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Lucian Hölscher beschreibt anschaulich den Wandel der protestantischen Frömmigkeit von der Reformation bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und geht dabei den religiösen Vorstellungen, Verhaltensweisen und Organisationsformen in verschiedenen Gegenden und sozialen Schichten Deutschlands nach. Damit liegt erstmals eine umfassende Geschichte der protestantischen Frömmigkeit vor, die für Historiker und Theologen zum Standardwerk werden dürfte und sich darüber hinaus an eine breite Leserschaft wendet. Konfessionelle Bindungen verlieren zunehmend ihre Selbstverständlichkeit. Aber erst hierdurch wird…mehr

Produktbeschreibung
Lucian Hölscher beschreibt anschaulich den Wandel der protestantischen Frömmigkeit von der Reformation bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts und geht dabei den religiösen Vorstellungen, Verhaltensweisen und Organisationsformen in verschiedenen Gegenden und sozialen Schichten Deutschlands nach. Damit liegt erstmals eine umfassende Geschichte der protestantischen Frömmigkeit vor, die für Historiker und Theologen zum Standardwerk werden dürfte und sich darüber hinaus an eine breite Leserschaft wendet. Konfessionelle Bindungen verlieren zunehmend ihre Selbstverständlichkeit. Aber erst hierdurch wird uns bewußt, wie stark sie in der Vergangenheit die Mentalitäten geprägt haben und bis heute prägen. Lucian Hölscher führt in diesem Buch die historische Bedeutung der protestantischen Frömmigkeit in ihrer erstaunlichen Variationsbreite vor Augen: von den kirchlichen Orthodoxien über den Pietismus und die Erweckungsbewegung bis zu den Bildungsreligionen der Moderne und zum Christlichen Atheismus, von der religiösen Sozialisation des einzelnen bis zur organisierten Frömmigkeit religiöser Gemeinschaften. Erstmals werden auch die religiöse Geographie des deutschen Protestantismus sowie seine sozialen und regionalen Kulturen berücksichtigt. Damit geht das Buch weit über die herkömmliche Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung hinaus. Nicht zuletzt schärft es den Blick für neue religiöse Orientierungen in einer Zeit der Auflösung traditioneller kirchlicher Bindungen.

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Autorenporträt
Lucian Hölscher, geb. 1948, Professor für Neuere Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2005

Waren das Zeiten, als sich mit einem Konfessionsbetrug noch Kulturkämpfe führen ließen
Heute ist man da weiter und setzt auf das Wort der vagierenden Religiosität: Lucian Hölscher, ein in der Wolle gefärbter Protestant, schreibt die Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland

Lucian Hölscher will der "vorherrschenden Kirchengeschichtsschreibung einen Gegenentwurf an die Seite stellen". Moderne Protestantismusgeschichte sei nicht von "der kirchlichen Organisation" her, sondern im "Ausgang von der religiösen Praxis und den religiösen Vorstellungen der Gläubigen" zu schreiben. Für seine Mentalitäts- oder Habitusgeschichte wählt Hölscher "Frömmigkeit" als leitende "Kategorie". Der begriffshistorisch sensible Koselleck-Schüler betont die Vielfalt heterogener Bedeutungsgehalte, die "Frömmigkeit" in protestantischen Glaubenswelten gewonnen habe. In Spätmittelalter und Reformationszeit habe "fromm" als allgemeiner Tugendbegriff gedient, als Äquivalent für "brav, ehrlich, tüchtig, tapfer, nützlich, gut und rechtschaffen". Luther übersetzte dann "iustus", gerecht, mit fromm, so daß Frömmigkeit zu einem Zentralbegriff der lutherischen Rechtfertigungslehre avancierte. Erst im Pietismus sei Frömmigkeit religiös verengt, ausschließlich auf das tätige Gottesverhältnis des Menschen bezogen worden. Seitdem führe ein idealer protestantischer Frommer sein "ganzes Leben" in emotional stark bindender Treue zu seinem Gott. So will Hölscher neben der "seelischen Innenausstattung" der Gläubigen auch ihre Alltagspraxis, die religiös codierte Art der Weltdeutung und Lebensführung, in den Blick nehmen.

Frühe Programme, moderne protestantische Christentumsgeschichte als Frömmigkeitsgeschichte zu schreiben, stammen aus den vormärzlichen Konfessionskämpfen. Um "antipapistischer" innerer Einheit des Protestantismus willen suchten Kirchen- und Dogmenhistoriker wie Carl Bernhard Hundeshagen und Matthias Schneckenburger damals religiös-sittliche Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten methodisch innovativ zu bestimmen, indem sie neben Bekenntnistexten auch Katechismen, Glaubenstraktate, Lieder und Gebetbücher als Zeugnisse gelebter Religion untersuchten. Seit 1900 zogen Klassiker der "historischen Kulturwissenschaften" wie Max Weber und Ernst Troeltsch sowie der Luther-Forscher Karl Holl diese frömmigkeitshistorischen Linien aus und suchten die "Kulturbedeutung" der lutherischen Lehre vom "weltlichen Beruf" des Christen oder von der reformierten "innerweltlichen Askese" in Ökonomie, Bildungswesen und Politik idealtypisch zu erfassen.

Hölscher ignoriert diese klassischen Protestantismusdiskurse ebenso souverän wie die neueren, von Autoren wie Werner Hofmann, Heinz Schlaffer und Joseph Leo Koerner geprägten Debatten über genuin protestantische Motive in der modernen Kunst und deutschen Nationalliteratur. So kann er statt prägnanter, distinktionsstarker konfessionsanalytischer Begriffe nur vergleichsweise vage, schwammige Bestimmungen protestantischen Glaubenslebens bieten. Weder werden spezifische Differenzen protestantischer Frömmigkeit gegenüber römisch-katholischer Spiritualität und jüdischer Treue zur Tora sichtbar noch Grundelemente evangelischer Theologie in ihrer die Lebensführung normierenden Prägekraft entfaltet. Begriffe wie "Wort Gottes", "sola fide", "libertas christiana", "Gewissensreligion", "Askese", "Herzensfrömmigkeit", "Nächstenliebe" und "Zehn Gebote" sucht man in seinem Buch vergebens.

Die Fülle der Materialien ist übersichtlich in drei ganz unterschiedlich komponierte Hauptteile gegliedert. Zunächst skizziert Hölscher auf 70 Seiten die Ausbreitung der Reformation und die von starker eschatologischer Naherwartung geprägten Glaubenswelten in den Altprotestantismen bis 1680. Hier berichtet er über Kirchenverfassungen, Gottesdienstordnungen, religiöse Traktate, Beichtpraxis, Kirchenzucht, Hausgemeinde und Paul Gerhardts Kirchenlieder. Im zweiten, 85 Seiten umfassenden Teil über den Aufklärungsprotestantismus 1680 bis 1800 werden liturgische Reformen, Begräbnispraxis, Kirchenkritik, staatliche Toleranzpolitik und konfessionelle Spannungen nach 1648 dargestellt. Dem dritten, mit 220 Seiten gewichtigsten Hauptteil über das lange neunzehnte Jahrhundert gibt Hölscher die Überschrift "Das Zeitalter der Kirche". Der deutsche Protestantismus sei nun durch forcierte Verkirchlichung einerseits und Verweltlichung andererseits bestimmt sowie durch zahlreiche harte ideenpolitische Konflikte über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. In Missionsgesellschaften, Jünglings- und Jungmädchenvereinen sowie neupietistisch-erwecklich geprägten Vereinen der "Inneren Mission" habe sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine eigenständige kirchliche Öffentlichkeit gebildet, die mit höchst modernen Kommunikationsstrategien ihre kritische Sicht einer von Gott abgefallenen "neuen Zeit" zu verbreiten suchte.

Besonders gelungen sind Skizzen zum Gesinnungswandel bei den Pfarrern, die als "Bürger eigener Art" weithin ein dezidiert modernitätskritisches Rollenbild entwickelten. In seinen Analysen der Entkirchlichungsprozesse kann Hölscher sich auf seinen großen "Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland" und schon früher publizierte Studien zu den religiösen Elementen in der Autobiographik deutscher Bildungsbürger stützen. Hier bietet er spannende statistische Daten, etwa zur sinkenden Abendmahlsbeteiligung, aber auch zum wachsenden Gewicht der kirchlichen Beerdigung gerade in bürgerlichen Sozialmilieus. Im Sinne von Thomas Nipperdeys Konzept der "vagierenden Religiosität" bezieht er in seine Darstellung auch Freimaurer, Sozialisten, Lebensreformer aller Art und Anthroposophen ein. In der "Konstruktion religiöser Stammescharaktere" schließt er sich stark an die Volkskunde und Kirchengeographie des 19. Jahrhunderts an. Die entscheidend dem Säkularisierungsbegriff verpflichtete Darstellung endet mit einem kurzen Ausblick auf die religiöse Lage zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Hoffnung, durch eine starke Kirche die pluralistische Gesellschaft noch einmal auf protestantischer Wertgrundlage integrieren zu können, sei schon vor 1914 elementar erschüttert worden.

Mehrfach kommt Hölscher auf biblische Erzählungen von der Sündhaftigkeit des Menschen zu sprechen, die als alte, irrationale Kirchenlehre von den aufgeklärt Vernünftigen, Liberalen verworfen worden sei. Indirekt bezeugt er jedoch eine elementare Fehlbarkeit der religionsdeutenden wissenschaftlichen Vernunft. Der Bochumer Neuzeithistoriker schreibt etwa die Namen von John Toland, Johan(n) Melchior Goeze, Robert de Lamennais und Emil Du Bois-Reymond falsch, kann einen klassischen Text wie Schleiermachers "Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" bisweilen nicht korrekt datieren, löst die Abkürzung CVJM unsinnig auf und gibt selbst zentrale Buchtitel protestantischer Frömmigkeitskultur nur entstellt wieder. Auch schreibt er den Thessalonicher-Brief ohne h, macht aus Zinzendorfs Herrnhuter Brüdergemeine eine "Herrenhuter Brüdergemeinde" - es lasen dort aber auch Damen die "Losungen"! - und kennt im neunzehnten Jahrhundert gar protestantische Pfarrer mit Tonsur.

Noch fehlerreicher sind viele Aussagen zu kirchlicher Lehre und wissenschaftlicher Theologie. Hölscher kennt ein Dogma von der "göttlichen Vaterschaft Jesu" und behauptet ernsthaft, daß die evangelische Kirche, im Unterschied zur römisch-katholischen mit ihren sieben Sakramenten, nur ein einziges Sakrament, das Abendmahl, habe. Werden evangelische Christen nicht getauft?

Den mit der Aufklärung bewirkten Wandel der religiösen Vorstellungswelt beschreibt Hölscher auch als eine empirische Wende hin zu einem nachmetaphysischen Wirklichkeitsverständnis, in dem die "transzendenten Mächte ihre bislang wenig angefochtene unmittelbare Realität" verloren. "Gott und Teufel nutzten die Welt seither nicht mehr als Bühne ihrer Taten, sondern begründeten auf neue, transzendentale Weise die Möglichkeit der Existenz der Welt überhaupt." In Gestalt zahlloser Fehlerteufelchen scheint der altböse Feind jedoch weniger ein transzendentales Möglichkeitssubjekt als vielmehr ein unmittelbar wirkmächtiger harter Konfusionsakteur zu bleiben. Gut nur, daß die Wissenschaftsgeschichte nicht das Weltgericht ist und ein gnädiger Gott auch die Historiker nicht nach Maßstäben der Werkgerechtigkeit mißt.

FRIEDRICH WILHELM GRAF

Lucian Hölscher: "Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland". C. H. Beck Verlag, München 2005. 466 S., geb., 39,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Recht durchwachsen findet Rezensent Friedrich Wilhelm Graf diese "Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland" von Lucian Hölscher. Graf kritisiert, dass der Autor die klassischen Protestantismusdiskurse ebenso ignoriert wie die neueren Debatten über protestantische Motive in der modernen Kunst und der deutschen Nationalliteratur - mit dem Ergebnis, dass er nur vergleichsweise vage, schwammige Bestimmungen protestantischen Glaubenslebens bieten kann. Zudem werden für Graf die spezifische Differenzen protestantischer Frömmigkeit gegenüber römisch-katholischer Spiritualität und jüdischer Treue zur Tora nicht sichtbar. Auch die Grundelemente evangelischer Theologie in ihrer die Lebensführung normierenden Prägekraft würden nicht entfaltet. Lobende Worte hat Graf dagegen für die übersichtliche Gliederung des Materials übrig. Als "besonders gelungen" wertet Graf die Skizzen zum Gesinnungswandel bei den Pfarrern von der Reformation bis ins 20. Jahrhundert. Auch die Analysen der Entkirchlichungsprozesse findet er spannend. Generell moniert er allerdings zahlreiche Fehler bei Namensschreibungen, Datierungen und derWiedergabe von Titeln sowie, schlimmer noch, bei vielen Aussagen zu kirchlicher Lehre und wissenschaftlicher Theologie.

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