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Heute ist man da weiter und setzt auf das Wort der vagierenden Religiosität: Lucian Hölscher, ein in der Wolle gefärbter Protestant, schreibt die Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland
Lucian Hölscher will der "vorherrschenden Kirchengeschichtsschreibung einen Gegenentwurf an die Seite stellen". Moderne Protestantismusgeschichte sei nicht von "der kirchlichen Organisation" her, sondern im "Ausgang von der religiösen Praxis und den religiösen Vorstellungen der Gläubigen" zu schreiben. Für seine Mentalitäts- oder Habitusgeschichte wählt Hölscher "Frömmigkeit" als leitende "Kategorie". Der begriffshistorisch sensible Koselleck-Schüler betont die Vielfalt heterogener Bedeutungsgehalte, die "Frömmigkeit" in protestantischen Glaubenswelten gewonnen habe. In Spätmittelalter und Reformationszeit habe "fromm" als allgemeiner Tugendbegriff gedient, als Äquivalent für "brav, ehrlich, tüchtig, tapfer, nützlich, gut und rechtschaffen". Luther übersetzte dann "iustus", gerecht, mit fromm, so daß Frömmigkeit zu einem Zentralbegriff der lutherischen Rechtfertigungslehre avancierte. Erst im Pietismus sei Frömmigkeit religiös verengt, ausschließlich auf das tätige Gottesverhältnis des Menschen bezogen worden. Seitdem führe ein idealer protestantischer Frommer sein "ganzes Leben" in emotional stark bindender Treue zu seinem Gott. So will Hölscher neben der "seelischen Innenausstattung" der Gläubigen auch ihre Alltagspraxis, die religiös codierte Art der Weltdeutung und Lebensführung, in den Blick nehmen.
Frühe Programme, moderne protestantische Christentumsgeschichte als Frömmigkeitsgeschichte zu schreiben, stammen aus den vormärzlichen Konfessionskämpfen. Um "antipapistischer" innerer Einheit des Protestantismus willen suchten Kirchen- und Dogmenhistoriker wie Carl Bernhard Hundeshagen und Matthias Schneckenburger damals religiös-sittliche Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten methodisch innovativ zu bestimmen, indem sie neben Bekenntnistexten auch Katechismen, Glaubenstraktate, Lieder und Gebetbücher als Zeugnisse gelebter Religion untersuchten. Seit 1900 zogen Klassiker der "historischen Kulturwissenschaften" wie Max Weber und Ernst Troeltsch sowie der Luther-Forscher Karl Holl diese frömmigkeitshistorischen Linien aus und suchten die "Kulturbedeutung" der lutherischen Lehre vom "weltlichen Beruf" des Christen oder von der reformierten "innerweltlichen Askese" in Ökonomie, Bildungswesen und Politik idealtypisch zu erfassen.
Hölscher ignoriert diese klassischen Protestantismusdiskurse ebenso souverän wie die neueren, von Autoren wie Werner Hofmann, Heinz Schlaffer und Joseph Leo Koerner geprägten Debatten über genuin protestantische Motive in der modernen Kunst und deutschen Nationalliteratur. So kann er statt prägnanter, distinktionsstarker konfessionsanalytischer Begriffe nur vergleichsweise vage, schwammige Bestimmungen protestantischen Glaubenslebens bieten. Weder werden spezifische Differenzen protestantischer Frömmigkeit gegenüber römisch-katholischer Spiritualität und jüdischer Treue zur Tora sichtbar noch Grundelemente evangelischer Theologie in ihrer die Lebensführung normierenden Prägekraft entfaltet. Begriffe wie "Wort Gottes", "sola fide", "libertas christiana", "Gewissensreligion", "Askese", "Herzensfrömmigkeit", "Nächstenliebe" und "Zehn Gebote" sucht man in seinem Buch vergebens.
Die Fülle der Materialien ist übersichtlich in drei ganz unterschiedlich komponierte Hauptteile gegliedert. Zunächst skizziert Hölscher auf 70 Seiten die Ausbreitung der Reformation und die von starker eschatologischer Naherwartung geprägten Glaubenswelten in den Altprotestantismen bis 1680. Hier berichtet er über Kirchenverfassungen, Gottesdienstordnungen, religiöse Traktate, Beichtpraxis, Kirchenzucht, Hausgemeinde und Paul Gerhardts Kirchenlieder. Im zweiten, 85 Seiten umfassenden Teil über den Aufklärungsprotestantismus 1680 bis 1800 werden liturgische Reformen, Begräbnispraxis, Kirchenkritik, staatliche Toleranzpolitik und konfessionelle Spannungen nach 1648 dargestellt. Dem dritten, mit 220 Seiten gewichtigsten Hauptteil über das lange neunzehnte Jahrhundert gibt Hölscher die Überschrift "Das Zeitalter der Kirche". Der deutsche Protestantismus sei nun durch forcierte Verkirchlichung einerseits und Verweltlichung andererseits bestimmt sowie durch zahlreiche harte ideenpolitische Konflikte über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. In Missionsgesellschaften, Jünglings- und Jungmädchenvereinen sowie neupietistisch-erwecklich geprägten Vereinen der "Inneren Mission" habe sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine eigenständige kirchliche Öffentlichkeit gebildet, die mit höchst modernen Kommunikationsstrategien ihre kritische Sicht einer von Gott abgefallenen "neuen Zeit" zu verbreiten suchte.
Besonders gelungen sind Skizzen zum Gesinnungswandel bei den Pfarrern, die als "Bürger eigener Art" weithin ein dezidiert modernitätskritisches Rollenbild entwickelten. In seinen Analysen der Entkirchlichungsprozesse kann Hölscher sich auf seinen großen "Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland" und schon früher publizierte Studien zu den religiösen Elementen in der Autobiographik deutscher Bildungsbürger stützen. Hier bietet er spannende statistische Daten, etwa zur sinkenden Abendmahlsbeteiligung, aber auch zum wachsenden Gewicht der kirchlichen Beerdigung gerade in bürgerlichen Sozialmilieus. Im Sinne von Thomas Nipperdeys Konzept der "vagierenden Religiosität" bezieht er in seine Darstellung auch Freimaurer, Sozialisten, Lebensreformer aller Art und Anthroposophen ein. In der "Konstruktion religiöser Stammescharaktere" schließt er sich stark an die Volkskunde und Kirchengeographie des 19. Jahrhunderts an. Die entscheidend dem Säkularisierungsbegriff verpflichtete Darstellung endet mit einem kurzen Ausblick auf die religiöse Lage zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Hoffnung, durch eine starke Kirche die pluralistische Gesellschaft noch einmal auf protestantischer Wertgrundlage integrieren zu können, sei schon vor 1914 elementar erschüttert worden.
Mehrfach kommt Hölscher auf biblische Erzählungen von der Sündhaftigkeit des Menschen zu sprechen, die als alte, irrationale Kirchenlehre von den aufgeklärt Vernünftigen, Liberalen verworfen worden sei. Indirekt bezeugt er jedoch eine elementare Fehlbarkeit der religionsdeutenden wissenschaftlichen Vernunft. Der Bochumer Neuzeithistoriker schreibt etwa die Namen von John Toland, Johan(n) Melchior Goeze, Robert de Lamennais und Emil Du Bois-Reymond falsch, kann einen klassischen Text wie Schleiermachers "Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" bisweilen nicht korrekt datieren, löst die Abkürzung CVJM unsinnig auf und gibt selbst zentrale Buchtitel protestantischer Frömmigkeitskultur nur entstellt wieder. Auch schreibt er den Thessalonicher-Brief ohne h, macht aus Zinzendorfs Herrnhuter Brüdergemeine eine "Herrenhuter Brüdergemeinde" - es lasen dort aber auch Damen die "Losungen"! - und kennt im neunzehnten Jahrhundert gar protestantische Pfarrer mit Tonsur.
Noch fehlerreicher sind viele Aussagen zu kirchlicher Lehre und wissenschaftlicher Theologie. Hölscher kennt ein Dogma von der "göttlichen Vaterschaft Jesu" und behauptet ernsthaft, daß die evangelische Kirche, im Unterschied zur römisch-katholischen mit ihren sieben Sakramenten, nur ein einziges Sakrament, das Abendmahl, habe. Werden evangelische Christen nicht getauft?
Den mit der Aufklärung bewirkten Wandel der religiösen Vorstellungswelt beschreibt Hölscher auch als eine empirische Wende hin zu einem nachmetaphysischen Wirklichkeitsverständnis, in dem die "transzendenten Mächte ihre bislang wenig angefochtene unmittelbare Realität" verloren. "Gott und Teufel nutzten die Welt seither nicht mehr als Bühne ihrer Taten, sondern begründeten auf neue, transzendentale Weise die Möglichkeit der Existenz der Welt überhaupt." In Gestalt zahlloser Fehlerteufelchen scheint der altböse Feind jedoch weniger ein transzendentales Möglichkeitssubjekt als vielmehr ein unmittelbar wirkmächtiger harter Konfusionsakteur zu bleiben. Gut nur, daß die Wissenschaftsgeschichte nicht das Weltgericht ist und ein gnädiger Gott auch die Historiker nicht nach Maßstäben der Werkgerechtigkeit mißt.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Lucian Hölscher: "Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland". C. H. Beck Verlag, München 2005. 466 S., geb., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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