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Reine Poesie - keine Reinheitsphantasmen des Künstlers, sondern die künstlerische Arbeit an der Sprache selbst.Im Mittelpunkt der Geschichte der reinen Poesie stehen nicht Reinheitsphantasmen des Künstlers, sondern die künstlerische Arbeit an der Sprache selbst. Diese künstlerische Arbeit setzt das seit dem frühen 17. Jahrhundert bestehende Bemühen um eine Kultivierung der deutschen Literatursprache fort. Zugleich geht es um eine Emanzipation der Poesie von nicht-poetischen Elementen, etwa der wirkungsorientierten Rhetorik. Die Poesie wird dabei nicht nur von der moralischen Wirkung (Goethe),…mehr

Produktbeschreibung
Reine Poesie - keine Reinheitsphantasmen des Künstlers, sondern die künstlerische Arbeit an der Sprache selbst.Im Mittelpunkt der Geschichte der reinen Poesie stehen nicht Reinheitsphantasmen des Künstlers, sondern die künstlerische Arbeit an der Sprache selbst. Diese künstlerische Arbeit setzt das seit dem frühen 17. Jahrhundert bestehende Bemühen um eine Kultivierung der deutschen Literatursprache fort. Zugleich geht es um eine Emanzipation der Poesie von nicht-poetischen Elementen, etwa der wirkungsorientierten Rhetorik. Die Poesie wird dabei nicht nur von der moralischen Wirkung (Goethe), von der Sprache der Prosa (Moritz) und von philosophisch-theoretischen Diskursformen (Schiller) gereinigt, sondern auch - und zuletzt - von der Sprache selbst (Hugo Ball). Das Buch legt in umfassenden Werkanalysen von der Weimarer Klassik über die Lyrik des 19. Jahrhunderts bis zum literarischen Dadaismus erstmals einen bislang vernachlässigten, eigenständigen Entwicklungsstrang der deutschen Literaturgeschichte frei.jetzt in 2. Auflage lieferbar
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Autorenporträt
Jürgen Brokoff, geb. 1968, ist Professor für Deutsche Philologie / Neuere deutsche Literatur an der FU Berlin. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte umfassen die deutschsprachige Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.Veröffentlichungen u. a.: Hass / Literatur. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte (Mithg., 2019); Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur (Mithg., 2016); Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne (Mithg., 2014); Geschichte der reinen Poesie (2010).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2010

Ein prächtiger Handbesen für das menschliche Gemüt
Die reine Poesie als klassisches Produkt der deutschen Literatur: Jürgen Brokoff gibt dem Leser den Glauben an die Philologie zurück

Welch ein Buch! Man möchte hymnisch werden. Und zwar nicht nur, weil es um das Schönste und Höchste geht, was deutsche Dichter sich ausgedacht haben, nämlich um den Begriff der "reinen Poesie"; sondern auch, weil davon in einem Buch die Rede ist, das vor allem ein Prädikat verdient: Philologie in vollendeter Form. Aber bleiben wir im Ton so sachlich wie der Verfasser selbst; denn Jürgen Brokoff ergeht sich über seinen großen und idealistisch strahlenden Gegenstand nicht etwa in schwärmerischen Bekundungen, sondern in Form einer Abhandlung, die bei höchster Materialfülle an konzeptioneller Strenge, sachlicher Präzision und stilistischer Klarheit nichts zu wünschen lässt.

Den Begriff der "reinen Poesie" verbindet man üblicherweise mit Paul Valéry, der in den zwanziger Jahren von einer "poésie pure" sprach, die "von allem, was nicht zu ihrem Wesen gehört", abgesondert oder eben gereinigt sein sollte. Brokoff zeigt nun auf 550 ebenso dicht wie zügig geschriebenen Seiten, dass die Vorstellung einer reinen Poesie in der deutschen Literatur sehr viel älter ist und eine konsequente geschichtliche Entfaltung erfuhr.

Eine erste, sozusagen propädeutische Phase ist im siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert anzusetzen. In ihr ging es um die Reinigung der Sprache im Sinne grammatikalischer Korrektheit und stilistischer Glätte als Voraussetzung für eine gute Poesie. Zwischen poetischer und nichtpoetischer Sprache wurde kein prinzipieller Unterschied gesehen; im Vers sollte - abgesehen von der metrischen Regulierung - nicht anders geschrieben werden als in der zweckhaften, auf rasche Kommunizierbarkeit ausgerichteten Prosa. Dieses "integrale Konzept" wurde in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts durch die Vorstellung abgelöst, dass die Sprache der Poesie von der normalen Sprache nicht nur abweichen dürfe, sondern abweichen müsse; dass "grammatisch richtig" und "poetisch richtig" zweierlei seien; dass die Poesie in dem Maße an Evokationskraft und sinnlich erfahrbarer Schönheit gewinne, in dem sie sich von der zweckgerichteten und abgenutzten Kommunikationssprache entferne. Das ist die Zeit der beginnenden Klassik, in der Goethe und ihm folgend Schiller dazu übergingen, ihre Dramen nicht mehr in Prosa, sondern in Versen zu schreiben; die Zeit, in der Goethes Freund Karl Philipp Moritz seine Theorie der "schönen" Verssprache und seine idealistische Ästhetik entwickelte; die Zeit, in der nun auch der Begriff der "reinen Poesie" entfaltet wurde. Dieser hat, Brokoff zufolge, drei Aspekte: "Erstens die Reinigung der Poesie von der praktischen Funktion der Sprache, zweitens das Hervortreten der sprachkünstlerischen Form der Poesie und drittens die Reinigung des geschaffenen Kunstwerks von der Individualität des schaffenden Künstlers, die den produktionsästhetischen Ausgangspunkt des Reinigungsprozesses bildet."

Was dies konkret bedeutet, wird in ausführlichen Kapiteln über Goethe, Moritz und Schiller in der Erörterung theoretischer Schriften wie poetischer Werke dargelegt. Neben die sorgfältige Explikation zentraler Begriffe der idealistischen Ästhetik - Schönheit, Spiel, ästhetischer Schein und so weiter - treten umsichtige Interpretationen von Dramen ("Iphigenie" und "Wallenstein") sowie Gedichten, in denen einsichtig gemacht wird, welche Konsequenzen das Konzept der reinen Poesie für die unterschiedlichen Gattungen und die verschiedenen Dimensionen des dichterischen Werks - Form, Sprache, Figurengestaltung - hat. Der Wohlklang der kunstvollen Verssprache soll jene "Stimmung" aufkommen lassen, in der das Gemüt frei wird und die düsteren Fälle des Lebens in heiterer Ruhe bedenken kann. Die Verssprache bewirkt aber nicht nur diesen ästhetischen Zustand; sie kennzeichnet ihn zugleich als einen Zustand eigener Art, der nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln ist - siehe die zehn letzten Verse des Prologs zu "Wallensteins Lager"!

Erstaunlicherweise erhält Hölderlin kein eigenes Kapitel. Brokoff sieht in ihm den Exponenten des Konzepts der "hohen Dichtung", in welcher "der Reinheitsbegriff keine nennenswerte Rolle spielt" und die "ungeputzte" Sprache mit befremdenden Wörtern in sperrigen Fügungen den Vorzug erhält. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Und doch hat man im Ohr, dass es auch bei Hölderlin für den Dichter nichts Wichtigeres gibt, als "reinen Herzens" zu sein, wie es am Ende der "Feiertagshymne" heißt. Und das Gedicht "Hälfte des Lebens", in dem die weißen Dichter-Schwäne ihr "Haupt ins heilignüchterne Wasser tunken" dürfen, ist so gut wie Schillers Gedicht "Das Mädchen aus der Fremde" als eine Spitzenleistung der reinen Poesie zu betrachten, und zwar gerade auch wegen seiner vollendeten sprachlichen Einfachheit und Harmonie. (Freilich steht es singulär in Hölderlins Werk.)

Den Klassiker-Kapiteln folgen vier weitere, die sich der weiteren Entfaltung und der modernen Modifikation des Konzepts der reinen Poesie im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert widmen. An August von Platen betont Brokoff die Diskrepanz zwischen dem Bemühen um formale künstlerische Vollendung und seelischer Zerrüttung, ja Verzweiflung, daneben das Problem des Verhältnisses von Leben und abtötender Form. An Conrad Ferdinand Meyers Lyrik beobachtet er die "reinigende Spracharbeit" ("Kürzen, Konzentrieren, Ausgleichen").

Das Kapitel über Stefan George bietet eine detaillierte Rekonstruktion der von George forcierten Herauslösung des Gedichts aus der "Lebensabhängigkeit" und der Georgeschen Spracharbeit: einer langwierigen Suche nach einer gereinigten Sprache, die über Experimente mit wohlklingenden Geheimsprachen und liedhaft glatten Gedichten zu einer modernisierten Ästhetik der "harten Fügung" nach dem durch Norbert von Hellingrath vermittelten Vorbild Hölderlins führte. Und schließlich das grandiose Kapitel über Hugo Balls dadaistische Lautgedichte: das radikale Einbekenntnis des totalen Sinnverlusts unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkrieges; die Verwerfung einer Sprache, die dennoch Sinn vortäuscht; die Reinigung nicht der Sprache, sondern von der Sprache; die Rückkehr zu den basalen Elementen der Vox humana: "au, oi, uh". Kabarett und Liturgie in einem, Schabernack und Trauer zugleich! In Hugo Balls Lautgedichten findet die Geschichte der reinen Poesie einen Endpunkt und beginnt zugleich eine neue, avantgardistische Reihe. Dem entspricht, dass Brokoff bei ihrer Exegese einerseits auf Moritz' Vorstellungen und Impulse zurückverweist, andererseits aber natürlich auch Balls avantgardistische Zeitgenossen ins Spiel bringt, Kandinsky vor allem und die Futuristen.

Die Vorstellung einer "reinen Poesie" und ihrer reinigenden Wirkung auf das menschliche Gemüt war eine schöne, ja erhabene Idee, die freilich nicht nur mit den Übelständen des Lebens - etwa den hungernden "Strumpfwürckern" in Goethes Apolda - kollidierte, sondern auch ideologisch missbraucht werden konnte, etwa zur ungerechtfertigten Verklärung von Dichterfiguren oder zur perfiden Verharmlosung menschlichen Leids. Auch dies kommt bei Brokoff zur Sprache, verdeckt aber nicht die ursprüngliche Lauterkeit und Humanität jenes anspruchsvollen Kunstkonzepts, an das in heutiger Zeit zu erinnern ein großes Verdienst ist.

Verdienstreich ist Brokoffs Arbeit aber auch insofern, als sie - endlich einmal wieder - mustergültig vor Augen führt, was Philologie ist. Zwar beginnt das Buch mit knappen Reflexionen über den Begriff der Reinheit, die sich auf eine Studie der Religionswissenschaftlerin und Ethnologin Mary Douglas stützen ("Reinheit und Gefährdung", 1966). Aber danach ist von Theorien - den russischen Formalismus ausgenommen - nicht mehr die Rede, sondern von künstlerischen Konzepten und sprachlichen Kunstwerken, soweit nötig, auch von biographischen Voraussetzungen und kulturgeschichtlichen Umständen. Die Gegenstände werden nicht System- oder Feldtheorien unterworfen, vielmehr werden systematische Reihen und theoretische Konklusionen aus den Gegenständen selbst entwickelt. Das hat, wie die Anmerkungen zeigen, nichts mit Unkenntnis oder Theoriefeindlichkeit zu tun, sondern mit einem geradezu unzeitgemäßen Mut, die Dinge primär philologisch und literaturgeschichtlich wahrzunehmen. Im Übrigen bringt Jürgen Brokoff auch in vorbildlicher Weise zur Geltung, auf welchen editorischen und exegetischen Vorleistungen anderer seine "Geschichte der reinen Poesie" aufruht. Auch in dieser Hinsicht ist dieses Buch eine "Summa".

HELMUTH KIESEL

Jürgen Brokoff: "Geschichte der reinen Poesie". Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 607 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der hier rezensierende Heidelberger Literaturprofessor Helmuth Kiesel stellt gleich zu Beginn seiner Rezension klar, dass er nur deshalb nicht über Jürgen Brokoffs "Geschichte der reinen Poesie" ins Schwärmen gerät, weil ihm die akademische Strenge  dies verbiete. Aber eigentlich ist er begeistert von diesem Werk, in dem er die Philologie ihrer Vollendung entgegen gehen sieht. Brockoff schreibt, so erklärt es Kiesel, die Geschichte der "reinen Poesie" vollkommen neu, bisher sei ihr Beginn mit Paul Valerys "poesie pure" zugeschrieben worden. Doch Brockoff verorte sie schon in der deutschen Klassik, die bemüht war, die poetische Sprache von der Gebrauchssprache zu trennen. In weiteren Kapitel wendet sich Brockoff dann August von Platen, Conrad Ferdinand Meyer, Stefan George und - ja - Hugo Ball zu. Dass Hölderlin kein Kapitel hat, erklärt Rezensent Kiesel damit, dass dessen "hohe Dichtung" nicht die "geputzte Sprache" voraussetzt. "Mustergültig" findet Kiesel das Werk.

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