In diesem Band werden jene Richtungen der Philosophie behandelt, die gemeinhin unter dem Begriff der Lebens- und Existenzphilosophie zusammengefaßt werden. Wie in den bereits erschienenen Bänden der Geschichte der Philosophie versucht auch dieser Band, nicht nur die wichtigsten Gedanken der jeweiligen Philosophen zu referieren, sondern auch auf die von ihnen erörterten Probleme einzugehen und dabei die in der Sekundärliteratur vertretenen Auffassungen zu berücksichtigen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2002Neues Denkgestell
Der achte Band der großen
„Geschichte der Philosophie”
Die erste und für lange Zeit einzige umfassende Philosophiegeschichte – ein offenbar deutsches Desiderat – schrieb um die Wende des 18. Jahrhunderts Gottlieb Tennemannn im Alleingang. Seit seit einem Vierteljahrhundert – seit 1976 – ist erstmals wieder eine große, anfänglich auf zwölf, derzeit auf vierzehn Bände konzipierte Geschichte der Philosophie im Entstehen, von der nun acht Bände vorliegen, einige davon bereits in zweiter, überarbeiteter Auflage.
Natürlich ist ein solches Unternehmen nicht mehr von einem Einzelnen zu bewältigen. Der Herausgeber Wolfgang Röd konnte sich vieler kompetenter Mitarbeiter versichern und hat trotzdem viele der Texte selbst verfasst. Die meisten Autoren hielten sich dabei strikt an Röds von Hegel oder Windelband übernommene Richtlinien, nämlich keine bloß referierende, doxographische Stoffsammlung, sondern eine „kritische Philosophiegeschichte” zu bieten, mit Seitenblicken auf andere Bereichen des Denkens, wissenschaftliche, politisch- ökonomische; vor allem Probleme, Begriffe, Argumente herauszupräparieren und zu diskutieren, so dass man, mit Hegel, schon mitten im Philosophieren ist beim Studium der Geschichte der Philosophie.
Der soeben erschienene Band XIII zur Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts fasst Lebens- und Existenzphilosophie von Kierkegaard und Nietzsche über Dilthey und Bergson bis hin zu Jaspers, Sartre und Camus zusammen. Das Herzstück des Bandes bildet jedoch das Seinsdenken Martin Heideggers, das Rainer Thurnher unerhört differenziert auf 78 dichten Seiten interpretiert. Hart am Text wird dem Leser Heideggers steiler Weg durch die Seinsgeschichte geebnet, die der Meisterdenker als Geschichte des Verfalls sieht, früh einsetzend mit der Verwischung der ontologische Differenz, so dass das Sein des Seienden gleichfalls als Seiendes gedacht wird. Am Ende gebiert solch berechnendes, bloß vor-stellendes Denken das verhängnisvolle „Ge-stell” der Technik, als Erbschaft der seit Plato seinsvergessenen Metaphysik. Nun bleibt abzuwarten, was das „Seinsgeschick” uns schickt. Und deshalb hat für Heidegger, nach seiner „Kehre” zum „Sein als solchem”, Philosophie als methodisch vorgehende Disziplin abzudanken.
Bei seinen subtilen Analysen hat Thurnher indes einige der editorischen Prinzipien von Röd aus den Augen verloren: Er enthält sich jeder Kritik, lässt auch keinen der berühmten Kritiker des Denkers zu Wort kommen, verweist nirgends auf Parallelen, auch nicht auf das anhaltende Echo der Heideggerschen Destruktionen bei französischen Dekonstruktivisten. (Heideggers politische Verirrungen sind nur im Literaturverzeichnis ausgiebig dokumentiert. ) Und es scheint ihn auch nicht zu beunruhigen, dass nur düstere Grundstimmungen, Sorge, Angst, Schuld, die vorreflexive Erschlossenheit des Daseins ermöglichen sollen, dass Freude, Eros und Liebe in Heideggers Denken nicht vorkommen.
Das Unsagbare sagen
Thurnher verbleibt strikt innerhalb einer sozusagen wertfreien hermeneutischen Immanenz, und das hat auch seine Vorzüge. Denn davon profitieren seine einfühlsamen Nachzeichnungen der Existenzphilosophie von Jaspers und der aufs „Existentielle”, Unverkopfte drängenden religiös- philosophischen Schriften Kierkegaards, die, mit einem Schuss Ironie, der „Erbauung”, nicht der Erkenntnis dienen sollten. Ähnlich Camus, den Thurnher als subjektivistischen Denker zeichnet, der nicht Philosoph sein wollte. Dessen frühe Kritik am marxistisch sich gerierenden Sartre erweist sich heute als vorausblickend, sein Bruch mit ihm zwangsläufig.
Sartre, Nietzsche, Dilthey und Bergson werden vom Herausgeber Röd selbst mit ihren entscheidenden Argumenten klar und kritisch distanziert vorgeführt, wobei an Nietzsches zweifelhafter Nachwirkung, an Diltheys unhaltbarem Relativismus kein Zweifel gelassen wird, während Sartres vergebliches, vom Strukturalismus abgewiesenes Insistieren auf die vom historischen Materialismus vernachlässigte Subjektivität oder Individualität heute nurmehr von historischem Interesse sein kann.
Die Pointe des neuen Bandes liegt nicht zuletzt darin, dass für Lebens- , Existenz- wie Seinsphilosophie generell das Paradoxon gilt, das Unsagbare sagen, mit angestrengter rationaler Sensibilität das Irrationale ausdrücken zu wollen. Paradox erscheint es nicht weniger, eine „christliche Philosophie” etablieren zu wollen, ein hölzernes Eisen, mit dem sich die religionsphilosophischen Diskussionen der Epoche abgemüht haben, die der Salzburger Religionsphilosoph Heinrich Schmidinger in einer knappen, interessanten Studie resümiert.
Band XI der noch ausstehenden sechs Bände wird sich der Entwicklung von Bolzano bis Wittgenstein widmen, und hier soll auch der amerikanische Pragmatismus „unterkommen”. Der letzte, XIV. Band ist für die Philosophie der „neuesten Zeit” vorgesehen, nämlich Hermeneutik, Frankfurter Schule, Strukturalismus und Analytische Philosophie. Das sind gewaltige, komplexe Stoffmassen, für die zwei Bänden wohl kaum genügen. Doch wie auch immer die Konzeption sich ändern wird, zu wünschen wäre, dass der Abschluss dieser hervorragenden Philosophiegeschichte nicht noch ein weiteres Vierteljahrhundert auf sich warten lässt.
WILLY HOCHKEPPEL
WOLFGANG RÖD (Hrsg.): Geschichte der Philosophie. Band XIII. Verlag C. H. Beck, München 2002. 431 S., 26,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Der achte Band der großen
„Geschichte der Philosophie”
Die erste und für lange Zeit einzige umfassende Philosophiegeschichte – ein offenbar deutsches Desiderat – schrieb um die Wende des 18. Jahrhunderts Gottlieb Tennemannn im Alleingang. Seit seit einem Vierteljahrhundert – seit 1976 – ist erstmals wieder eine große, anfänglich auf zwölf, derzeit auf vierzehn Bände konzipierte Geschichte der Philosophie im Entstehen, von der nun acht Bände vorliegen, einige davon bereits in zweiter, überarbeiteter Auflage.
Natürlich ist ein solches Unternehmen nicht mehr von einem Einzelnen zu bewältigen. Der Herausgeber Wolfgang Röd konnte sich vieler kompetenter Mitarbeiter versichern und hat trotzdem viele der Texte selbst verfasst. Die meisten Autoren hielten sich dabei strikt an Röds von Hegel oder Windelband übernommene Richtlinien, nämlich keine bloß referierende, doxographische Stoffsammlung, sondern eine „kritische Philosophiegeschichte” zu bieten, mit Seitenblicken auf andere Bereichen des Denkens, wissenschaftliche, politisch- ökonomische; vor allem Probleme, Begriffe, Argumente herauszupräparieren und zu diskutieren, so dass man, mit Hegel, schon mitten im Philosophieren ist beim Studium der Geschichte der Philosophie.
Der soeben erschienene Band XIII zur Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts fasst Lebens- und Existenzphilosophie von Kierkegaard und Nietzsche über Dilthey und Bergson bis hin zu Jaspers, Sartre und Camus zusammen. Das Herzstück des Bandes bildet jedoch das Seinsdenken Martin Heideggers, das Rainer Thurnher unerhört differenziert auf 78 dichten Seiten interpretiert. Hart am Text wird dem Leser Heideggers steiler Weg durch die Seinsgeschichte geebnet, die der Meisterdenker als Geschichte des Verfalls sieht, früh einsetzend mit der Verwischung der ontologische Differenz, so dass das Sein des Seienden gleichfalls als Seiendes gedacht wird. Am Ende gebiert solch berechnendes, bloß vor-stellendes Denken das verhängnisvolle „Ge-stell” der Technik, als Erbschaft der seit Plato seinsvergessenen Metaphysik. Nun bleibt abzuwarten, was das „Seinsgeschick” uns schickt. Und deshalb hat für Heidegger, nach seiner „Kehre” zum „Sein als solchem”, Philosophie als methodisch vorgehende Disziplin abzudanken.
Bei seinen subtilen Analysen hat Thurnher indes einige der editorischen Prinzipien von Röd aus den Augen verloren: Er enthält sich jeder Kritik, lässt auch keinen der berühmten Kritiker des Denkers zu Wort kommen, verweist nirgends auf Parallelen, auch nicht auf das anhaltende Echo der Heideggerschen Destruktionen bei französischen Dekonstruktivisten. (Heideggers politische Verirrungen sind nur im Literaturverzeichnis ausgiebig dokumentiert. ) Und es scheint ihn auch nicht zu beunruhigen, dass nur düstere Grundstimmungen, Sorge, Angst, Schuld, die vorreflexive Erschlossenheit des Daseins ermöglichen sollen, dass Freude, Eros und Liebe in Heideggers Denken nicht vorkommen.
Das Unsagbare sagen
Thurnher verbleibt strikt innerhalb einer sozusagen wertfreien hermeneutischen Immanenz, und das hat auch seine Vorzüge. Denn davon profitieren seine einfühlsamen Nachzeichnungen der Existenzphilosophie von Jaspers und der aufs „Existentielle”, Unverkopfte drängenden religiös- philosophischen Schriften Kierkegaards, die, mit einem Schuss Ironie, der „Erbauung”, nicht der Erkenntnis dienen sollten. Ähnlich Camus, den Thurnher als subjektivistischen Denker zeichnet, der nicht Philosoph sein wollte. Dessen frühe Kritik am marxistisch sich gerierenden Sartre erweist sich heute als vorausblickend, sein Bruch mit ihm zwangsläufig.
Sartre, Nietzsche, Dilthey und Bergson werden vom Herausgeber Röd selbst mit ihren entscheidenden Argumenten klar und kritisch distanziert vorgeführt, wobei an Nietzsches zweifelhafter Nachwirkung, an Diltheys unhaltbarem Relativismus kein Zweifel gelassen wird, während Sartres vergebliches, vom Strukturalismus abgewiesenes Insistieren auf die vom historischen Materialismus vernachlässigte Subjektivität oder Individualität heute nurmehr von historischem Interesse sein kann.
Die Pointe des neuen Bandes liegt nicht zuletzt darin, dass für Lebens- , Existenz- wie Seinsphilosophie generell das Paradoxon gilt, das Unsagbare sagen, mit angestrengter rationaler Sensibilität das Irrationale ausdrücken zu wollen. Paradox erscheint es nicht weniger, eine „christliche Philosophie” etablieren zu wollen, ein hölzernes Eisen, mit dem sich die religionsphilosophischen Diskussionen der Epoche abgemüht haben, die der Salzburger Religionsphilosoph Heinrich Schmidinger in einer knappen, interessanten Studie resümiert.
Band XI der noch ausstehenden sechs Bände wird sich der Entwicklung von Bolzano bis Wittgenstein widmen, und hier soll auch der amerikanische Pragmatismus „unterkommen”. Der letzte, XIV. Band ist für die Philosophie der „neuesten Zeit” vorgesehen, nämlich Hermeneutik, Frankfurter Schule, Strukturalismus und Analytische Philosophie. Das sind gewaltige, komplexe Stoffmassen, für die zwei Bänden wohl kaum genügen. Doch wie auch immer die Konzeption sich ändern wird, zu wünschen wäre, dass der Abschluss dieser hervorragenden Philosophiegeschichte nicht noch ein weiteres Vierteljahrhundert auf sich warten lässt.
WILLY HOCHKEPPEL
WOLFGANG RÖD (Hrsg.): Geschichte der Philosophie. Band XIII. Verlag C. H. Beck, München 2002. 431 S., 26,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Von der ursprünglich auf zwölf, nun auf vierzehn Bände angelegte Philosophiegeschichte ist nun der achte Band erschienen, der die Philosophie des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts beinhaltet. Als Herzstück dieses Bandes betrachtet Rezensent Willy Hochkeppel das Seinsdenken Martin Heideggers, das seiner Meinung nach von Rainer Thurnher sehr differenziert interpretiert wird. Allerdings kritisiert er auch, Thurnher habe sich nicht an das wichtige editorisches Prinzip der kritischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gehalten. Er sieht jedoch auch einen Vorzug der wertfreien Darstellung. Davon "profitieren seine einfühlsamen Nachzeichnungen von Jaspers Existenzphilosophie und der aufs 'Existentielle', Unverkopfte drängenden religiös-philosophischen Schriften Kierkegaards", findet er. Als Pointe des Bandes betrachtet Hochkeppel die Erkenntnis, dass "für Lebens-, Existenz- und Seinsphilosophie generell das Paradoxon gilt, das Unsagbare sagen, mit angestrengter rationaler Sensibilität das Irrationale ausdrücken zu wollen". Hochkeppel hofft, das die noch ausstehenden Bände dieser seiner Meinung nach hervorragenden Philosophiegeschichte nicht allzu lange auf sich warten lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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