Der Ostseeraum war und ist eine Zone fruchtbarer Austauschbeziehungen. Hier leben seit Urzeiten verschiedene sprachliche Gemeinschaften: Germanen, Slaven, Balten und Finnen zusammen, die sich im Mittelalter, zum Teil aber auch erst in der Neuzeit zu Völkern und Staaten entwickelt haben. Gleichzeitig war der Ostseeraum Schauplatz eines intensiven Austausches auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. So entstanden supranationale Kulturen, wie die der Wikinger und der Slaven oder der Hanse, aber auch die Niederlandisierung im 16./17. Jahrhundert sowie die Sowjetisierung im 20. Jahrhundert prägten den Ostseeraum. Diese vielfältigen Formen ökonomischer, kultureller und politischer Interaktion an und um die Ostsee stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches, das von den Wikingern bis zur heutigen EU-Ostseeraum-Strategie diese in jeder Hinsicht expandierende Region historisch beleuchtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2011Gut für Geschäfte
Der Ostseehandel verbindet Menschen seit Jahrhunderten
Den Anstoß zu einer Art neuer Hanse gab im Jahre 1988 Björn Engholm. Nach dem Vorbild des Mittelalters plädierte Schleswig-Holsteins damaliger Ministerpräsident für mehr Kooperation der Ostseeländer. Bei seinen skandinavischen Nachbarn fand er dafür ein offenes Ohr und ebenso bei den Baltenstaaten, als diese nach 1989 die Herrschaft der Sowjetunion abschüttelten. Im Jahre 1992 gründeten die Ostseeanrainer zusammen mit der Bundesrepublik und Island den Ostseerat, dem inzwischen alle Ostseestaaten mit Ausnahme Russlands angehören. Die Zusammenarbeit hat sich intensiviert, seit die Europäische Union im Jahre 2009 den in wechselseitiger Abhängigkeit gewachsenen Raum um das Baltische Meer zur Modellregion für Wirtschaft, Umwelt und Sicherheit erklärte.
Das Verständnis für das Gebiet erleichtert ein Blick auf dessen historische Entwicklung. Der Greifswalder Geschichtsprofessor Michael North forscht seit langem dazu. Sein neues Taschenbuch über die jahrhundertealten ökonomischen, sozialen und kulturellen Wechselbeziehungen an den Küsten der Ostsee basiert auf den Resultaten des Internationalen Graduierten-Kollegs der Deutschen Forschungsgesellschaft "Baltic Borderlands", dessen Sprecher North war.
Schon früh definierte der Handel die Ostsee als einheitlichen Raum. Denn das Baltische Meer war seit eh und je gut für Geschäfte, und supranationale Kulturen wie die Wikinger und später die Hanse konnten nur entstehen, weil wirtschaftlicher Austausch die Sprachgrenzen und die ethnische Fremdheit zwischen Germanen, Slaven, Balten und Finnen überbrückte. "Die Kaufleute überquerten als Erste das Meer, und die Waren, die sie brachten, veränderten die sie empfangenden Gesellschaften und Kulturen ebenso, wie sich die Bedeutung der Güter im Austauschprozess wandelte", schreibt der Verfasser. Das wechselseitige Geschehen beeinflusste nicht nur die Mentalität der Kaufleute und ihrer Handelspartner, sondern auch die der Konsumenten und ihr Leben: "Handwerker, Künstler und Gelehrte nahmen die neuen Ideen auf, verarbeiteten sie und vermittelten sie weiter."
Erst im Schlepptau des Handels kam die Politik im Ostseeraum zum Zuge. Zunächst waren es die nordischen Monarchien, die im Spätmittelalter mit der mächtigen Hanse um Macht, Geld und Einfluss konkurrierten. Bald nutzten andere Seefahrernationen wie die Niederlande den Verlust der hansischen Vormacht, um den Handel in der Ostsee abzuschöpfen. North beschreibt ausführlich, wie die Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert die Ostsee prägten. Thematisiert wird auch immer wieder, dass letztlich jahrhundertelang abhängige Bauern mit härtesten Lebens- und Arbeitsbedingungen den Preis für die Blüte des agrarisch strukturierten Wirtschaftsraums der Ostsee zahlten.
Im 20. Jahrhundert hielten die Sowjets viele der an die Ostsee angrenzenden Länder lange fest in ihrem Griff. Trotz Krieg, Okkupation, Deportation und Sowjetisierung rissen die Verbindungen im Ostseeraum allerdings nie ganz ab. Im Zuge der Entspannungspolitik nach 1989 belebten sich die Kontakte auf allen Ebenen neu. Die flachen Hierarchien heutiger regierungsamtlicher, halbstaatlicher und privater Ostsee-Kooperation erinnern North an die horizontalen Strukturen der Hanse. Er ist überzeugt, "sie könnten als Modelle nicht nur für andere Regionen in Europa wie den Mittelmeerraum, sondern auch für das Südchinesische Meer in Asien dienen."
ULLA FÖLSING.
Michael North: Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen.
Verlag C.H. Beck, München 2011, 448 Seiten, 16,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Ostseehandel verbindet Menschen seit Jahrhunderten
Den Anstoß zu einer Art neuer Hanse gab im Jahre 1988 Björn Engholm. Nach dem Vorbild des Mittelalters plädierte Schleswig-Holsteins damaliger Ministerpräsident für mehr Kooperation der Ostseeländer. Bei seinen skandinavischen Nachbarn fand er dafür ein offenes Ohr und ebenso bei den Baltenstaaten, als diese nach 1989 die Herrschaft der Sowjetunion abschüttelten. Im Jahre 1992 gründeten die Ostseeanrainer zusammen mit der Bundesrepublik und Island den Ostseerat, dem inzwischen alle Ostseestaaten mit Ausnahme Russlands angehören. Die Zusammenarbeit hat sich intensiviert, seit die Europäische Union im Jahre 2009 den in wechselseitiger Abhängigkeit gewachsenen Raum um das Baltische Meer zur Modellregion für Wirtschaft, Umwelt und Sicherheit erklärte.
Das Verständnis für das Gebiet erleichtert ein Blick auf dessen historische Entwicklung. Der Greifswalder Geschichtsprofessor Michael North forscht seit langem dazu. Sein neues Taschenbuch über die jahrhundertealten ökonomischen, sozialen und kulturellen Wechselbeziehungen an den Küsten der Ostsee basiert auf den Resultaten des Internationalen Graduierten-Kollegs der Deutschen Forschungsgesellschaft "Baltic Borderlands", dessen Sprecher North war.
Schon früh definierte der Handel die Ostsee als einheitlichen Raum. Denn das Baltische Meer war seit eh und je gut für Geschäfte, und supranationale Kulturen wie die Wikinger und später die Hanse konnten nur entstehen, weil wirtschaftlicher Austausch die Sprachgrenzen und die ethnische Fremdheit zwischen Germanen, Slaven, Balten und Finnen überbrückte. "Die Kaufleute überquerten als Erste das Meer, und die Waren, die sie brachten, veränderten die sie empfangenden Gesellschaften und Kulturen ebenso, wie sich die Bedeutung der Güter im Austauschprozess wandelte", schreibt der Verfasser. Das wechselseitige Geschehen beeinflusste nicht nur die Mentalität der Kaufleute und ihrer Handelspartner, sondern auch die der Konsumenten und ihr Leben: "Handwerker, Künstler und Gelehrte nahmen die neuen Ideen auf, verarbeiteten sie und vermittelten sie weiter."
Erst im Schlepptau des Handels kam die Politik im Ostseeraum zum Zuge. Zunächst waren es die nordischen Monarchien, die im Spätmittelalter mit der mächtigen Hanse um Macht, Geld und Einfluss konkurrierten. Bald nutzten andere Seefahrernationen wie die Niederlande den Verlust der hansischen Vormacht, um den Handel in der Ostsee abzuschöpfen. North beschreibt ausführlich, wie die Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert die Ostsee prägten. Thematisiert wird auch immer wieder, dass letztlich jahrhundertelang abhängige Bauern mit härtesten Lebens- und Arbeitsbedingungen den Preis für die Blüte des agrarisch strukturierten Wirtschaftsraums der Ostsee zahlten.
Im 20. Jahrhundert hielten die Sowjets viele der an die Ostsee angrenzenden Länder lange fest in ihrem Griff. Trotz Krieg, Okkupation, Deportation und Sowjetisierung rissen die Verbindungen im Ostseeraum allerdings nie ganz ab. Im Zuge der Entspannungspolitik nach 1989 belebten sich die Kontakte auf allen Ebenen neu. Die flachen Hierarchien heutiger regierungsamtlicher, halbstaatlicher und privater Ostsee-Kooperation erinnern North an die horizontalen Strukturen der Hanse. Er ist überzeugt, "sie könnten als Modelle nicht nur für andere Regionen in Europa wie den Mittelmeerraum, sondern auch für das Südchinesische Meer in Asien dienen."
ULLA FÖLSING.
Michael North: Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen.
Verlag C.H. Beck, München 2011, 448 Seiten, 16,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main