache erkannt, dann verliert sie alles Erregungspotential, wird als ideologisches Machtmittel untauglich. Empiristische Aufklärung stiftet Gelassenheit. Rawls nennt das Humes "Natur-Fideismus": Die Welt ist eine Welt ohne Gott und daher ein guter Aufenthaltsort.
Wie die Herausgeberin berichtet, hat Rawls die beiden gesondert abgedruckten Leibniz-Vorlesungen in der Regel als Exkurs in seine Kant-Vorlesungen eingefügt, um die rationalistische Weltsicht und die rationalistische Perfektionsmoral der Leibniz-Wolffschen Metaphysik zu skizzieren, die Kant abgelehnt und durch seine Transzendentalphilosophie und seine Konzeption der reinen gesetzgebenden praktischen Vernunft ersetzt hat. Jedoch dienen Rawls diese eingeschobenen Vorlesungen nicht nur als Kontrastfolie, sie sollen auch Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Leibniz deutlich machen. So sieht Rawls Kant insbesondere hinsichtlich seiner Konzeption des Vernunftglaubens, der philosophischen Versöhnung des religiösen Glaubens mit der praktischen Prinzipienvernunft, von Leibniz beeinflußt. Und auch das Vollkommenheitsmotiv, das in Kants zweiter Kritik den rätselhaften Übergang von der Analytik der praktischen Vernunft zur Dialektik der praktischen Vernunft organisiert, ist in seinen Augen leibnizianisches Erbe.
Einführungen in die Moralphilosophie Kants, insbesondere englischsprachige, konzentrieren sich zumeist auf die Grundlegungsschrift, reduzieren Kants Moralphilosophie daher auf einen Vergleich der Imperativ-Formulierungen und auf das in vielerlei Hinsicht an die zeitgenössische moralphilosophische Debatte anschließende Universalisierungsmotiv. Der Vorzug von Rawls' Kant-Vorlesungen liegt darin, daß er sich um eine vollständige Darstellung bemüht, nicht nur die Grundlegungsschrift heranzieht, sondern auch die "Kritik der praktischen Vernunft" und "Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft".
Er will dabei zeigen, daß es niemanden wundern sollte, daß Kant in der zweiten Kritik die Moralphilosophie zur Religionsphilosophie, zu einer metaphysischen Weltanschauung ausweitet, da das Konzept des Moralgesetzes von Anfang an religiös-metaphysische Nebenbedeutungen besitzt, die dann mit dem Übergang zur Dialektik der praktischen Vernunft systematisch ausgearbeitet werden. Man verharmlost den kategorischen Imperativ unzulässig, wenn man ihn lediglich als Kompaß der Pflichtenerkenntnis betrachtet. Im Moralgesetz ist nicht nur eine deontische Logik des Verbotenen, Gebotenen und Erlaubten eingelassen, es schließt auch eine Weltsicht ein, die ausgebreitet werden muß, will man Kants Moralphilosophie angemessen verstehen.
Es ist fraglos interessant zu sehen, wie der wirkungsmächtigste Moralphilosoph der Gegenwart den größten Moralphilosophen der Neuzeit liest, wie der systematische Kantianer, der kantianische Konstruktivist die Schriften des historischen Kant interpretiert. Wer jedoch Rawls' Kant-Vorlesungen kurzschlüssig nach Hinweisen auf die Theorie der Gerechtigkeit durchforstet, wird nicht fündig. Rawls ist ein sehr dezenter Interpret, der hinter den darzulegenden Text völlig zurücktritt. Weder entnimmt er seiner Gerechtigkeitskonzeption Interpretationsperspektiven, noch kann man irgendwo in seiner Kant-Interpretation Frühformen seiner eigenen Konzeption erblicken.
Erstaunlicherweise sind es gerade die beiden abschließenden Hegel-Vorlesungen, in denen sich Rawls' eigenes systematisches Interesse bemerkbar macht. Rawls interpretiert Hegel als gemäßigten Liberalen. Er schließt sich damit der vorherrschenden Sichtweise der amerikanischen Literatur an, denn außerhalb Deutschlands hat man Hegels institutionalistischen Liberalismus immer ernster genommen als hier, wo es lange Zeit Mode war - man denke an Kiesewetters Buch "Von Hegel zu Hitler" -, in der "Rechtsphilosophie" vor allem nach frühen Spuren deutschen Ungeistes zu suchen. Das zentrale Konzept des Hegelschen Liberalismus ist für Rawls die sich selbst wollende Freiheit, die die Institutionen als Wirklichkeit der Freiheit erkennt und anerkennt. In der Bejahung der Institution sieht er die Gemeinsamkeit zwischen der Hegelschen Rechtsphilosophie und seiner Gerechtigkeitstheorie. Die Freiheit, so führt er aus, verlangt nach Institutionen. Institutionen sind die Rahmenbedingungen individueller Lebenskarrieren, ihre normativen Profile gehen den Individuen durch Sozialisation und Erfahrung unter die Haut und bestimmen ihre Sichtweisen und ihre Erfolgschancen gleichermaßen.
Gerade darum sei es wichtig, die institutionelle Verfassung der Gesellschaft so einzurichten, daß sie dem Allgemeinwohl diene, Rechtsgleichheit garantiere und sozioökonomische Ungleichheit nur unter der Bedingung zulasse, daß sie auch für die Schlechtestgestellten von Vorteil sei. Diese Interpretation legt es nahe, Rawls' Wendung von der Gerechtigkeitstheorie zum Politischen Liberalismus geradezu als Hegelsche Kehre zu bezeichnen. Denn der hochfliegende Allgemeingültigkeitsanspruch ist dahin. Rawls will mit seiner Theorie nicht mehr, als seine Zeit in Gedanken zu fassen.
Läßt sich also der Hegelsche Sittlichkeitsinstitutionalismus mit dem Alphabet des Rawlsschen Liberalismus nachbuchstabieren, so verschwindet jedoch alle Gemeinsamkeit, wenn der rationalistische Optimismus der Hegelschen Hintergrundmetaphysik ins Spiel gebracht wird. Rawls besteht gegen Hegel darauf, daß der Liberalismus erlösungsresistent sei, noch nicht einmal ein Bedürfnis nach vollständiger Erkenntnis kenne, mit Kontingenzen gut umzugehen wisse und zu keiner Metaphysik Zuflucht nehmen müsse, um die gegebene Wirklichkeit als einigermaßen bekömmlichen Weltzustand zu empfinden.
John Rawls: "Geschichte der Moralphilosophie". Hume - Leibniz - Kant - Hegel. Hrsg. von Barbara Herman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 486 S., geb., 39,90 [Euro].
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