Als Kind ist er ein glühender Sozialist im Superheldenkostüm. Und auch später solidarisiert er - der Wand an Wand mit einem militärischen Folterer wohnt - sich heroisch mit den Schwachen und Verfolgten, und dabei weint er gern und viel. Doch als er Jahre später den Putsch gegen Allende im Fernsehen verfolgt,versiegen ihm plötzlich die Tränen. Und verwirrt hält er eine bitterböse Rückschau auf die kuriosen Stationen seiner politischen Prägung.
Die »Geschichte der Tränen« erzählt eine verstörende Episode der argentinischen Geschichte. Und dabei macht sie, inmitten des lärmenden Getöses der Politik, die leisen Töne des Privaten hörbar.
Die »Geschichte der Tränen« erzählt eine verstörende Episode der argentinischen Geschichte. Und dabei macht sie, inmitten des lärmenden Getöses der Politik, die leisen Töne des Privaten hörbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2010Verrat hinter den Ray-Ban-Sonnenbrillen
Das Drama des sensiblen Kindes: Der Romancier Alan Pauls tanzt den barocken Tango von Sadist und Märtyrer
Alan Pauls' "Geschichte der Tränen" klingt weniger nach einem Entwicklungsroman als nach einer Abrechnung des Erzählers mit sich selbst. Der Ton ist getrieben, ein fast peitschender Rhythmus, der dekretiert, indem er erkennt, und wahrnimmt, indem er zu dozieren scheint. Die tiefe Verstörung auf dem Grund dieser Stimme ist zugleich ihr Gegenstand: ein Tango von Sadist und Märtyrer, von Selbstgerechtigkeit und Ausgeliefertheit. Die Kräfte, die in dieser Literatur am Werk sind, werden in einer biographischen Engführung kartografiert. Mit vier Jahren verliert der Held durch Scheidung seinen Vater, der sich stürmisch klingelnd nur noch samstags zeigt, um seinen Sprössling ins Schwimmbad zu entführen. Dort ahnt der Junge bald den Verrat, der hinter dem Singleparadies wie die Spuren der Nacht hinter den Ray-Ban-Sonnenbrillen lauert. Doch nicht nur in der Dating-Szene sind Kinder unliebsame "Bälger", der Mutter, den Großeltern, dem Kindermädchen - allen machen sie den Lebensentwurf kaputt.
Das Drama des hypersensiblen Kindes, das für sein eigenes Wohl zu viel versteht, stellt sich ihm als Dilemma seines Cartoon-Vorbilds dar: Ein unbestechliches Moralgefühl hindert Superman in lebensbedrohenden Situationen, pragmatisch zu handeln. Weil er das Übel, das einem Bettler zu widerfahren droht, zum Zwecke der Selbstrettung nicht hintanstellt, "gerät er in eine Position der Schwäche". Der Protagonist des argentinischen Romanciers verschreibt sich zunächst dieser Schwäche, dem zerreißenden Schmerz und den Tränen, die er als eine Art Währung all jenen zollt, die sich ihm epidemisch anvertrauen. Doch dieses Verletzlichkeit mit Kraft verbindende Ideal-Ich wird brüchig, als ihn der Vater zum Auftritt eines Protestsängers einlädt. Der Abend wird zum Datum einer angewiderten Berufung. Abgestoßen von der "schwülstigen Menschlichkeit" der Lieder und der "Empfindsamkeitsindustrie", die sich ihm in deren Kielwasser offenbart, wechselt der Sohn auf die Seite der Kälte, beginnt seinen Vater zu verachten, bricht abrupt mit seiner Freundin und akzeptiert doch den Auftrag des Barden, die eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen, statt immer nur der Schwamm für andere zu sein.
Für eine Weile gelingt es ihm, Gefühl und Härte durch fiebrige Politisierung zu versöhnen. Unter dem Eindruck, weniger des argentinischen Militärputsches als der verzweifelten Betroffenheit eines Freundes, kopiert er dessen Passion und wird zum ideologischen Partisanen der Revolutionären Volksarmee. Unterminiert wird diese neue Sicherheit durch eine ungeheuerliche Begebenheit, die mit einem Nachbarn zu tun hat, in dessen Obhut die Mutter den Sohn in schöner Regelmäßigkeit gab. Als ewiger Uniformträger zählt dieser längst verschwundene Nachbar im Rückblick zur Clique der "Außerirdischen", des Militärs, das die Straßen peinlichst kontrollierte. Doch dann fällt Pauls' Helden etwas in die Hand, das seine Geschichte ganz am Ende des Buches noch einmal von Grund auf umschreibt. Mit einem Schlag wird Superman zugleich rehabilitiert und vernichtend geschlagen. Auch in der Anagnorisis, dem Moment des katastrophalen Wiedererkennens, verliert die Wahrheit nichts von ihrer Maserung: Stärke ist Schwäche, und Schwäche ist Stärke, es gibt keinen Ausweg aus dem Schmerz, den der Protagonist sich zum Lebensthema gewählt hat. Die Auflösung ist allegorisch; und ihr Schlüssel vermittelt sich dem Helden über eine traumgleiche Szene aus seinem Gedächtnis, einen Moment des magischen Realismus, der sich wie ein Wasserzeichen durch lateinamerikanische Romane zieht.
Vielleicht läuft es auf das Gleiche hinaus, Alan Pauls barock zu nennen. Wenn sein in Kreisen prozessierender Duktus einerseits an die sezierende Atemlosigkeit eines Peter Weiss und andererseits an die stoische Belanglosigkeit einer Gertrude Stein erinnert, so könnte er in seinem Schwanken zwischen leerer Bedeutungsschwere und routinierter Erhabenheit mit einer Messelitanei verglichen werden. Wäre da nicht der beständige Oberton eines Fauchens, der nicht vergessen lässt, dass sich Satz für Satz um einen Exorzismus dreht und in der erkühnten Nähe zur Dämonie der Gefühle nicht nur das Rettende liegt.
INGEBORG HARMS
Alan Pauls: "Geschichte der Tränen". Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010. 144 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Drama des sensiblen Kindes: Der Romancier Alan Pauls tanzt den barocken Tango von Sadist und Märtyrer
Alan Pauls' "Geschichte der Tränen" klingt weniger nach einem Entwicklungsroman als nach einer Abrechnung des Erzählers mit sich selbst. Der Ton ist getrieben, ein fast peitschender Rhythmus, der dekretiert, indem er erkennt, und wahrnimmt, indem er zu dozieren scheint. Die tiefe Verstörung auf dem Grund dieser Stimme ist zugleich ihr Gegenstand: ein Tango von Sadist und Märtyrer, von Selbstgerechtigkeit und Ausgeliefertheit. Die Kräfte, die in dieser Literatur am Werk sind, werden in einer biographischen Engführung kartografiert. Mit vier Jahren verliert der Held durch Scheidung seinen Vater, der sich stürmisch klingelnd nur noch samstags zeigt, um seinen Sprössling ins Schwimmbad zu entführen. Dort ahnt der Junge bald den Verrat, der hinter dem Singleparadies wie die Spuren der Nacht hinter den Ray-Ban-Sonnenbrillen lauert. Doch nicht nur in der Dating-Szene sind Kinder unliebsame "Bälger", der Mutter, den Großeltern, dem Kindermädchen - allen machen sie den Lebensentwurf kaputt.
Das Drama des hypersensiblen Kindes, das für sein eigenes Wohl zu viel versteht, stellt sich ihm als Dilemma seines Cartoon-Vorbilds dar: Ein unbestechliches Moralgefühl hindert Superman in lebensbedrohenden Situationen, pragmatisch zu handeln. Weil er das Übel, das einem Bettler zu widerfahren droht, zum Zwecke der Selbstrettung nicht hintanstellt, "gerät er in eine Position der Schwäche". Der Protagonist des argentinischen Romanciers verschreibt sich zunächst dieser Schwäche, dem zerreißenden Schmerz und den Tränen, die er als eine Art Währung all jenen zollt, die sich ihm epidemisch anvertrauen. Doch dieses Verletzlichkeit mit Kraft verbindende Ideal-Ich wird brüchig, als ihn der Vater zum Auftritt eines Protestsängers einlädt. Der Abend wird zum Datum einer angewiderten Berufung. Abgestoßen von der "schwülstigen Menschlichkeit" der Lieder und der "Empfindsamkeitsindustrie", die sich ihm in deren Kielwasser offenbart, wechselt der Sohn auf die Seite der Kälte, beginnt seinen Vater zu verachten, bricht abrupt mit seiner Freundin und akzeptiert doch den Auftrag des Barden, die eigenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen, statt immer nur der Schwamm für andere zu sein.
Für eine Weile gelingt es ihm, Gefühl und Härte durch fiebrige Politisierung zu versöhnen. Unter dem Eindruck, weniger des argentinischen Militärputsches als der verzweifelten Betroffenheit eines Freundes, kopiert er dessen Passion und wird zum ideologischen Partisanen der Revolutionären Volksarmee. Unterminiert wird diese neue Sicherheit durch eine ungeheuerliche Begebenheit, die mit einem Nachbarn zu tun hat, in dessen Obhut die Mutter den Sohn in schöner Regelmäßigkeit gab. Als ewiger Uniformträger zählt dieser längst verschwundene Nachbar im Rückblick zur Clique der "Außerirdischen", des Militärs, das die Straßen peinlichst kontrollierte. Doch dann fällt Pauls' Helden etwas in die Hand, das seine Geschichte ganz am Ende des Buches noch einmal von Grund auf umschreibt. Mit einem Schlag wird Superman zugleich rehabilitiert und vernichtend geschlagen. Auch in der Anagnorisis, dem Moment des katastrophalen Wiedererkennens, verliert die Wahrheit nichts von ihrer Maserung: Stärke ist Schwäche, und Schwäche ist Stärke, es gibt keinen Ausweg aus dem Schmerz, den der Protagonist sich zum Lebensthema gewählt hat. Die Auflösung ist allegorisch; und ihr Schlüssel vermittelt sich dem Helden über eine traumgleiche Szene aus seinem Gedächtnis, einen Moment des magischen Realismus, der sich wie ein Wasserzeichen durch lateinamerikanische Romane zieht.
Vielleicht läuft es auf das Gleiche hinaus, Alan Pauls barock zu nennen. Wenn sein in Kreisen prozessierender Duktus einerseits an die sezierende Atemlosigkeit eines Peter Weiss und andererseits an die stoische Belanglosigkeit einer Gertrude Stein erinnert, so könnte er in seinem Schwanken zwischen leerer Bedeutungsschwere und routinierter Erhabenheit mit einer Messelitanei verglichen werden. Wäre da nicht der beständige Oberton eines Fauchens, der nicht vergessen lässt, dass sich Satz für Satz um einen Exorzismus dreht und in der erkühnten Nähe zur Dämonie der Gefühle nicht nur das Rettende liegt.
INGEBORG HARMS
Alan Pauls: "Geschichte der Tränen". Roman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010. 144 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Karin Ceballos Betancur schätzt Alan Pauls' Roman "Geschichte der Tränen", nach ihren Informationen Auftakt zu einer Trilogie zur Geschichte der argentinischen Diktatur. Ein mit den Mitteln der Belletristik arbeitendes Geschichtsbuch, eine weitere Variante der Erzählungen über den Terror sieht die Rezensentin aber nicht in dem Werk. Sie hebt hervor, dass Pauls die Zeit der Diktatur selbst, 1976 bis 1983, nicht erzählt, sondern sich auf das Vorher und das Nachher beschränkt, also nicht den Tumor der Diktatur angeht, sondern die "Metastasen im umgebenden Gewebe" untersucht. Im Mittelpunkt sieht sie die Geschichte eines politisch frühreifen Kindes, das sich nach der Trennung seiner Eltern emotional verliert. Der Stil des Autors, seine langen, verschränkten Sätze, spiegeln für Betancur das fehlende Innenleben des Jungen, der für seine Empfindsamkeit bekannt ist, die er aber seltsamer Weise beim Ansehen von Fernsehbildern über den Putsch in Chile verliert. Als Zugang zur Geschichte des argentinischen Diktatur schätzt die Rezensentin den Roman als "voraussetzungsvoll, manchmal auch mühsam, aber in jedem Fall lohnend".
© Perlentaucher Medien GmbH
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