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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2013

Diese schreiende Quellenarmut muss bestraft werden
Technikgeschichte hat ernsthafte Autoren verdient: Der Nachdruck von Anton Dauls Fahrradbuch ist ein Ärgernis

Manchmal erschließt schon der Blick in ein Buch den Stellenwert des zugehörigen Fachs. Die schlechte Nachricht ist, dass das vorliegende Buch schlagend das Elend der deutschen Technik-Historiographie belegt. Die gute Nachricht lautet, dass es immer mehr Interessierte gibt, die in Wikipedia technikhistorische Inhalte einbringen, welche im Brockhaus nicht die leiseste Chance gehabt hätten.

Die erfreuliche neue Leserkompetenz hat sich in den Verlagslektoraten offenbar noch nicht herumgesprochen. Nur so lässt sich erklären, warum ausgerechnet das Buch eines deutschamerikanischen Journalisten von 1906 jetzt wieder neu aufgelegt wird, der infolge seines Arbeitslebens in New York und Milwaukee längst eines einwandfreien Deutschs nicht mehr mächtig war. Schlimme Folge: Es gibt darin zuhauf ganz unterschiedliche Bezeichnungen derselben Sache. Nur ein Beispiel: Der Fahrradreifen heißt bei ihm mal "pneumatischer Radkranz", mal "Pressluftreif"! Bei allem Respekt vor dem volkseigenen Zentralantiquariat zu Leipzig, welches das Werklein zufällig im Bestand hatte und 1988 erstmals nachdruckte - so etwas ist schlicht unzumutbar.

Der Verfasser war bereits sechsundachtzig Jahre alt, als er seinen Zettelkasten auskippte, ausgeschnitten aus den Zeitschriften "La Nature", "London Graphic" und "Scientific American", und daraus das Buch bastelte. Seit seinem Übertritt in den Ruhestand hatte er vielerlei publiziert: über Hufeisen, Kakteen, Liebe, Perpetuum mobile, Ziegenhaltung, Treibhaus-Gärtnerei, das neue Bürgerliche Gesetzbuch und Langlebigkeit. Es fällt auf, dass er jedes Mal zu einem neuen Verlag wechseln musste. Schließlich entdeckte er 1905 in einer Schrift die Gefahren des Radfahrens und deren mögliche Vermeidung. Seitdem fühlte sich Daul wohl als Fachmann.

In Wirklichkeit behandeln gerade einmal vierzehn oberflächliche Seiten des hundertseitigen Buches das vom Titel versprochene Thema "Illustrierte Geschichte der Erfindung des Fahrrads" - mit all den notorischen nationalistischen Prioritätsschwindeln, was Daul damals nicht wissen konnte, aber heute nicht mehr unkorrigiert unter die Leute gebracht werden darf. Dass seit 1990 die International Cycling History Conference die Fahrradgeschichte vollkommen neu schreibt, ist an dieser Neuauflage vorbeigegangen. Denn das verdienstvolle Nachwort des Leipzigers Gerd Schellenberg, das aus dem Sammelsurium noch einen Schuh machen wollte, ist auch schon ein Vierteljahrhundert alt.

Weiter geht es mit "Verschiedenen interessanten Fahrrad-Konstruktionen", wobei Skurrilität das Auswahlprinzip gewesen sein dürfte. Das ist denn auch der einzige Nachweis, den das Buch liefert, nämlich dass das Fahrrad 1906 bereits als bewundertes Statussymbol der Besserverdienenden ausgedient hatte und das Motorrad zum neuen Wunschobjekt wurde. Auf den folgenden Seiten, betitelt "Das Motor-Fahrrad", geht es denn auch wesentlich ernster zur Sache: Motorräder der Marken "Komet" und "Neckarsulm" werden vorgestellt. Den Schluss bildet "Buntes Allerlei", vor allem aus den Vereinigten Staaten.

Mittlerweile lassen sich bereits die Folgen der bisherigen Daulschen Reprints besichtigen. Die Technikhistoriker der ETH Zürich stellten einen Aufsatz ins Netz: "Das Fahrrad: Wegbereiter oder überrolltes Leitbild?" Die Scheinalternative - es war ja erst das eine, dann das andere - wird dahingehend beantwortet, dass das Fahrrad bereits von den frühen Automobilen ignoriert bis überrollt worden sei. Einzige zeitgenössische Quelle neben einem Roman: der Daul! Solch verquere Schlussfolgerung verlangt geradezu nach einem Entzugsverfahren der akademischen Grade wegen schreiender Quellenarmut, nicht nur wie aktuell bei Zitiersünden.

Im Jahr 2017 wird das Fahrrad zweihundert Jahre alt. Vor allem die angloamerikanische Welt wird auf die Bundesrepublik blicken, wie hier der Urknall der individuellen Mobilität von 1817 gefeiert wird. Dass die Wiederauflage des Daul im Untertitel gar als "Lehrbuch zum Selbstunterricht" angepriesen wird, schlägt dem Fass den Boden aus und lässt für das Jubiläumsjahr nichts Gutes erwarten.

HANS-ERHARD LESSING

Anton Daul: "Illustrierte Geschichte der Erfindung des Fahrrades".

Reprint der Originalausgabe Dresden 1906. Reprint Verlag Leipzig, Darmstadt 2013. 128 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].

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