Diese Geschichte des Rechts ist eine lebendig erzählte Geschichte der Herausprägung von Rechtsordnungen, ihrer kulturellen Höhepunkte und ihrer Weiterentwicklung. Beispiele aus dem Rechtsalltag, von Rechtskonflikten und ihrer Lösung geben ein einprägsames Bild vergangener Zeiten. Für die 2. Auflage wurde das Werk gründlich überarbeitet, verbessert und teilweise neu gegliedert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Die Wunderwaffe des Wesirs
Nicht jedes klassische Recht war ein Klasserecht: Uwe Wesel rollt den Fall Justitia auf / Von Rainer Maria Kiesow
Am Ende des Staates steht das Buch". Diesen genialen Satz schrieb Uwe Wesel, Jura-Professor in Berlin, im letzten Jahr. Was er damit meinte - als Schlußakkord seiner Besprechung eines Buches über koloniale Herrschaft - ist nicht klar. Aber darauf kommt es auch nicht an - nach dem "Tod des Autors", dessen Präludium der "Tod Gottes" war und dessen Postludium, den "Tod des Staates", wir "bei uns", würde Uwe Wesel sagen, gerade erleben. Es bleibt das Buch. Wesel hat in einem Satz formuliert, was die avanciertesten theoretischen Anstrengungen auf den Feldern des Rechts, der Geschichte, der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft schon seit einiger Zeit bewegt: die sprachliche, nicht substanzhafte Konstituierung der Welt.
Die Welt wird im Buch konstruiert. Die Konstruktion des Autors kann der Leser beobachten, daß heißt für sich konstruieren. Der Autor existiert dabei für den Leser genauso wenig, wie die geschichtlichen oder gegenwärtigen Fakten für den Autor bestehen. Das Schreiben von Büchern ist ein undankbares Geschäft, begibt sich doch der Autor mit seinem Werk in eine Arena, in der die wetteifernden Leser sich um die Beute der Buchinterpretation reißen und die Autorenintention zerfleischen werden. Autorität ist im gegenwärtigen hypernominalistischen Zeitalter eine schwache Waffe. Staat, Gesetz, Familie, Kirche, Wissenschaft - sie alle sind im Netz der globalen kommunikativen Gesellschaft verfangen. Und in der Mitte sitzt das interpretationenheischende Buch, der eigentliche Herrscher in der poststaatlichen Welt.
Jetzt hat Uwe Wesel sein Buch geschrieben. Nicht, daß er zuvor keine Bücher geschrieben hätte. Im Gegenteil. Studien zum römischen Recht stehen neben der Annäherung an das Recht von ethnologisch-anthropologischer Seite, ein Buch zum Honecker-Prozeß neben Aufklärungen über Recht, alles, was Recht ist, neben der juristischen Weltkunde. Aber nun hat der Rechtshistoriker zugeschlagen. Womit beschäftigt sich eigentlich ein Rechtshistoriker? Mit der "Geschichte des Rechts". Also hat Wesel sie aufgeschrieben.
So ist ein Buch entstanden, das seinesgleichen suchen mag, aber nicht finden wird. Zwar gab es - von demselben Verlag verkauft - die "Weltgeschichte des Rechts". Sie ist von William Seagle und 1951 in Deutschland erschienen, als Übersetzung des amerikanischen Originals aus dem Jahre 1941. Kein schlechtes Buch übrigens, zwar insgesamt etwas behäbig, doch mit vielen klugen Bemerkungen. Aber die Rechtshistoriker faßten es mit spitzen Fingern an. Nein, das war nicht richtig wissenschaftlich, eher amerikanisch, allgemein und populär. So verkam es in deutschen Bücherschränken, als nie gelesenes Mitbringsel für die Cocktailpartys der juristischen Praktiker. Das ist lange her, und auf einen Nachfolger wartete man ebenso lange. Gelegentlich schrieb ein Rechtsgeschichtler einen Grundriß der römischen, der deutschen, der mittelalterlichen Rechtsgeschichte. Auch ein wissenschaftliches Standardwerk entstand, Franz Wieackers "Privatrechtsgeschichte der Neuzeit". Doch niemand wagte das Ganze, wie einst der Enzyklopädist und Verwaltungsrichter aus Übersee. Wird Wesels Buch ein ähnliches Schicksal wie dessen Hauptwerk ereilen?
Man muß unterscheiden. Der sogenannte rechtshistorische Laie - der Mitbringselschenker oder -empfänger - wird es, wenn er überhaupt interessiert ist, mit Vergnügen lesen können. Noch nie ist die Geschichte des Rechts derart anschaulich präsentiert worden.
Es beginnt mit den Jägern und Sammlern, die sich wie die nachfolgenden, im Zuge der neolithischen Revolution seßhaft gewordenen, segmentären Gesellschaften durch ihre herrschaftslose, konsensuale Struktur auszeichnen. Diese akephalen Gesellschaften kennen keinen Staat und auch noch kein von Sitte und Moral getrenntes Recht. Was wir über sie zu wissen glauben, wissen wir nicht von ihnen - sie schrieben nichts auf -, sondern leiten wir aus der Beobachtung heute noch lebender "Naturvölker" ab. Vom dritten Jahrtausend vor Christus an entwickelt sich dann "das erste historische Recht": das Keilschriftrecht in Mesopotamien mit den ersten uns bekannten Kodifikationen, dem sumerischen Codex Urnammu und dem babylonischen Codex Hammurabi.
Ägyptisches, hebräisches, griechisches Recht ("Die Griechen sind die Erfinder der Legalität") folgen. Das römische Recht nimmt den ihm gebührenden Raum ein ("Die Römer haben den Juristen erfunden") - das erste "weltumspannende" Recht. Direkt ist uns nicht viel davon überliefert. Hauptsächlich die nachträgliche Zusammenstellung des byzantinischen Kaisers Justinian aus den Jahren 528 bis 533: das Corpus Iuris Civilis, das die rechtlichen Geschicke des europäischen Kontinents - nach einer Phase der Amnesie im Westen - über weite Abschnitte des zweiten Jahrtausends bestimmen sollte. Während der "republikanischen, klassischen und nachklassischen" Epochen der römischen Rechtswissenschaft ist die ptolemäische, römische und byzantinische Herrschaft über Ägypten nicht zu vergessen, über deren Recht wir anhand der zahlreichen ausgegrabenen Papyrusurkunden eine ganze Menge wissen. In Byzanz selbst "überlebte" das dort geschaffene CIC, wenn auch in Kurzform gegossen, als Ecloga, oder neu arrangiert in sechzig Büchern als Basiliken. Was die Germanen und ihr Recht angeht, werden seit langem schon viele "Hirngespinste" produziert. Juristisch - und auch sonst - liegen über ihnen die "Nebel der Vergangenheit".
Und dann beginnt sie endlich, "unsere eigene Geschichte", genau in der Mitte des Buches. Diese deutsche Vergangenheit fängt im Frankenreich an, mit den ersten Ausformungen des später so wichtig werdenden Lehnswesens und mit der lex salica. Damit ist die Antike endgültig beendet. Das mittelalterliche deutsche Feudalreich entfaltet sich mit Lehnspyramide und einer juristischen Struktur, die besteht aus einem verschachtelten Konglomerat von Reichsrecht, Landrecht, Stadtrecht, Dorfrecht mit diversen Rechtsbüchern, von denen der Sachsenspiegel das bekannteste wurde. Mittendrin das im elften Jahrhundert im Westen "wiederentdeckte" römische Recht und das kanonische Recht. Damit brach seit dem zwölften Jahrhundert die "Verwissenschaftlichung des Rechtswesens" an, wie Franz Wieacker den Vorgang der Rezeption des römischen Rechts nannte, die am Ende des Mittelalters das gemeine Recht zum Ergebnis hatte. In den ersten drei Jahrhunderten der Neuzeit treten Naturrecht und Vernunftrecht ins Rampenlicht. Das Recht beginnt sich auszudifferenzieren. Constitutio Criminalis Carolina, Rechtspublizistik, Polizey, aber auch Folter und Hexenprozesse, der letzte 1775 in Kempten. Die großen Namen des Usus Modernus, der deutschen Reichspublizistik, des klassischen Naturrechts, der der Aufklärung werden vorgestellt. Dann entstehen im achtzehnten Jahrhundert die ersten Kodifikationen, und die Machtsprüche, wie der des Alten Fritz zugunsten des Müllers Arnold, erfahren ihr Ende. "La puissance absolue et perpétuelle" muß nicht nur der Französischen Revolution, sondern auch - scheint es - dem Rechtsspruch weichen.
Das neunzehnte Jahrhundert wird so - nach dem zwölften - zum zweiten "juristischen Jahrhundert". Das bürgerliche Recht setzt sich durch und wird flankiert durch das neue Verwaltungsrecht sowie das nulla poena sine lege-Strafrecht. Der Rechtsstaat tritt ans Licht der deutschen Öffentlichkeit, die nun auch in den von unabhängigen Richtern beherrschten Gerichtssaal treten durfte - aber partout nicht wollte. Das BGB schließlich versetzt dem römischen Recht, das als Pandektenrecht im neunzehnten Jahrhundert seine vorerst letzte Geltung außerhalb Afrikas und San Marinos erlebte, den Todesstoß - am 1. Januar 1900. Im "Dritten Reich" machte der Rechtsstaat Pause. Trotz mancher "Modernisierungen" im Zivilrecht (Zerrüttungsprinzip bei der Ehescheidung) oder im Arbeits- und Sozialrecht war es "der Weg vom Recht zur Entrechtlichung". Zur DDR bestehen jedenfalls Unterschiede. Zwar kontrollierte auch hier die Politik das Recht, "war die DDR kein Rechtsstaat", doch gab es in vierzig Jahren "nur" 170 Todesurteile, im Vergleich zu 1600 in den 25 Jahren vor 1933 und 50000 in den zwölf Jahren nach 1933. Eine nicht ganz zu vernachlässigende Beobachtung für eine Geschichte des Rechts. Diese endet mit der Bundesrepublik, einem Erfolg gewissermaßen. Jedenfalls ist bei allen Defiziten (nicht zuletzt bei der juristischen Bearbeitung der NS-Vergangenheit) dieses für Wesel ein eher erfreuliches Kapitel der Rechtsgeschichte. Grundgesetze, Bundesverfassungsgericht, soziales (Leistungs-)Verwaltungsrecht, Konsumentenschutz, Persönlichkeitsrecht, soziales Mietrecht, Arbeitsrecht haben dazu im wesentlichen beigetragen.
Wesels Etappenprotokolle sind weitgehend gleich aufgebaut. Immer eine nützliche, den wirtschaftlichen, geographischen, historischen Kontext bereitstellende Einführung. In der Frühgeschichte des Rechts konzentriert sich die folgende "rechtliche" Darstellung auf Familie, Eigentum und Delikte. Später, in den kephalen Gesellschaften bis heute, wird es differenzierter. Die fünf "entscheidenden Elemente" des Zivilrechts: Rechtssubjekt, Familie, Eigentum, Vertrag, Delikt, entwickeln sich, so wie das Erbrecht. Hinzu kommen alle weiteren Gebiete des Rechts, also je nach Vorkommen Handelsrecht, Prozeßrecht, Strafrecht, öffentliches Recht. Die Stellung der Frauen und der Sklaven wird stetig im Auge behalten. Immer wieder flicht Wesel Beispiele, Erzählungen, Fälle, Urteile ein, sei es den "Streit um die Brautpreisschulden des Roikine" bei den Arusha oder einen "Magdeburger Schöffenspruch zum Tierschaden". Dies erleichtert die Lektüre des schwergewichtigen Buches ungemein. Vor allem aber versteht es Uwe Wesel, komplizierte juristische Sachverhalte und Techniken eingängig zu erklären. Wesels Sprache ist einfach und klar. Eher gesprochen als geschrieben. Unprätentiös eben. Auch deshalb ist die vom Verlag im Klappentext mit auffälligen Merkpunkten unterstrichene Werbung ("Der Autor versteht auch zu schreiben" - vielleicht im Gegensatz zu anderen Verlagsautoren? -, und "damit ist dieses Buch ein literarisches Ereignis") unangebracht. Ein sorgfältiges Lektorat hingegen wäre durchaus angebracht gewesen.
Es spricht also alles dafür, daß das Mitbringsel gerne gelesen wird. Von denen, die auf eine leichte, verständliche Weise erfahren möchten, wie das eigentlich war, im alten Recht der Welt von 2000000 vor Christus bis 900 nach Christus und im Recht Deutschlands der Zeit danach.
Manche mögen's schwer. Die Wissenschaftler beispielsweise, die bekanntlich alles besser wissen, was schließlich ihr Beruf ist. Als Spezialisten werden sie Wesel eine ganze Menge vorzuhalten haben. Vor allem, daß er häufig einen älteren Forschungsstand zugrunde legt. So spricht er bei den Griechen von einer "gewissen ,Unterentwicklung' der Dogmatik" ("So weit waren die Griechen noch nicht"). Dabei sieht Wesel den Zusammenhang mit dem Umstand, daß Athen "eine Stadt von Richtern" war, in der bei Strafverfahren 500, bei Privatstreitigkeiten 200 bis 400 Männer in riesigen Gerichtshöfen entschieden, durchaus. Dogmatik entwickelt sich vermutlich tatsächlich erst, wenn Argumente vor einem Richter und nicht vor mehreren hundert Entscheidern ausgetragen werden müssen. In Athen waren Recht und der Rechtsstreit eher Teil eines ganzen Köchers von agonalen sozialen Praktiken. Das hätte zu der Frage führen können, was Recht eigentlich ist in einer demokratischen Gesellschaft - in Athen und heute. Dazu gibt es spannende (amerikanische) Arbeiten. Nichts davon bei Wesel.
Auch in Rom nichts Neues. Dabei sind die stumpfsinnigen Klassifizierungen des römischen Rechts als vorklassisch, klassisch, nachklassisch, spätklassisch, vulgar et cetera, mit Unterklassen und -schulen schon seit geraumer Zeit altersschwach. Wie auch die Vorstellung eines einheitlichen Ius commune der großen Namen, das so wahrscheinlich nie im Europa der frühen Neuzeit praktiziert wurde. Hexenprozesse und Folter waren furchtbar. Aber es ist doch erstaunlich, daß gerade damals auch eine neue Rationalität in das Prozeßrecht kam, im Zuge des Inquisitionsverfahrens und des materiellen Beweises mit dem Erfordernis eines Geständnisses. Dieser Zusammenhang ist das historisch Interessante, und nicht aussagearme Vergleiche der Art: "Neben dem Holocaust an den Juden war es die größte Massentötung von Zivilisten". Im neunzehnten Jahrhundert ignoriert das von Wesel gezeichnete Bild eines "begrifflichen Positivismus der Rechtswissenschaft" und eines "zu formalistisch gewordenen Rechts" die inzwischen vorgenommenen fundamentalen Korrekturen an diesem Gemeinplatz der rechtshistorischen Literatur. Auch liegt in jenem Formalismus kaum der Grund dafür, daß "das Recht nicht in der Lage war, seine eigene Justizkatastrophe im ,Dritten Reich' zu verhindern". Das Recht hätte ohnehin nichts verhindern können. Gegen Menschen war das Recht schon immer machtlos.
Man könnte noch manches bekritteln - im Hinblick auf die Geschichte des Gefängnisses etwa (Hat da nicht mal ein glatzköpfiger Franzose was dazu geschrieben?), oder auf Wesels positives liberales Bild des Strafrechtsreformers Franz von Liszt ("Der prinzipielle Gegner unserer Rechtsordnung muß unschädlich gemacht werden, und zwar auf seine Kosten, nicht auf die unseren. Ihm Nahrung, Luft, Bewegung und so weiter nach rationellen Grundsätzen zuzumessen ist Mißbrauch der Steuerzahler" [Liszt 1880]). "Wie auch immer", würde der Autor sicher anmerken, wie häufig in seinem Buch, als Nachklang der Darstellung verschiedener - alter - Erklärungsversuche zu einem Phänomen. Und er hat recht. Denn wer sagt uns eigentlich, daß der neue Forschungsstand der Wahrheit näher kommt als der alte? Und sind Forschungsstände nicht ohnedies Chimären? Sollen doch die Besserwisser auf ihrer Sichtweise verharren und ihren Blick wie gewohnt durchs Teleobjektiv auf ihr vertrautes Gebiet richten. Warum wir ihr Terrain so genau kennen sollen, werden wir zwar vermutlich nie erfahren, vor deren Weltsicht aber auch geschützt bleiben. Uwe Wesel hingegen hat das fisheye gewählt und die große Reise gewagt. "Do it" heißt es in der Werbung. Doch was will er uns sagen?
Leider nichts. Sicher, da steht am Ende ein schöner Satz: "Mit dieser Tradition kann man in der Gegenwart leben, von der Zukunft träumen und aus der Vergangenheit lernen". Mit "Tradition" ist hier aber nicht etwa der 550 Seiten lange "Weg des Rechts" gemeint, gemeint sind die streitbaren Juristen - "eine andere Tradition", also etwa E.T.A. Hoffmann, Julius von Kirchmann, Hans Litten, Gustav Radbruch, Fritz Bauer. Von denen war aber vorher kaum oder gar nicht die Rede. Erzählt wurde - auf eine sehr ansprechende Weise (wunderbar zum Beispiel die Formulierung: "Klassisches Recht war auch Klassenrecht") - die "Geschichte des Rechts", also von dessen Institutionen, Theorien, Begriffen, Praktiken. Hinzu kamen lakonische Wertungen, wobei die Note "unsozial" am häufigsten vergeben wurde. Für Theorien gilt neben "wie auch immer" manchmal auch: "sicherlich zu Unrecht" oder "richtig". Für Marxisten: "wer auch immer das sein mag". Für das Gesetz als Befehl des Souveräns: "zack zack". Für Konflikte: "werden entweder friedlich beendet oder unfriedlich". Für das Schuldrecht der Assyrer: "etwas weiter entwickelt als das babylonische". Für die soziale Gerechtigkeit: "desto schlechter, je weiter sich die juristische Dogmatik entwickelt". Für die Prozesse gegen Sokrates und Jesus: "Justizmorde". Für die lex Aquilia: "unmittelbar die Vorstufe unseres Paragraphen 823 BGB". Für die Richter (in Byzanz): "Hier wie überall waren sie bestechlich". Insgesamt gilt: Es gibt "empörend milde" und "krasse Fehlurteile", "gute" und "schlechte Leistungen".
Neben den Urteilen liegen massenhaft Fakten. Erklärungen gefällig? "Ein Stelldichein von Fragen und Fragezeichen." Nicht nur. Im Kapitel "Was ist Recht?" erklärt Wesel uns, wie der "Gesamtprozeß in der Entwicklung von Recht" aussieht: "Ständige Ausbreitung, Auseinandertreten von Moral und Recht, zunehmende Verflechtung von Recht und Politik" und "ständige Ausweitung staatlicher Herrschaft". Dabei erwähnt Wesel selbst, daß Marx das baldige Ende des Staates sah. Und tatsächlich werden in jüngster Zeit Horrorszenarien auf die Bühne des Rechts gebracht, in denen der Staat allenfalls eine Statistenrolle übernimmt. Autoren, die über die Emergenz außerstaatlichen Rechts - etwa auf dem Gebiet der lex mercatoria - nachdenken, müssen mit dem Vorwurf der "Vollendung des staatstheoretischen Nihilismus" leben. Nicht zuletzt, weil sie sagen, daß Recht nicht unbedingt etwas mit Zwang und Hierarchie, sondern etwas mit Erwartungen zu tun hat, vielleicht sogar mit Erwartungen von Erwartungen, und damit die (positive oder negative) Fixierung auf den Staat aufgeben, zu der Juristen, als herangezüchtete Funktionsträger desselben, ohnehin neigen. Wie auch immer: "Das ist alles nicht so einfach", jedenfalls "komplizierter" als: "Die Ordnung in frühen Gesellschaften ist vorstaatliches Recht. Unser Recht ist staatlich." Und komplizierter als das Anhäufen von Fakten.
Auch Kontingenz ist bei Wesel nicht vorgesehen, schließlich ist inzwischen "nachgewiesen": "Zu völlig verschiedenen Zeiten und an völlig verschiedenen Orten hat es durchaus gleichartige Entwicklung und damit allgemeine Gesetzmäßigkeiten gegeben." Merkwürdig nur, daß die beiden ethnologischen Juristen (Post und Kohler), die genau dies vor hundert Jahren auch schon behauptet hatten, "schnell vergessen worden und heute kaum noch von Bedeutung" sind. Das - diachron und synchron - ubiquitäre Hauptgesetz ist für Wesel: "Letzlich entscheiden immer die tatsächlichen Machtverhältnisse." Da überrascht es wenig, daß Recht "selten Motor von Entwicklung" war. Das mag schon sein, nur warum soll man sich dann die jahrhundertealten "Ficfaquereyen" der Juristen (Friedrich II.) und "die tatsächliche Entwicklung" zu Gemüte führen, sich für die Geschichte eines Phänomens interessieren, das nicht entscheidend ist?
Sicher nicht, weil es (laut Schutzumschlag) für Jurastudenten den "Vorteil" hat, "das gesamte für die Examina notwendige Wissen" zu erlangen. Denn im ersten juristischen Staatsexamen fristet die Rechtsgeschichte ein Kümmerdasein, was ihren Status an der Universität spiegelt. Im zweiten Staatsexamen ist sie von der Prüfungsordnung gänzlich ausgeschlossen. Nein, die Antwort findet sich auf Seite 94. Dort erzählt Wesel von dem großen Bild, das man im Grab eines Wesirs der achtzehnten ägyptischen Dynastie gefunden hat. Es ist die älteste Abbildung einer Verhandlung in einer Strafsache. Neben dem Bild lag die "Dienstanweisung des Wesirs", in der (nicht eindeutig zu entziffern) steht, daß der höchste Beamte des Pharao bei einer Amtshandlung "die 40 Rollen" vor sich ausbreiten soll. Auf dem Bild sind in der Tat vierzig schmale Gegenstände zu sehen. Waren darin die Gesetze, nach denen der Wesir urteilen sollte, aufgezeichnet? Oder handelt es sich nicht um Lederrollen, sondern um Lederpeitschen, "als Ausdruck der Staatsgewalt"? Diesmal kein legeres "wie auch immer", sondern einmal ein ernsthaftes "wir wissen es also nicht".
Dieses durch noch so dicke Faktenteppiche nicht zu erstickende Ignorabimus ist es, das die Arbeit des (Rechts-)Historikers bestimmt und ihn zum Künstler werden läßt. Wer es aushalten und sich sogar dafür begeistern kann, daß die historische "Wissenschaft aus Kunst" entstanden ist (Daniel Fulda) und heute Wissenschaft nur als Kunst möglich ist, dem eröffnet sich ein Horizont von Erkenntnismöglichkeiten hinter den Mauern eines Positivismus der Erkenntnis. Wesel hat die Wand letztlich nur à la mode bemalt. Die schmucken Farben und die Nonchalance des Autors vermögen dessen Glauben an die Fakten und die Geschichte nicht zu verbergen. Niedergerissen hat er die Mauer der "Tatsachen" nicht. Er hat "das Buch", das letztes Jahr am Horizont aufschien, nicht ernst genommen. So steht er in Treue fest und ohne Zaudern zu Nietzsches "Weibchen, alt zum Schaudern: ,Die Wahrheit' hieß dies alte Weib . . .".
Uwe Wesel: "Geschichte des Rechts". Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. Verlag C. H. Beck, München 1997. 581 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht jedes klassische Recht war ein Klasserecht: Uwe Wesel rollt den Fall Justitia auf / Von Rainer Maria Kiesow
Am Ende des Staates steht das Buch". Diesen genialen Satz schrieb Uwe Wesel, Jura-Professor in Berlin, im letzten Jahr. Was er damit meinte - als Schlußakkord seiner Besprechung eines Buches über koloniale Herrschaft - ist nicht klar. Aber darauf kommt es auch nicht an - nach dem "Tod des Autors", dessen Präludium der "Tod Gottes" war und dessen Postludium, den "Tod des Staates", wir "bei uns", würde Uwe Wesel sagen, gerade erleben. Es bleibt das Buch. Wesel hat in einem Satz formuliert, was die avanciertesten theoretischen Anstrengungen auf den Feldern des Rechts, der Geschichte, der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft schon seit einiger Zeit bewegt: die sprachliche, nicht substanzhafte Konstituierung der Welt.
Die Welt wird im Buch konstruiert. Die Konstruktion des Autors kann der Leser beobachten, daß heißt für sich konstruieren. Der Autor existiert dabei für den Leser genauso wenig, wie die geschichtlichen oder gegenwärtigen Fakten für den Autor bestehen. Das Schreiben von Büchern ist ein undankbares Geschäft, begibt sich doch der Autor mit seinem Werk in eine Arena, in der die wetteifernden Leser sich um die Beute der Buchinterpretation reißen und die Autorenintention zerfleischen werden. Autorität ist im gegenwärtigen hypernominalistischen Zeitalter eine schwache Waffe. Staat, Gesetz, Familie, Kirche, Wissenschaft - sie alle sind im Netz der globalen kommunikativen Gesellschaft verfangen. Und in der Mitte sitzt das interpretationenheischende Buch, der eigentliche Herrscher in der poststaatlichen Welt.
Jetzt hat Uwe Wesel sein Buch geschrieben. Nicht, daß er zuvor keine Bücher geschrieben hätte. Im Gegenteil. Studien zum römischen Recht stehen neben der Annäherung an das Recht von ethnologisch-anthropologischer Seite, ein Buch zum Honecker-Prozeß neben Aufklärungen über Recht, alles, was Recht ist, neben der juristischen Weltkunde. Aber nun hat der Rechtshistoriker zugeschlagen. Womit beschäftigt sich eigentlich ein Rechtshistoriker? Mit der "Geschichte des Rechts". Also hat Wesel sie aufgeschrieben.
So ist ein Buch entstanden, das seinesgleichen suchen mag, aber nicht finden wird. Zwar gab es - von demselben Verlag verkauft - die "Weltgeschichte des Rechts". Sie ist von William Seagle und 1951 in Deutschland erschienen, als Übersetzung des amerikanischen Originals aus dem Jahre 1941. Kein schlechtes Buch übrigens, zwar insgesamt etwas behäbig, doch mit vielen klugen Bemerkungen. Aber die Rechtshistoriker faßten es mit spitzen Fingern an. Nein, das war nicht richtig wissenschaftlich, eher amerikanisch, allgemein und populär. So verkam es in deutschen Bücherschränken, als nie gelesenes Mitbringsel für die Cocktailpartys der juristischen Praktiker. Das ist lange her, und auf einen Nachfolger wartete man ebenso lange. Gelegentlich schrieb ein Rechtsgeschichtler einen Grundriß der römischen, der deutschen, der mittelalterlichen Rechtsgeschichte. Auch ein wissenschaftliches Standardwerk entstand, Franz Wieackers "Privatrechtsgeschichte der Neuzeit". Doch niemand wagte das Ganze, wie einst der Enzyklopädist und Verwaltungsrichter aus Übersee. Wird Wesels Buch ein ähnliches Schicksal wie dessen Hauptwerk ereilen?
Man muß unterscheiden. Der sogenannte rechtshistorische Laie - der Mitbringselschenker oder -empfänger - wird es, wenn er überhaupt interessiert ist, mit Vergnügen lesen können. Noch nie ist die Geschichte des Rechts derart anschaulich präsentiert worden.
Es beginnt mit den Jägern und Sammlern, die sich wie die nachfolgenden, im Zuge der neolithischen Revolution seßhaft gewordenen, segmentären Gesellschaften durch ihre herrschaftslose, konsensuale Struktur auszeichnen. Diese akephalen Gesellschaften kennen keinen Staat und auch noch kein von Sitte und Moral getrenntes Recht. Was wir über sie zu wissen glauben, wissen wir nicht von ihnen - sie schrieben nichts auf -, sondern leiten wir aus der Beobachtung heute noch lebender "Naturvölker" ab. Vom dritten Jahrtausend vor Christus an entwickelt sich dann "das erste historische Recht": das Keilschriftrecht in Mesopotamien mit den ersten uns bekannten Kodifikationen, dem sumerischen Codex Urnammu und dem babylonischen Codex Hammurabi.
Ägyptisches, hebräisches, griechisches Recht ("Die Griechen sind die Erfinder der Legalität") folgen. Das römische Recht nimmt den ihm gebührenden Raum ein ("Die Römer haben den Juristen erfunden") - das erste "weltumspannende" Recht. Direkt ist uns nicht viel davon überliefert. Hauptsächlich die nachträgliche Zusammenstellung des byzantinischen Kaisers Justinian aus den Jahren 528 bis 533: das Corpus Iuris Civilis, das die rechtlichen Geschicke des europäischen Kontinents - nach einer Phase der Amnesie im Westen - über weite Abschnitte des zweiten Jahrtausends bestimmen sollte. Während der "republikanischen, klassischen und nachklassischen" Epochen der römischen Rechtswissenschaft ist die ptolemäische, römische und byzantinische Herrschaft über Ägypten nicht zu vergessen, über deren Recht wir anhand der zahlreichen ausgegrabenen Papyrusurkunden eine ganze Menge wissen. In Byzanz selbst "überlebte" das dort geschaffene CIC, wenn auch in Kurzform gegossen, als Ecloga, oder neu arrangiert in sechzig Büchern als Basiliken. Was die Germanen und ihr Recht angeht, werden seit langem schon viele "Hirngespinste" produziert. Juristisch - und auch sonst - liegen über ihnen die "Nebel der Vergangenheit".
Und dann beginnt sie endlich, "unsere eigene Geschichte", genau in der Mitte des Buches. Diese deutsche Vergangenheit fängt im Frankenreich an, mit den ersten Ausformungen des später so wichtig werdenden Lehnswesens und mit der lex salica. Damit ist die Antike endgültig beendet. Das mittelalterliche deutsche Feudalreich entfaltet sich mit Lehnspyramide und einer juristischen Struktur, die besteht aus einem verschachtelten Konglomerat von Reichsrecht, Landrecht, Stadtrecht, Dorfrecht mit diversen Rechtsbüchern, von denen der Sachsenspiegel das bekannteste wurde. Mittendrin das im elften Jahrhundert im Westen "wiederentdeckte" römische Recht und das kanonische Recht. Damit brach seit dem zwölften Jahrhundert die "Verwissenschaftlichung des Rechtswesens" an, wie Franz Wieacker den Vorgang der Rezeption des römischen Rechts nannte, die am Ende des Mittelalters das gemeine Recht zum Ergebnis hatte. In den ersten drei Jahrhunderten der Neuzeit treten Naturrecht und Vernunftrecht ins Rampenlicht. Das Recht beginnt sich auszudifferenzieren. Constitutio Criminalis Carolina, Rechtspublizistik, Polizey, aber auch Folter und Hexenprozesse, der letzte 1775 in Kempten. Die großen Namen des Usus Modernus, der deutschen Reichspublizistik, des klassischen Naturrechts, der der Aufklärung werden vorgestellt. Dann entstehen im achtzehnten Jahrhundert die ersten Kodifikationen, und die Machtsprüche, wie der des Alten Fritz zugunsten des Müllers Arnold, erfahren ihr Ende. "La puissance absolue et perpétuelle" muß nicht nur der Französischen Revolution, sondern auch - scheint es - dem Rechtsspruch weichen.
Das neunzehnte Jahrhundert wird so - nach dem zwölften - zum zweiten "juristischen Jahrhundert". Das bürgerliche Recht setzt sich durch und wird flankiert durch das neue Verwaltungsrecht sowie das nulla poena sine lege-Strafrecht. Der Rechtsstaat tritt ans Licht der deutschen Öffentlichkeit, die nun auch in den von unabhängigen Richtern beherrschten Gerichtssaal treten durfte - aber partout nicht wollte. Das BGB schließlich versetzt dem römischen Recht, das als Pandektenrecht im neunzehnten Jahrhundert seine vorerst letzte Geltung außerhalb Afrikas und San Marinos erlebte, den Todesstoß - am 1. Januar 1900. Im "Dritten Reich" machte der Rechtsstaat Pause. Trotz mancher "Modernisierungen" im Zivilrecht (Zerrüttungsprinzip bei der Ehescheidung) oder im Arbeits- und Sozialrecht war es "der Weg vom Recht zur Entrechtlichung". Zur DDR bestehen jedenfalls Unterschiede. Zwar kontrollierte auch hier die Politik das Recht, "war die DDR kein Rechtsstaat", doch gab es in vierzig Jahren "nur" 170 Todesurteile, im Vergleich zu 1600 in den 25 Jahren vor 1933 und 50000 in den zwölf Jahren nach 1933. Eine nicht ganz zu vernachlässigende Beobachtung für eine Geschichte des Rechts. Diese endet mit der Bundesrepublik, einem Erfolg gewissermaßen. Jedenfalls ist bei allen Defiziten (nicht zuletzt bei der juristischen Bearbeitung der NS-Vergangenheit) dieses für Wesel ein eher erfreuliches Kapitel der Rechtsgeschichte. Grundgesetze, Bundesverfassungsgericht, soziales (Leistungs-)Verwaltungsrecht, Konsumentenschutz, Persönlichkeitsrecht, soziales Mietrecht, Arbeitsrecht haben dazu im wesentlichen beigetragen.
Wesels Etappenprotokolle sind weitgehend gleich aufgebaut. Immer eine nützliche, den wirtschaftlichen, geographischen, historischen Kontext bereitstellende Einführung. In der Frühgeschichte des Rechts konzentriert sich die folgende "rechtliche" Darstellung auf Familie, Eigentum und Delikte. Später, in den kephalen Gesellschaften bis heute, wird es differenzierter. Die fünf "entscheidenden Elemente" des Zivilrechts: Rechtssubjekt, Familie, Eigentum, Vertrag, Delikt, entwickeln sich, so wie das Erbrecht. Hinzu kommen alle weiteren Gebiete des Rechts, also je nach Vorkommen Handelsrecht, Prozeßrecht, Strafrecht, öffentliches Recht. Die Stellung der Frauen und der Sklaven wird stetig im Auge behalten. Immer wieder flicht Wesel Beispiele, Erzählungen, Fälle, Urteile ein, sei es den "Streit um die Brautpreisschulden des Roikine" bei den Arusha oder einen "Magdeburger Schöffenspruch zum Tierschaden". Dies erleichtert die Lektüre des schwergewichtigen Buches ungemein. Vor allem aber versteht es Uwe Wesel, komplizierte juristische Sachverhalte und Techniken eingängig zu erklären. Wesels Sprache ist einfach und klar. Eher gesprochen als geschrieben. Unprätentiös eben. Auch deshalb ist die vom Verlag im Klappentext mit auffälligen Merkpunkten unterstrichene Werbung ("Der Autor versteht auch zu schreiben" - vielleicht im Gegensatz zu anderen Verlagsautoren? -, und "damit ist dieses Buch ein literarisches Ereignis") unangebracht. Ein sorgfältiges Lektorat hingegen wäre durchaus angebracht gewesen.
Es spricht also alles dafür, daß das Mitbringsel gerne gelesen wird. Von denen, die auf eine leichte, verständliche Weise erfahren möchten, wie das eigentlich war, im alten Recht der Welt von 2000000 vor Christus bis 900 nach Christus und im Recht Deutschlands der Zeit danach.
Manche mögen's schwer. Die Wissenschaftler beispielsweise, die bekanntlich alles besser wissen, was schließlich ihr Beruf ist. Als Spezialisten werden sie Wesel eine ganze Menge vorzuhalten haben. Vor allem, daß er häufig einen älteren Forschungsstand zugrunde legt. So spricht er bei den Griechen von einer "gewissen ,Unterentwicklung' der Dogmatik" ("So weit waren die Griechen noch nicht"). Dabei sieht Wesel den Zusammenhang mit dem Umstand, daß Athen "eine Stadt von Richtern" war, in der bei Strafverfahren 500, bei Privatstreitigkeiten 200 bis 400 Männer in riesigen Gerichtshöfen entschieden, durchaus. Dogmatik entwickelt sich vermutlich tatsächlich erst, wenn Argumente vor einem Richter und nicht vor mehreren hundert Entscheidern ausgetragen werden müssen. In Athen waren Recht und der Rechtsstreit eher Teil eines ganzen Köchers von agonalen sozialen Praktiken. Das hätte zu der Frage führen können, was Recht eigentlich ist in einer demokratischen Gesellschaft - in Athen und heute. Dazu gibt es spannende (amerikanische) Arbeiten. Nichts davon bei Wesel.
Auch in Rom nichts Neues. Dabei sind die stumpfsinnigen Klassifizierungen des römischen Rechts als vorklassisch, klassisch, nachklassisch, spätklassisch, vulgar et cetera, mit Unterklassen und -schulen schon seit geraumer Zeit altersschwach. Wie auch die Vorstellung eines einheitlichen Ius commune der großen Namen, das so wahrscheinlich nie im Europa der frühen Neuzeit praktiziert wurde. Hexenprozesse und Folter waren furchtbar. Aber es ist doch erstaunlich, daß gerade damals auch eine neue Rationalität in das Prozeßrecht kam, im Zuge des Inquisitionsverfahrens und des materiellen Beweises mit dem Erfordernis eines Geständnisses. Dieser Zusammenhang ist das historisch Interessante, und nicht aussagearme Vergleiche der Art: "Neben dem Holocaust an den Juden war es die größte Massentötung von Zivilisten". Im neunzehnten Jahrhundert ignoriert das von Wesel gezeichnete Bild eines "begrifflichen Positivismus der Rechtswissenschaft" und eines "zu formalistisch gewordenen Rechts" die inzwischen vorgenommenen fundamentalen Korrekturen an diesem Gemeinplatz der rechtshistorischen Literatur. Auch liegt in jenem Formalismus kaum der Grund dafür, daß "das Recht nicht in der Lage war, seine eigene Justizkatastrophe im ,Dritten Reich' zu verhindern". Das Recht hätte ohnehin nichts verhindern können. Gegen Menschen war das Recht schon immer machtlos.
Man könnte noch manches bekritteln - im Hinblick auf die Geschichte des Gefängnisses etwa (Hat da nicht mal ein glatzköpfiger Franzose was dazu geschrieben?), oder auf Wesels positives liberales Bild des Strafrechtsreformers Franz von Liszt ("Der prinzipielle Gegner unserer Rechtsordnung muß unschädlich gemacht werden, und zwar auf seine Kosten, nicht auf die unseren. Ihm Nahrung, Luft, Bewegung und so weiter nach rationellen Grundsätzen zuzumessen ist Mißbrauch der Steuerzahler" [Liszt 1880]). "Wie auch immer", würde der Autor sicher anmerken, wie häufig in seinem Buch, als Nachklang der Darstellung verschiedener - alter - Erklärungsversuche zu einem Phänomen. Und er hat recht. Denn wer sagt uns eigentlich, daß der neue Forschungsstand der Wahrheit näher kommt als der alte? Und sind Forschungsstände nicht ohnedies Chimären? Sollen doch die Besserwisser auf ihrer Sichtweise verharren und ihren Blick wie gewohnt durchs Teleobjektiv auf ihr vertrautes Gebiet richten. Warum wir ihr Terrain so genau kennen sollen, werden wir zwar vermutlich nie erfahren, vor deren Weltsicht aber auch geschützt bleiben. Uwe Wesel hingegen hat das fisheye gewählt und die große Reise gewagt. "Do it" heißt es in der Werbung. Doch was will er uns sagen?
Leider nichts. Sicher, da steht am Ende ein schöner Satz: "Mit dieser Tradition kann man in der Gegenwart leben, von der Zukunft träumen und aus der Vergangenheit lernen". Mit "Tradition" ist hier aber nicht etwa der 550 Seiten lange "Weg des Rechts" gemeint, gemeint sind die streitbaren Juristen - "eine andere Tradition", also etwa E.T.A. Hoffmann, Julius von Kirchmann, Hans Litten, Gustav Radbruch, Fritz Bauer. Von denen war aber vorher kaum oder gar nicht die Rede. Erzählt wurde - auf eine sehr ansprechende Weise (wunderbar zum Beispiel die Formulierung: "Klassisches Recht war auch Klassenrecht") - die "Geschichte des Rechts", also von dessen Institutionen, Theorien, Begriffen, Praktiken. Hinzu kamen lakonische Wertungen, wobei die Note "unsozial" am häufigsten vergeben wurde. Für Theorien gilt neben "wie auch immer" manchmal auch: "sicherlich zu Unrecht" oder "richtig". Für Marxisten: "wer auch immer das sein mag". Für das Gesetz als Befehl des Souveräns: "zack zack". Für Konflikte: "werden entweder friedlich beendet oder unfriedlich". Für das Schuldrecht der Assyrer: "etwas weiter entwickelt als das babylonische". Für die soziale Gerechtigkeit: "desto schlechter, je weiter sich die juristische Dogmatik entwickelt". Für die Prozesse gegen Sokrates und Jesus: "Justizmorde". Für die lex Aquilia: "unmittelbar die Vorstufe unseres Paragraphen 823 BGB". Für die Richter (in Byzanz): "Hier wie überall waren sie bestechlich". Insgesamt gilt: Es gibt "empörend milde" und "krasse Fehlurteile", "gute" und "schlechte Leistungen".
Neben den Urteilen liegen massenhaft Fakten. Erklärungen gefällig? "Ein Stelldichein von Fragen und Fragezeichen." Nicht nur. Im Kapitel "Was ist Recht?" erklärt Wesel uns, wie der "Gesamtprozeß in der Entwicklung von Recht" aussieht: "Ständige Ausbreitung, Auseinandertreten von Moral und Recht, zunehmende Verflechtung von Recht und Politik" und "ständige Ausweitung staatlicher Herrschaft". Dabei erwähnt Wesel selbst, daß Marx das baldige Ende des Staates sah. Und tatsächlich werden in jüngster Zeit Horrorszenarien auf die Bühne des Rechts gebracht, in denen der Staat allenfalls eine Statistenrolle übernimmt. Autoren, die über die Emergenz außerstaatlichen Rechts - etwa auf dem Gebiet der lex mercatoria - nachdenken, müssen mit dem Vorwurf der "Vollendung des staatstheoretischen Nihilismus" leben. Nicht zuletzt, weil sie sagen, daß Recht nicht unbedingt etwas mit Zwang und Hierarchie, sondern etwas mit Erwartungen zu tun hat, vielleicht sogar mit Erwartungen von Erwartungen, und damit die (positive oder negative) Fixierung auf den Staat aufgeben, zu der Juristen, als herangezüchtete Funktionsträger desselben, ohnehin neigen. Wie auch immer: "Das ist alles nicht so einfach", jedenfalls "komplizierter" als: "Die Ordnung in frühen Gesellschaften ist vorstaatliches Recht. Unser Recht ist staatlich." Und komplizierter als das Anhäufen von Fakten.
Auch Kontingenz ist bei Wesel nicht vorgesehen, schließlich ist inzwischen "nachgewiesen": "Zu völlig verschiedenen Zeiten und an völlig verschiedenen Orten hat es durchaus gleichartige Entwicklung und damit allgemeine Gesetzmäßigkeiten gegeben." Merkwürdig nur, daß die beiden ethnologischen Juristen (Post und Kohler), die genau dies vor hundert Jahren auch schon behauptet hatten, "schnell vergessen worden und heute kaum noch von Bedeutung" sind. Das - diachron und synchron - ubiquitäre Hauptgesetz ist für Wesel: "Letzlich entscheiden immer die tatsächlichen Machtverhältnisse." Da überrascht es wenig, daß Recht "selten Motor von Entwicklung" war. Das mag schon sein, nur warum soll man sich dann die jahrhundertealten "Ficfaquereyen" der Juristen (Friedrich II.) und "die tatsächliche Entwicklung" zu Gemüte führen, sich für die Geschichte eines Phänomens interessieren, das nicht entscheidend ist?
Sicher nicht, weil es (laut Schutzumschlag) für Jurastudenten den "Vorteil" hat, "das gesamte für die Examina notwendige Wissen" zu erlangen. Denn im ersten juristischen Staatsexamen fristet die Rechtsgeschichte ein Kümmerdasein, was ihren Status an der Universität spiegelt. Im zweiten Staatsexamen ist sie von der Prüfungsordnung gänzlich ausgeschlossen. Nein, die Antwort findet sich auf Seite 94. Dort erzählt Wesel von dem großen Bild, das man im Grab eines Wesirs der achtzehnten ägyptischen Dynastie gefunden hat. Es ist die älteste Abbildung einer Verhandlung in einer Strafsache. Neben dem Bild lag die "Dienstanweisung des Wesirs", in der (nicht eindeutig zu entziffern) steht, daß der höchste Beamte des Pharao bei einer Amtshandlung "die 40 Rollen" vor sich ausbreiten soll. Auf dem Bild sind in der Tat vierzig schmale Gegenstände zu sehen. Waren darin die Gesetze, nach denen der Wesir urteilen sollte, aufgezeichnet? Oder handelt es sich nicht um Lederrollen, sondern um Lederpeitschen, "als Ausdruck der Staatsgewalt"? Diesmal kein legeres "wie auch immer", sondern einmal ein ernsthaftes "wir wissen es also nicht".
Dieses durch noch so dicke Faktenteppiche nicht zu erstickende Ignorabimus ist es, das die Arbeit des (Rechts-)Historikers bestimmt und ihn zum Künstler werden läßt. Wer es aushalten und sich sogar dafür begeistern kann, daß die historische "Wissenschaft aus Kunst" entstanden ist (Daniel Fulda) und heute Wissenschaft nur als Kunst möglich ist, dem eröffnet sich ein Horizont von Erkenntnismöglichkeiten hinter den Mauern eines Positivismus der Erkenntnis. Wesel hat die Wand letztlich nur à la mode bemalt. Die schmucken Farben und die Nonchalance des Autors vermögen dessen Glauben an die Fakten und die Geschichte nicht zu verbergen. Niedergerissen hat er die Mauer der "Tatsachen" nicht. Er hat "das Buch", das letztes Jahr am Horizont aufschien, nicht ernst genommen. So steht er in Treue fest und ohne Zaudern zu Nietzsches "Weibchen, alt zum Schaudern: ,Die Wahrheit' hieß dies alte Weib . . .".
Uwe Wesel: "Geschichte des Rechts". Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. Verlag C. H. Beck, München 1997. 581 S., geb., 68,- DM.
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