In diesem Handbuch unternehmen namhafte Politikwissenschaftler und Philosophen aus dem In- und Ausland in 53 Kapiteln exemplarische Interpretationen jener "klassischen" Werke, die das politische Denken von der Antike bis zur Gegenwart geprägt haben. Entstanden ist ein unfassendes Kompendium, das in informativen wie zugänglichen Artikeln die "Geschichte des politischen Denkens" erschließt. Das Handbuch richtet sich gleichermaßen an Experten wie Laien und ist insbesondere für den Gebrauch an Schulen und Universitäten gedacht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2018Zu wenig und zu viel
Die "Geschichte des politischen Denkens" im 20. Jahrhundert ist nicht ganz geglückt
Es ist ein enges Korsett, das der Herausgeber Manfred Brocker den Autoren seiner "Geschichte des politischen Denkens" offenbar verschrieben hat: Auf je fünfzehn bis siebzehn Seiten soll ein Buch (oder Aufsatz) der zu behandelnden Autorinnen und Autoren vorgestellt werden. Das setzt den Artikeln enge Grenzen, zumal wenn es um umfangreiche und komplexe Werke geht und noch biographische Daten und Informationen über die zeitgeschichtlichen Umstände der Entstehung zumindest angedeutet werden sollen. Dass diese Grenzen zu eng sind, zeigt sich besonders deutlich am zweiten Band der Geschichte, der dem 20. Jahrhundert gewidmet ist. Da tauchen mehrere Autoren, die schon im ersten Band abgehandelt worden waren, noch einmal auf, mit einem zweiten Buch oder Aufsatz: Hannah Arendt etwa war im ersten Band mit "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" vertreten, im zweiten wird "Vita Activa" vorgestellt; da dies zwei verschiedene Verfasser tun, sind die Artikel auch nicht wirklich komplementär. Bei Max Weber ("Politik als Beruf" und "Wirtschaft und Gesellschaft") verhält es sich ebenso. Dass man auf 15 Seiten dem philosophisch voraussetzungsvollsten Werk Arendts ("Vita Activa") oder dem gewaltigen Steinbruch, den Max Weber mit "Wirtschaft und Gesellschaft" hinterlassen hat, nicht wirklich gerecht werden kann, versteht sich von selbst. An Lenins historischer Rolle besteht kein Zweifel; man kann sich dennoch fragen, ob sein politisches Denken zwei Artikel (über "Staat und Revolution" sowie "Was tun?") wert ist oder ob Michel Foucault als politischer Denker so bedeutend war, dass er zweimal gewürdigt werden muss.
Es ist auch die Frage, ob eine Geschichte des politischen Denkens, deren zwei Bände insgesamt mehr als 1700 Seiten umfasst, richtig gewichtet ist, wenn sie aus einer Zeitspanne von mehr als zwei Jahrtausenden zwei Drittel ihres Umfangs dem 20. Jahrhundert widmet. Was die intellektuelle Substanz, die Bedeutung und die Wirkmacht bis heute angeht, dürften Platon und Aristoteles oder Hobbes, Rousseau und Marx immer noch vor Colin Crouch oder Naomi Klein rangieren. Es leuchtet auch nicht recht ein, warum der hier zu besprechende zweite Band seine 62 Autoren jeden für sich abhandelt: Manche hätte man gut und gerne (und womöglich dem Verständnis zuträglicher) als Teil einer Denkschule vorstellen können, etwa unter den Sammelbegriffen "ökonomische Theorie der Politik", "Neo-Kontraktualismus" oder "Neo-Marxismus", wie das Henning Ottmann in seiner magistralen Geschichte des politischen Denkens getan hat. Bei manchen "Denkern und Denkerinnen" lässt sich auch bezweifeln, ob ihnen der Rang gebührt, in eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert aufgenommen zu werden - und das im gleichen Umfang, der im ersten Band Hegel oder Marx gewidmet war oder in diesem Band beispielsweise Carl Schmitt, der unzweifelhaft zum Klassiker avanciert ist.
Die Verfasser haben, soweit der Rezensent das beurteilen kann, 62 kenntnisreiche Artikel für das Handbuch geliefert. Dass die sich, trotz des verordneten Korsetts, unterscheiden, liegt an den vorzustellenden Texten, aber auch am Temperament der Autoren. Manche Artikel sind deskriptiv-analytisch, was dazu führt, dass sie sich wie eine Inhaltsangabe oder Rezension des besprochenen Werkes lesen. Das ist manchmal gelungen, etwa im Fall Joseph Schumpeters, doch manchmal auch recht schlicht (David Easton). Andere greifen - man könnte sagen: notgedrungen - über den besprochenen Text auf das Gesamtwerk aus, um das Denken ihres Autors einigermaßen verständlich zu machen. Einige Artikel sind affirmativ, offenbar von Anhängern der besprochenen Denker oder Denkerinnen verfasst. Darunter gibt es Texte, die nur Eingeweihten zugänglich sind. Am krassesten tritt dies bei der Vorstellung eines Aufsatzes der indischen "postkolonialen Feministin" Gayatri Chakravorty Spivak hervor, die versucht, Foucault und Gilles Deleuze dekonstruktiv zu überbieten. Bei anderen Artikeln fällen deren Verfasser über die behandelten Autoren Urteile, welche die Zweifel bestärken, ob diese wirklich etwas Substantielles zum politischen Denken des 20. Jahrhunderts beigetragen haben, etwa im Fall von Milton Friedman oder James Buchanan.
Schließlich wirft das Buch die Frage auf, für welche Zielgruppe es überhaupt gedacht ist. Auf dem Büchermarkt gibt es einige Geschichten des politischen Denkens wie etwa die erwähnte mehrbändige von Henning Ottmann, die inzwischen auch als preiswerte Taschenbuchausgabe existiert, oder das von Iring Fetscher und Herfried Münkler herausgegebene fünfbändige "Handbuch der politischen Ideen". Gerade wenn man sich deren Aufbau ansieht, wirken die Machart und die Autoren-Auswahl Brockers problematisch. Warum werden beispielsweise amerikanische Kommunitaristen (Michael Walzer schon im ersten Band, hier Benjamin Barber und Michael Sandel) behandelt, aber nicht der französische Historiker und Politologe Pierre Rosanvallon, der substantielle Forschungen über die Geschichte der Demokratie und über die Möglichkeiten ihrer Reform vorgelegt hat? Dankenswerterweise tauchen mit Hans Morgenthau und Kenneth Waltz oder Samuel Huntington Autoren auf, die sich vornehmlich mit internationaler Politik befasst haben. Aber hätten in diese Reihe nicht auch Henry Kissinger oder Raymond Aron gehört, zwei wichtige Denker des Zeitalters der atomaren Bedrohung mit seinem "Gleichgewicht des Schreckens"?
Nicht zuletzt: Wer sollen die Leser und Nutzer dieses Buches sein? Viele Artikel sind für Studienanfänger zu voraussetzungsvoll, was manchmal daran liegt, dass die Verfasser in Jargon verfallen, viel öfter aber damit zu tun hat, dass die verordnete Kürze die Autoren dazu zwingt, ihre Argumentation so stark zu kondensieren und zu konzentrieren, dass die komplexen Gedankengänge als Einführung kaum taugen. Wer sich dagegen in der Materie besser auskennt und sich vertieft mit ihr beschäftigen will, für den sind viele Artikel wiederum nicht ausführlich oder "tief" genug, zumal wenn die entsprechenden Denker vor allem aus einem historischen Kontext zu verstehen sind (etwa Lenin oder Gandhi), der in aller Regel zu kurz kommt.
Vielleicht wäre Brocker besser beraten gewesen, es beim ersten Band seiner Geschichte des politischen Denkens zu belassen, der bereits wichtige "Klassiker" des 20. Jahrhunderts abgehandelt hatte. Der zweite Band macht den Eindruck, dass auf Gedeih und Verderb allerlei Denkströmungen einbezogen wurden, die für bestimmte Situationen oder Themen ihre Relevanz hatten (oder noch haben), ohne dass schon erwiesen wäre, ob sie auch das Zeug haben, ihre Zeit oder manche medial verstärkte Denkmode zu überdauern, ob sie also wirklich in ein Handbuch gehören.
GÜNTHER NONNENMACHER
Manfred Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert.
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2018. 965 S., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die "Geschichte des politischen Denkens" im 20. Jahrhundert ist nicht ganz geglückt
Es ist ein enges Korsett, das der Herausgeber Manfred Brocker den Autoren seiner "Geschichte des politischen Denkens" offenbar verschrieben hat: Auf je fünfzehn bis siebzehn Seiten soll ein Buch (oder Aufsatz) der zu behandelnden Autorinnen und Autoren vorgestellt werden. Das setzt den Artikeln enge Grenzen, zumal wenn es um umfangreiche und komplexe Werke geht und noch biographische Daten und Informationen über die zeitgeschichtlichen Umstände der Entstehung zumindest angedeutet werden sollen. Dass diese Grenzen zu eng sind, zeigt sich besonders deutlich am zweiten Band der Geschichte, der dem 20. Jahrhundert gewidmet ist. Da tauchen mehrere Autoren, die schon im ersten Band abgehandelt worden waren, noch einmal auf, mit einem zweiten Buch oder Aufsatz: Hannah Arendt etwa war im ersten Band mit "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" vertreten, im zweiten wird "Vita Activa" vorgestellt; da dies zwei verschiedene Verfasser tun, sind die Artikel auch nicht wirklich komplementär. Bei Max Weber ("Politik als Beruf" und "Wirtschaft und Gesellschaft") verhält es sich ebenso. Dass man auf 15 Seiten dem philosophisch voraussetzungsvollsten Werk Arendts ("Vita Activa") oder dem gewaltigen Steinbruch, den Max Weber mit "Wirtschaft und Gesellschaft" hinterlassen hat, nicht wirklich gerecht werden kann, versteht sich von selbst. An Lenins historischer Rolle besteht kein Zweifel; man kann sich dennoch fragen, ob sein politisches Denken zwei Artikel (über "Staat und Revolution" sowie "Was tun?") wert ist oder ob Michel Foucault als politischer Denker so bedeutend war, dass er zweimal gewürdigt werden muss.
Es ist auch die Frage, ob eine Geschichte des politischen Denkens, deren zwei Bände insgesamt mehr als 1700 Seiten umfasst, richtig gewichtet ist, wenn sie aus einer Zeitspanne von mehr als zwei Jahrtausenden zwei Drittel ihres Umfangs dem 20. Jahrhundert widmet. Was die intellektuelle Substanz, die Bedeutung und die Wirkmacht bis heute angeht, dürften Platon und Aristoteles oder Hobbes, Rousseau und Marx immer noch vor Colin Crouch oder Naomi Klein rangieren. Es leuchtet auch nicht recht ein, warum der hier zu besprechende zweite Band seine 62 Autoren jeden für sich abhandelt: Manche hätte man gut und gerne (und womöglich dem Verständnis zuträglicher) als Teil einer Denkschule vorstellen können, etwa unter den Sammelbegriffen "ökonomische Theorie der Politik", "Neo-Kontraktualismus" oder "Neo-Marxismus", wie das Henning Ottmann in seiner magistralen Geschichte des politischen Denkens getan hat. Bei manchen "Denkern und Denkerinnen" lässt sich auch bezweifeln, ob ihnen der Rang gebührt, in eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert aufgenommen zu werden - und das im gleichen Umfang, der im ersten Band Hegel oder Marx gewidmet war oder in diesem Band beispielsweise Carl Schmitt, der unzweifelhaft zum Klassiker avanciert ist.
Die Verfasser haben, soweit der Rezensent das beurteilen kann, 62 kenntnisreiche Artikel für das Handbuch geliefert. Dass die sich, trotz des verordneten Korsetts, unterscheiden, liegt an den vorzustellenden Texten, aber auch am Temperament der Autoren. Manche Artikel sind deskriptiv-analytisch, was dazu führt, dass sie sich wie eine Inhaltsangabe oder Rezension des besprochenen Werkes lesen. Das ist manchmal gelungen, etwa im Fall Joseph Schumpeters, doch manchmal auch recht schlicht (David Easton). Andere greifen - man könnte sagen: notgedrungen - über den besprochenen Text auf das Gesamtwerk aus, um das Denken ihres Autors einigermaßen verständlich zu machen. Einige Artikel sind affirmativ, offenbar von Anhängern der besprochenen Denker oder Denkerinnen verfasst. Darunter gibt es Texte, die nur Eingeweihten zugänglich sind. Am krassesten tritt dies bei der Vorstellung eines Aufsatzes der indischen "postkolonialen Feministin" Gayatri Chakravorty Spivak hervor, die versucht, Foucault und Gilles Deleuze dekonstruktiv zu überbieten. Bei anderen Artikeln fällen deren Verfasser über die behandelten Autoren Urteile, welche die Zweifel bestärken, ob diese wirklich etwas Substantielles zum politischen Denken des 20. Jahrhunderts beigetragen haben, etwa im Fall von Milton Friedman oder James Buchanan.
Schließlich wirft das Buch die Frage auf, für welche Zielgruppe es überhaupt gedacht ist. Auf dem Büchermarkt gibt es einige Geschichten des politischen Denkens wie etwa die erwähnte mehrbändige von Henning Ottmann, die inzwischen auch als preiswerte Taschenbuchausgabe existiert, oder das von Iring Fetscher und Herfried Münkler herausgegebene fünfbändige "Handbuch der politischen Ideen". Gerade wenn man sich deren Aufbau ansieht, wirken die Machart und die Autoren-Auswahl Brockers problematisch. Warum werden beispielsweise amerikanische Kommunitaristen (Michael Walzer schon im ersten Band, hier Benjamin Barber und Michael Sandel) behandelt, aber nicht der französische Historiker und Politologe Pierre Rosanvallon, der substantielle Forschungen über die Geschichte der Demokratie und über die Möglichkeiten ihrer Reform vorgelegt hat? Dankenswerterweise tauchen mit Hans Morgenthau und Kenneth Waltz oder Samuel Huntington Autoren auf, die sich vornehmlich mit internationaler Politik befasst haben. Aber hätten in diese Reihe nicht auch Henry Kissinger oder Raymond Aron gehört, zwei wichtige Denker des Zeitalters der atomaren Bedrohung mit seinem "Gleichgewicht des Schreckens"?
Nicht zuletzt: Wer sollen die Leser und Nutzer dieses Buches sein? Viele Artikel sind für Studienanfänger zu voraussetzungsvoll, was manchmal daran liegt, dass die Verfasser in Jargon verfallen, viel öfter aber damit zu tun hat, dass die verordnete Kürze die Autoren dazu zwingt, ihre Argumentation so stark zu kondensieren und zu konzentrieren, dass die komplexen Gedankengänge als Einführung kaum taugen. Wer sich dagegen in der Materie besser auskennt und sich vertieft mit ihr beschäftigen will, für den sind viele Artikel wiederum nicht ausführlich oder "tief" genug, zumal wenn die entsprechenden Denker vor allem aus einem historischen Kontext zu verstehen sind (etwa Lenin oder Gandhi), der in aller Regel zu kurz kommt.
Vielleicht wäre Brocker besser beraten gewesen, es beim ersten Band seiner Geschichte des politischen Denkens zu belassen, der bereits wichtige "Klassiker" des 20. Jahrhunderts abgehandelt hatte. Der zweite Band macht den Eindruck, dass auf Gedeih und Verderb allerlei Denkströmungen einbezogen wurden, die für bestimmte Situationen oder Themen ihre Relevanz hatten (oder noch haben), ohne dass schon erwiesen wäre, ob sie auch das Zeug haben, ihre Zeit oder manche medial verstärkte Denkmode zu überdauern, ob sie also wirklich in ein Handbuch gehören.
GÜNTHER NONNENMACHER
Manfred Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert.
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2018. 965 S., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Buch, das Leser zu politisieren versteht.« Elisabeth von Thadden DIE ZEIT