Früher oder später wird alles weggeworfen. In der Konsumgesellschaft wandern aber auch gebrauchsfähige und neuwertige Produkte auf den Müll. Solche Verhaltensweisen sind das Ergebnis eines langfristigen Prozesses, entstanden über einen Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten. Vorläufer waren die USA, die Bundesrepublik Deutschland zog nach. Angefangen hat es um die Jahrhundertwende mit Hygieneartikeln wie Toilettenpapier, Monatsbinden, Windeln und Papiertaschentüchern; nach dem Zweiten Weltkrieg kamen bald eine Vielzahl weiterer Wegwerfartikel hinzu: Pappbecher und Plastikgeschirr, Nylonstrümpfe und Kugelschreiber, Rasierklingen, Getränkedosen und vieles andere mehr. Wolfgang König zeigt, wie die Wirtschaft und die Konsumenten gemeinsam das Wegwerfen zur Routine gemacht haben - und diskutiert Möglichkeiten, die Wegwerfgesellschaft zu überwinden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2020Ab in die Tonne
Die Geschichte der Wegwerfgesellschaft
"Unsere ungeheuer produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zur Weltanschauung machen, dass wir die Befriedigung unseres Ichs im Verbrauch suchen . . . Die Dinge müssen immer schneller konsumiert, verzehrt, verschlissen, ersetzt und weggeworfen werden", klagte bereits 1960 der amerikanische Ökonom Vance Packard in seinem Bestseller "The Waste Makers" (deutsch: "Die große Verschwendung"), in dem er die wachsende Wegwerfmentalität seiner Landsleute beschrieb. Dieser Trend hat sich rapide fortgesetzt: Täglich wandern in den entwickelten Konsumgesellschaften Sachen aller Art aus den verschiedensten Gründen auf den Müll. Selbst tadellos erhaltene, gebrauchsfähige und sogar neuwertige Produkte. "Wegwerfen ist zu einer ubiquitären Handlung geworden", sagt Wolfgang König, der bis 2014 als Professor für Technikgeschichte an der TU Berlin lehrte. Der Vorgang sei ein "Wohlstandsphänomen" unserer Überflussgesellschaft. Dazu geführt habe ein langer Prozess über mehr als ein Jahrhundert, in dem die Dinge immer billiger geworden seien, so dass sich reparieren, umnutzen oder wiederaufbereiten einfach nicht mehr lohnte.
In seiner "Geschichte Wegwerfgesellschaft" zeigt der Technikhistoriker, wie es im Gefolge von immer günstiger verfügbaren Produkten zu diesem Verhalten gekommen ist. Sein Blick richtet sich konkret auf die Bundesrepublik, sodass dem Leser viele extrem kurzlebige Dinge aus dem gängigen Warenkorb begegnen. Angefangen hat der rasche Weg in die Tonne offenbar mit Hygiene-Artikeln wie Toilettenpapier, Monatsbinden, Kondomen, Babywindeln und Papiertaschentüchern. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zahlreiche weitere Wegwerfobjekte hinzu - Nylonstrümpfe, Kugelschreiber, Rasierklingen, Getränkedosen, Pappbecher, Plastikgeschirr und vor allem Berge von Verpackungsmaterial.
Produzenten und Konsumenten hätten dabei einträchtig zusammengewirkt. Die Suche nach Tätern und Opfern sei deshalb müßig, Schuldzuweisungen ebenso: "Die Interessen ergänzen sich", urteilt König. "Den Konsumenten gewähren die Wegwerfprodukte Komfort und Bequemlichkeit. Bei den Produzenten und dem Handel steigern sie Umsatz und Gewinn." Die komplizierte Interaktion zwischen Wirtschaft und Konsum demonstriert der Verfasser nüchtern und sachlich - etwa am historischen Beispiel der laufmaschenfesten Nylon-Strümpfe, die von den Kundinnen nicht angenommen wurden, weil sie schlechter am Bein aussahen als die dünnen, permanent laufmaschengefährdeten Sorten. Einwegartikel versprechen im Alltag oft Arbeitsersparnis und Effizienz. Die wachsende Neigung zum Wegwerfen sieht König befördert durch veränderte Lebens-, Einkaufs- und Essgewohnheiten, wie sie nicht zuletzt die Massenmobilisierung durch Auto, Digitalisierung und soziale Netzwerke, die wachsende Berufstätigkeit von Frauen sowie die Individualisierung und Vereinzelung in immer mehr Single-Haushalten mit sich brachten.
Für seine schmalen 140 Textseiten hat Wolfgang König eine beachtliche Zahl von Quellen durchforstet. Sein Literaturverzeichnis verweist auf rund 270 Titel, darunter wissenschaftliche Veröffentlichungen, politische Gutachten und Firmenarchivbestände ebenso wie Werbekataloge und Presseberichte. Die Analyse beginnt mit der geschichtlichen Entwicklung von Industrie- und Siedlungsabfällen. Danach schildert der Autor, wie sich der Anteil von Hygienartikeln, Lebensmitteln, Kleidung und Mobilar am Müllaufkommen entwickelt hat. Unter der Überschrift "Pioniere und Perversitäten des Wegwerfens" beschreibt König exemplarisch die spektakuläre Karriere einiger Produkte als Wegwerfartikel. Dazu gehören Kugelschreiber, die innerhalb von sieben Jahrzehnten aus einer teuren Innovation der britischen Luftwaffe, die ein funktionierendes Schreibgerät für ihre Piloten in großer Höhe benötigte, zu allgegenwärtigen, weitgehend kostenlosen Werbeträgern wurden.
Das Verlangen nach Bequemlichkeit, Hygiene und modischer Erneuerung bestimmt laut König unser Wegwerfverhalten stark. Energisch wendet er sich dabei gegen Verschwörungstheoretiker, die behaupten, die Wirtschaft plane systematisch "Obsoleszenz". Also Sterbedaten etwa von Glühlampen, Tintenstrahldruckern und Kühlschränken, um Konsumenten zum Neukauf zu veranlassen. Dieser Vorwurf sei unsinnig, sagt König. Man könne zwar aus guten Gründen die Auffassung vertreten, dass zahlreiche Produkte eine unzureichende Lebensdauer hätten. "Das heißt aber nicht, dass die Hersteller gezielt Schwachstellen einbauen, damit die Produkte frühzeitig kaputt gehen." Eine solche Strategie mache wenig Sinn, weil viele andere Teile im Gerät dann überdimensioniert und zu teuer produziert wären.
Allenfalls individuelle Genügsamkeit beim Konsum könne helfen, die Ressourcenverschwendung in die Mülltonnen zu mindern, meint König am Schluss seines Buches. Sein Vorläufer Vance Packard rief vor 60 Jahren die amerikanischen "Waste Makers" dazu auf, mit ihrem Überfluss leben zu lernen, ohne sich zwangsläufig zu blinden Narren dieses Überflusses zu machen. Wolfgang König fordert nun zur Abkehr von der Wegwerfgesellschaft im Klartext ganz pragmatisch, "weniger zu produzieren, zu konsumieren und wegzuwerfen sowie Produkte länger zu nutzen". In die Pflicht nimmt auch er letztlich die Verbraucher, die entscheiden müssten, auf was sie bereit sind zu verzichten: "Bei Kugelschreibern wird dies leichtfallen. Besonders bei Hygieneprodukten wiegen die Vorteile schwerer." Kein Wegwerfprodukt sei unverzichtbar, überall stünden Alternativen zur Verfügung.
ULLA FÖLSING
Wolfgang König: "Geschichte der Wegwerfgesellschaft", Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019, 168 Seiten, 21,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Geschichte der Wegwerfgesellschaft
"Unsere ungeheuer produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zur Weltanschauung machen, dass wir die Befriedigung unseres Ichs im Verbrauch suchen . . . Die Dinge müssen immer schneller konsumiert, verzehrt, verschlissen, ersetzt und weggeworfen werden", klagte bereits 1960 der amerikanische Ökonom Vance Packard in seinem Bestseller "The Waste Makers" (deutsch: "Die große Verschwendung"), in dem er die wachsende Wegwerfmentalität seiner Landsleute beschrieb. Dieser Trend hat sich rapide fortgesetzt: Täglich wandern in den entwickelten Konsumgesellschaften Sachen aller Art aus den verschiedensten Gründen auf den Müll. Selbst tadellos erhaltene, gebrauchsfähige und sogar neuwertige Produkte. "Wegwerfen ist zu einer ubiquitären Handlung geworden", sagt Wolfgang König, der bis 2014 als Professor für Technikgeschichte an der TU Berlin lehrte. Der Vorgang sei ein "Wohlstandsphänomen" unserer Überflussgesellschaft. Dazu geführt habe ein langer Prozess über mehr als ein Jahrhundert, in dem die Dinge immer billiger geworden seien, so dass sich reparieren, umnutzen oder wiederaufbereiten einfach nicht mehr lohnte.
In seiner "Geschichte Wegwerfgesellschaft" zeigt der Technikhistoriker, wie es im Gefolge von immer günstiger verfügbaren Produkten zu diesem Verhalten gekommen ist. Sein Blick richtet sich konkret auf die Bundesrepublik, sodass dem Leser viele extrem kurzlebige Dinge aus dem gängigen Warenkorb begegnen. Angefangen hat der rasche Weg in die Tonne offenbar mit Hygiene-Artikeln wie Toilettenpapier, Monatsbinden, Kondomen, Babywindeln und Papiertaschentüchern. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zahlreiche weitere Wegwerfobjekte hinzu - Nylonstrümpfe, Kugelschreiber, Rasierklingen, Getränkedosen, Pappbecher, Plastikgeschirr und vor allem Berge von Verpackungsmaterial.
Produzenten und Konsumenten hätten dabei einträchtig zusammengewirkt. Die Suche nach Tätern und Opfern sei deshalb müßig, Schuldzuweisungen ebenso: "Die Interessen ergänzen sich", urteilt König. "Den Konsumenten gewähren die Wegwerfprodukte Komfort und Bequemlichkeit. Bei den Produzenten und dem Handel steigern sie Umsatz und Gewinn." Die komplizierte Interaktion zwischen Wirtschaft und Konsum demonstriert der Verfasser nüchtern und sachlich - etwa am historischen Beispiel der laufmaschenfesten Nylon-Strümpfe, die von den Kundinnen nicht angenommen wurden, weil sie schlechter am Bein aussahen als die dünnen, permanent laufmaschengefährdeten Sorten. Einwegartikel versprechen im Alltag oft Arbeitsersparnis und Effizienz. Die wachsende Neigung zum Wegwerfen sieht König befördert durch veränderte Lebens-, Einkaufs- und Essgewohnheiten, wie sie nicht zuletzt die Massenmobilisierung durch Auto, Digitalisierung und soziale Netzwerke, die wachsende Berufstätigkeit von Frauen sowie die Individualisierung und Vereinzelung in immer mehr Single-Haushalten mit sich brachten.
Für seine schmalen 140 Textseiten hat Wolfgang König eine beachtliche Zahl von Quellen durchforstet. Sein Literaturverzeichnis verweist auf rund 270 Titel, darunter wissenschaftliche Veröffentlichungen, politische Gutachten und Firmenarchivbestände ebenso wie Werbekataloge und Presseberichte. Die Analyse beginnt mit der geschichtlichen Entwicklung von Industrie- und Siedlungsabfällen. Danach schildert der Autor, wie sich der Anteil von Hygienartikeln, Lebensmitteln, Kleidung und Mobilar am Müllaufkommen entwickelt hat. Unter der Überschrift "Pioniere und Perversitäten des Wegwerfens" beschreibt König exemplarisch die spektakuläre Karriere einiger Produkte als Wegwerfartikel. Dazu gehören Kugelschreiber, die innerhalb von sieben Jahrzehnten aus einer teuren Innovation der britischen Luftwaffe, die ein funktionierendes Schreibgerät für ihre Piloten in großer Höhe benötigte, zu allgegenwärtigen, weitgehend kostenlosen Werbeträgern wurden.
Das Verlangen nach Bequemlichkeit, Hygiene und modischer Erneuerung bestimmt laut König unser Wegwerfverhalten stark. Energisch wendet er sich dabei gegen Verschwörungstheoretiker, die behaupten, die Wirtschaft plane systematisch "Obsoleszenz". Also Sterbedaten etwa von Glühlampen, Tintenstrahldruckern und Kühlschränken, um Konsumenten zum Neukauf zu veranlassen. Dieser Vorwurf sei unsinnig, sagt König. Man könne zwar aus guten Gründen die Auffassung vertreten, dass zahlreiche Produkte eine unzureichende Lebensdauer hätten. "Das heißt aber nicht, dass die Hersteller gezielt Schwachstellen einbauen, damit die Produkte frühzeitig kaputt gehen." Eine solche Strategie mache wenig Sinn, weil viele andere Teile im Gerät dann überdimensioniert und zu teuer produziert wären.
Allenfalls individuelle Genügsamkeit beim Konsum könne helfen, die Ressourcenverschwendung in die Mülltonnen zu mindern, meint König am Schluss seines Buches. Sein Vorläufer Vance Packard rief vor 60 Jahren die amerikanischen "Waste Makers" dazu auf, mit ihrem Überfluss leben zu lernen, ohne sich zwangsläufig zu blinden Narren dieses Überflusses zu machen. Wolfgang König fordert nun zur Abkehr von der Wegwerfgesellschaft im Klartext ganz pragmatisch, "weniger zu produzieren, zu konsumieren und wegzuwerfen sowie Produkte länger zu nutzen". In die Pflicht nimmt auch er letztlich die Verbraucher, die entscheiden müssten, auf was sie bereit sind zu verzichten: "Bei Kugelschreibern wird dies leichtfallen. Besonders bei Hygieneprodukten wiegen die Vorteile schwerer." Kein Wegwerfprodukt sei unverzichtbar, überall stünden Alternativen zur Verfügung.
ULLA FÖLSING
Wolfgang König: "Geschichte der Wegwerfgesellschaft", Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019, 168 Seiten, 21,90 Euro.
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" Das Buch ist [...] mehr fundierte Analyse denn Ratgeber" wig LEO, 27.12.2019 20200917