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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Justitia blinzelt nicht
Ernst-Wolfgang Böckenförde läßt eine Quelle nie versiegenden Wissens zu Staat und Recht sprudeln / Von Christian Geyer

Das erste, was einem bei Ernst-Wolfgang Böckenfördes Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie durch den Kopf geht: "Schade, daß dieser Band nur bis Luther reicht". Daß er uns von Platon über Aristoteles, Augustinus, Wilhelm von Ockham bis zur spanischen Spätscholastik führt, aber dann schon bei der politischen Philosophie des Reformators abbricht. Die an Luther anschließende neuzeitliche Entwicklung bleibt uns - einstweilen? - vorenthalten, obwohl doch gerade sie es ist, die Böckenförde als rechtsphilosophischen Kopf inspirierte und ihm die zentralen Fragen vorgab, mit der er sich ein gelehrtes Leben lang auseinandersetzte: Worauf den modernen säkularisierten Staat gründen, nachdem sich in der Neuzeit die traditionelle religiöse Grundstruktur in individuelle Glaubens- und Gewissensentscheidungen aufgelöst hat und der Staat diese Freiheit in Form von Grundrechten garantiert? Oder, wie Böckenförde seine Kernfrage einmal anders formulierte: Worauf stützt sich ein Staat, der seit der Französischen Revolution "ohne geistiges Prinzip" sei, im Augenblick der Krise? Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an Böckenfördes an anderer Stelle veröffentlichte Arbeiten über Friedrich Karl von Savigny oder Lorenz von Stein, einflußreiche, der umstürzend neuen Rechtssituation verpflichtete Studien, die in diesem im sechzehnten Jahrhundert endenden Buch naturgemäß nicht fortgeschrieben werden konnten.

Was legitimiert die Ordnung nach der neuzeitlichen Entzweiung von Recht und Ethik? Es ist reizvoll, diese Böckenförde leitmotivisch interessierende, im Rahmen der Chronologie des Bandes aber eben nicht explizit behandelbare Fragestellung gleichwohl in die Darstellung der Rechtsentwicklung von Antike und Mittelalter hineinzulesen. Man hat dann gleichsam den Schlüssel in der Hand, mit dem uns Böckenförde die voraussetzungsreiche "Geschichte des Nachdenkens über Recht und Staat", wie er es nennt, aufschließt.

Der Komplexität des Gegenstandes, dem Ineinander von historischen, juristischen, philosophischen und theologischen Kategorien, dürften nur wenige Autoren von Hause aus so gewachsen sein wie Böckenförde, der hier seine Freiburger rechtsphilosophischen Vorlesungen zu einem eindrucksvollen Kompendium ausgebaut hat, das ein Handbuch zu nennen er sich aus guten Gründen scheut. Tatsächlich spricht der durchweg kolloquiale Charakter des Buches eher für das Anliegen des Autors, den Leser in ein Gespräch hineinzuziehen, eines von Lehrer zu Schüler ganz gewiß, aber doch ein solches, bei welchem der Dozent beständig die Mimik des Zuhörers im Auge behält, um sofort innezuhalten und präzisierend nachzusetzen, wenn das Gesicht des imaginierten Gegenübers einen fragenden, zweifelnden Ausdruck annimmt. Böckenförde tritt in diesem Buch als ein Lehrer jenes Schlages auf, wie er heute kaum noch zu finden ist: überlegene Gelehrsamkeit mit dem Drang verbindend, über seinen Gegenstand fortwährend selbst noch belehrt zu werden.

"All denen, die noch oder wieder an Grundlagenwissen interessiert sind" - was sich hinter dieser Widmungsformel des Buches verbirgt, ist nicht das Sentiment eines Altvorderen, der den Zeiten nachweint, als die Mediziner noch Philosophievorlesungen besuchten. Sondern es ist die in jeder Zeile spürbare, geradezu kindlich-staunende Faszination für die wechselnden Bemühungen der Menschheit, sich "Grundlagen" zu schaffen, sich mit einer Ordnung gegen sich selbst abzusichern. Wobei Böckenförde die anthropologische Dimension dieses Ringens in ihrer ganzen Fülle ausmißt, uns die prekäre Natur des Menschen in ihren wechselnden Beschreibungen vor Augen führt, um - dramaturgisch immer wieder gelungen - die historisch jeweils erreichte Ordnung dann nur noch als Wunder beobachten zu können. Und es zeigt sich, vor welch ungeheuren Herausforderungen die rechtsphilosophischen Konstruktionen stehen, solange man am Anspruch des Aristoteles auf substantielle Allgemeinheit des Rechts, am klassischen Leitbild des allgemeinen Gesetzes, festhält. Daß Böckenförde als Bundesverfassungsrichter mit seinen Sondervoten hervortrat, hat gelegentlich auch mit diesem aristotelischen Ethos zu tun gehabt: Justitia nicht durch die Augenbinde blinzeln zu lassen, verfassungsrechtlichen Widerstand zu üben gegen das Gebaren eines interventionistischen Gesetzgebungsstaates, wenn er versucht, mit "Situations- und Anlaßgesetzen, Zeit- und Experimentiergesetzen, Eintags- und Einweggesetzen" (Josef Isensee) das Leitbild des allgemeinen Gesetzes zu unterlaufen.

Andererseits sind es gerade die gesellschaftlichen Wirkungsbedingungen des Rechts, die Böckenförde als Schüler Otto Brunners immer wieder ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt und mit denen er nicht selten in ein und demselben Atemzug die von ihm gepflegte Fiktion einer vollkommenen Verfassungstheorie konterkariert, den Situations- und Experimentiergesetzen dann doch entschieden Vorschub leistend. Das sind nun einmal die Pole, zwischen denen Böckenförde kunstvoll lavierend das "Grundlagenwissen" seiner Rechts- und Staatsgeschichte entfaltet - nicht ohne in Fortschreibung der Kritik Otto Brunners und Carl Schmitts diesbezügliche Vorgaben aufnehmend dem Begriff Staat seine universale, transhistorische Allgemeinheit abzusprechen. Weder die griechische Polis noch das römische Imperium, noch die politischen Herrschaftsgebilde des Mittelalters wären in diesem Sinne ein Staat. Statt vom Staat bei Platon, Aristoteles, Augustinus oder Thomas von Aquin zu sprechen, plädiert Böckenförde für den Begriff der politischen Ordnung und will auch den Titel seines Buches insoweit nur als Abbreviatur verstanden wissen.

Daß Böckenförde als Schmittianer, Hegelianer, thomistischer Naturrechtler und ein dem sozialen Rechtsstaat verpflichteter Institutionentheoretiker sich nicht selten selbst ins Gehege kommt, mag eine programmatische Formulierung der Einleitung zeigen, mit welcher er die historischen Konzepte der Rechtsphilosophie auf folgende Frage festlegen will: "Sind darin bleibende, vielleicht unverlierbare Erkenntnisse und Reflexionen über Recht und politische Ordnung enthalten, werden Einsichten gewonnen, die zwar in ihrer Entstehung geschichtlich veranlaßt und erklärbar sind, in ihrer Bedeutung und sachliche Tragweite aber darüber hinausgehen, womöglich dauernden Bestand haben?" Wer außer einem absoluten Geist könnte schon ermitteln, was an einer Ordnung "unverlierbar", was "dauernd" ist? Und wo wäre der Ort einer Bedeutung, einer Tragweite anzusiedeln, wenn die Geschichte ebendiese Bedeutung und Tragweite angeblich gar nicht mehr zu fassen vermag?

Hier kommt eine petitio principii ins Spiel, über die man nur staunen kann, gerade wenn man wenige Seiten später Böckenfördes filigrane Unterscheidungsarbeit zur Kenntnis nimmt, mit der er bei Thomas von Aquin lex divina, lex naturalis und lex humana derart voneinander zu scheiden weiß, daß der Aquinate am Ende - ebenso überraschend wie überzeugend - bei allem Verhaftetsein in einer christlichen Einheitswelt doch als Avantgardist des modernen Rechtsverständnisses erscheint, als Vorkämpfer einer "ethisch defizitären Erhaltungsordnung" fürs pluralistische Zusammenleben. An spannungsreicher Tektonik fehlt es Ernst-Wolfgang Böckenfördes stupender Darstellung, deren Fortsetzung schon bald erscheinen möge, auf keiner Seite.

Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Geschichte der Staats- und Rechtsphilosophie". Antike und Mittelalter. UTB / Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2002. 462 S., br., 21,90 [Euro].

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