In zwanzigjähriger Forschungsarbeit hat Ariès eine Fülle archäologischer, literarischer und liturgischer Quellen gesichtet, Sterberiten und Bestattungsbräuche untersucht, die Geschichte der großen städtischen Friedhöfe studiert und zahlreiche Testamente durchforscht. Entstanden ist eine Geschichte der Einstellungen des Menschen zum Tod und zum Sterben. Fast zwei Jahrtausende lang - "von Homer bis Tolstoi" - blieb im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens, er wurde akzeptiert und häufig als eine letzte Lebensphase der Erfüllung empfunden. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Der Tod ist für den heutigen Menschen angsteinflößend und unfaßbar, und er ist außerdem in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den "eigenen Tod" betrogen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2015Das schwierige Gespräch nicht vermeiden
Sterbenskunst: Zur Lehre einer "Ars Moriendi" an der Harvard Medical School
Am 20. Januar erschien vormittags gegen elf Uhr ein Mann im Brigham and Women's Hospital in Boston. Er hatte einen Termin bei Dr. Michael Davidson, einem Herzchirurgen, der zwei Monate zuvor eine Operation an der Herzklappe der achtundsiebzigjährigen Mutter des Mannes repariert hatte. Die Frau war inzwischen verstorben. Als der Arzt das Untersuchungszimmer betrat, zog der Mann einen Revolver, zielte auf den Arzt, drückte zweimal ab und erschoss sich dann selbst. Dr. Davidson starb neun Stunden später im Operationssaal. Seine Kollegen konnten ihn nicht mehr retten.
Um 16 Uhr am gleichen Tag traf sich im Gebäude nebenan, dem Lehrzentrum der Harvard Medical School, eine Gruppe von Medizinstudenten zum philosophischen Seminar. Thema: "An den Grenzen der Medizin: Integration des Todesbewusstseins in die medizinische Praxis". Die Studenten waren schweigsam. Über den Angriff auf Davidson wollten sie nicht sprechen. Sie retteten sich in eine Diskussion über Michel de Montaignes Umgang mit dem Tod.
Die Studenten gehörten mehrheitlich einem vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und von der Harvard Medical School gemeinsam geleiteten Programm an, hinter dessen unauffälligem Namen "Health Sciences and Technology" (HST) sich die Idee verbirgt, Spitzenforscher in der Biomedizin auch als Ärzte auszubilden (und umgekehrt), um die klinische Praxis ganz nah an die Forschung zu bringen und um umgekehrt die Forscher in der Realität zu verankern. Die Grundeinstellung der Studenten ist jene Maximalvariante des amerikanischen Optimismus, die seit 150 Jahren am MIT regiert: Es gibt kein Problem, das wir nicht durch Zerlegen und kreatives Nachdenken lösen können.
Ein Kurs über die Grenzen der Medizin und die Notwendigkeit, den Tod in die heutige medizinische Praxis zu integrieren, ist dieser Grundhaltung diametral entgegengesetzt. Er gehört zu den Wahlfächern (electives) und wurde bislang insbesondere von Studienanfängern aus den affiliierten Colleges der Umgebung besucht. HST leistet sich diesen Kurs als Serviceeinrichtung und nostalgisches Feigenblättchen. Er ist das letzte Überbleibsel eines noch vor zehn Jahren substantiellen geisteswissenschaftlichen und philosophischen Lehrangebots für Harvards Mediziner.
Mit der Veröffentlichung von Atul Gawandes Buch "Being Mortal" (Sterblich sein) im Oktober 2014 aber rückten die Grenzen der Medizin plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit amerikanischer Leser. Gawande, Jahrgang 1965, ist praktizierender Chirurg am Brigham und Women's Hospital und Professor für Chirurgie an der Harvard Medical School. Außerdem ist er seit 1998 Essayist für den "New Yorker" und Autor von hervorragend geschriebenen Bestsellern über seine tägliche Arbeit und die Notwendigkeit, seine Leistung als Arzt und die medizinische Praxis insgesamt zu perfektionieren. "Better: A Surgeon's Notes on Performance" hieß sein Bestseller von 2007.
Und jetzt das Gegenteil: ein Plädoyer für die Anerkennung des Todes und die Integration des Todesbewusstseins in die medizinische Praxis. Denn, so Gawandes Fazit in "Being Mortal", abringen kann man dem Tod fast nichts. Aber man kann ihm etwas von der bitteren Brutalität nehmen, die jene erfahren, die sich ihm zu lange und zu verzweifelt widersetzen. Damit kommt Gawande bei jener alten Kunst des Sterbens, der Ars Moriendi, an, die er als eine hohe Kunst der Selbstbestimmung preist und die mit dem technologischen Fortschritt seit etwa 1950 überflüssig geworden zu sein schien.
Wahn der Lebensverlängerung
Was ihn dorthin führte, war die Entscheidung seines Vaters Atmaran Gawande, selbst ein bedeutender und leidenschaftlicher Chirurg, nichts gegen einen Tumor zu unternehmen, der langsam in seinem Rückenmark wuchs und der ihn erst lähmen und dann töten würde. Eine Operation würde sehr wahrscheinlich lebensverlängernd sein, aber wohl nur um den Preis einer sofortigen Komplettlähmung. Atul Gawande sah sich nun in die Lage versetzt, als Sohn mit seinem Vater "das schwierige Gespräch" führen zu müssen, das er als Arzt schon tausendmal vermieden hatte: das Gespräch über das Lebensende und was einem Patienten, einem Vater, einer Tochter im tiefsten Innern wirklich wichtig ist.
Angesichts des Leidens der Patienten, die am Ende der medizinischen Möglichkeiten angekommen sind, ist jeder Arzt versucht, auch noch das leiseste Fünkchen Hoffnung zu aktivieren. An den Lehrkrankenhäusern der Harvard Medical School, die sich im Zentrum der medizinischen Spitzenforschung befinden, ist die Versuchung besonders groß, auf Medikamente und Eingriffe hinzuweisen, die noch im Versuchsstadium sind. Denn nichts ist ja unmöglich. Jeder Patient kann durch unerhörtes Glück zu dem einen Prozent gehören, das auf dieses oder jenes neue Medikament anspricht. Denn der Durchschnitt, so schrieb Stephen Jay Gould 1982 über seinen eigenen Umgang mit der Nachricht, dass er an einem seltenen und schnell tödlichen Tumor erkrankt war, muss nicht auf einen selbst zutreffen. Er behielt für sich selbst recht und lebte noch zwanzig Jahre.
Doch aus seiner Praxis kennt Gawande die unermesslichen Leiden, die Patienten am Lebensende auf sich nehmen, weil sie nicht aufgeben wollen oder können, weil keiner mit ihnen "das schwierige Gespräch" führt, weil Ärzte, die dieses Gespräch nicht führen wollen, immer wieder ein neues Hoffnungsfünklein hervorzaubern. Eine Woche, einen Monat leben - und sei es unter Qualen, die ein Patient selbst nur schlecht abschätzen kann - wird zum Ziel des Gesprächs mit dem Arzt.
Das Resultat ist eine Vertagung der Entscheidungen. Die Folgen sind Einbezug in den gesetzlich abgesicherten Lebensverlängerungswahn der modernen Medizin und Verlust der Autonomie. Menschen an Schläuchen und Beatmungsmaschinen können nichts mehr entscheiden. Gawande erfuhr das in seiner Praxis und schrieb ein Buch, in dessen Zentrum "das schwierige Gespräch" steht. Es muss geführt werden, solange man noch im Vollbesitz aller Kräfte ist. Denn ein Mensch in Lebensangst ist schon dabei, seine Autonomie zu verlieren. Die Journalistin Ellen Goodman gründete darum in Boston das "Conversation Project", und in Seattle entstand "Death over Dinner", dessen Website den Gastgebern eines Dinners, dessen Gegenstand "das schwierige Gespräch" sein soll, genaue Anweisung zur Vorbereitung gibt.
Altern ist eine harte Aufgabe
In einer Gesellschaft, in der noch religiös gelebt würde, wäre das natürlich nicht nötig. Philippe Ariès' Klassiker "Geschichte des Todes" (1980) dokumentierte die Erosion der Ars Moriendi im Zuge der Säkularisation. Dass wir uns alle in dieser Kunst üben sollten, bringt Gawande seinen Lesern unter die Haut gehend nahe, indem er sein Augenmerk nicht auf das exotische Kranksein, sondern auf alltägliches Altern richtet, gegen das kein Kraut gewachsen ist. "Wir haben zwei Probleme, die wir nicht lösen können", sagt Gawande: "Altern und Tod".
Leben ist eine Krankheit zum Tode. Das muss nicht deprimieren, denn man kann lernen, nicht nur das Leben sondern auch das Ende besser, bewusster und autonomer zu erleben. In neun stetig drastischer werdenden Kapiteln beschreibt Gawande mit Hilfe vieler Lebensgeschichten aus seinem medizinischen Alltag unseren Weg in die Hinfälligkeit, der schlimmstenfalls in einem Zimmerchen, all unserer persönlichsten Dinge beraubt, an Schläuchen und Maschinen endet. Er beschreibt aber auch die sozialen Gegenbewegungen, die Revolution des unabhängigen, aber betreuten Wohnens etwa und die Wichtigkeit von Gesprächen, Bezugspersonen und verantwortungsvollen Aufgaben für ältere Menschen. Altern ist eine ebenso harte Aufgabe wie Erziehung; die letzten Jahre brauchen so viel Aufmerksamkeit, Kreativität und Teamwork wie die ersten Jahre.
Wenn wir es geschafft haben, unsere körperliche Grenze zu erreichen, müssen wir noch den Mut haben, zu sagen: Ich habe gelebt, so gut ich es vermocht habe, und jetzt ist das Leben zu Ende. Das ist die größte Herausforderung überhaupt. "Mut" ist Gawandes letztes Kapitel überschrieben. Es ist der Mut, medizinisch nichts Heroisches zu tun. Gawandes Vater entschied sich für beste mögliche Lebensqualität um den Preis kürzerer Lebenszeit.
Im Jahr 2010 starben 45 Prozent der Amerikaner in einem Hospiz. Wer mit seinem Arzt "das schwierige Gespräch" führt, wird sich eher gegen heroische Maßnahmen entscheiden. Doch weniger als zehn Prozent aller Patienten führen ein solches Gespräch mit ihrem Arzt. Beide Seiten vermeiden es. Das hat auch damit zu tun, dass man Ärzte kaum noch auf dieses Gespräch vorbereitet. Kaum ein Medizinstudent hat dafür noch eine Sprache.
In Januar, drei Monate nach dem Erscheinen von Gawandes Buch, war der Kurs über den Tod zum ersten Mal seit Jahren richtig voll. Was am 20. Januar niemand sagen musste, war, dass zu den wichtigsten Aufgaben der Ärzte der Zukunft die Bereitschaft gehören wird, mit Patienten ein Gespräch zu führen, das in Widerspruch zu allem zu stehen scheint, das sie motivierte, sich in Harvard und am MIT ausbilden zu lassen: die unerschütterliche Überzeugung dieser Institutionen nämlich, dass alle Probleme durch Genie gelöst werden können. Die Anerkennung der menschlichen Grenzen ist für diese Studenten die schwierigste Aufgabe überhaupt. Die Schüsse auf Dr. Davidson machten klar, dass es sich hier nicht um eine philosophische Übung handelt.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sterbenskunst: Zur Lehre einer "Ars Moriendi" an der Harvard Medical School
Am 20. Januar erschien vormittags gegen elf Uhr ein Mann im Brigham and Women's Hospital in Boston. Er hatte einen Termin bei Dr. Michael Davidson, einem Herzchirurgen, der zwei Monate zuvor eine Operation an der Herzklappe der achtundsiebzigjährigen Mutter des Mannes repariert hatte. Die Frau war inzwischen verstorben. Als der Arzt das Untersuchungszimmer betrat, zog der Mann einen Revolver, zielte auf den Arzt, drückte zweimal ab und erschoss sich dann selbst. Dr. Davidson starb neun Stunden später im Operationssaal. Seine Kollegen konnten ihn nicht mehr retten.
Um 16 Uhr am gleichen Tag traf sich im Gebäude nebenan, dem Lehrzentrum der Harvard Medical School, eine Gruppe von Medizinstudenten zum philosophischen Seminar. Thema: "An den Grenzen der Medizin: Integration des Todesbewusstseins in die medizinische Praxis". Die Studenten waren schweigsam. Über den Angriff auf Davidson wollten sie nicht sprechen. Sie retteten sich in eine Diskussion über Michel de Montaignes Umgang mit dem Tod.
Die Studenten gehörten mehrheitlich einem vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und von der Harvard Medical School gemeinsam geleiteten Programm an, hinter dessen unauffälligem Namen "Health Sciences and Technology" (HST) sich die Idee verbirgt, Spitzenforscher in der Biomedizin auch als Ärzte auszubilden (und umgekehrt), um die klinische Praxis ganz nah an die Forschung zu bringen und um umgekehrt die Forscher in der Realität zu verankern. Die Grundeinstellung der Studenten ist jene Maximalvariante des amerikanischen Optimismus, die seit 150 Jahren am MIT regiert: Es gibt kein Problem, das wir nicht durch Zerlegen und kreatives Nachdenken lösen können.
Ein Kurs über die Grenzen der Medizin und die Notwendigkeit, den Tod in die heutige medizinische Praxis zu integrieren, ist dieser Grundhaltung diametral entgegengesetzt. Er gehört zu den Wahlfächern (electives) und wurde bislang insbesondere von Studienanfängern aus den affiliierten Colleges der Umgebung besucht. HST leistet sich diesen Kurs als Serviceeinrichtung und nostalgisches Feigenblättchen. Er ist das letzte Überbleibsel eines noch vor zehn Jahren substantiellen geisteswissenschaftlichen und philosophischen Lehrangebots für Harvards Mediziner.
Mit der Veröffentlichung von Atul Gawandes Buch "Being Mortal" (Sterblich sein) im Oktober 2014 aber rückten die Grenzen der Medizin plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit amerikanischer Leser. Gawande, Jahrgang 1965, ist praktizierender Chirurg am Brigham und Women's Hospital und Professor für Chirurgie an der Harvard Medical School. Außerdem ist er seit 1998 Essayist für den "New Yorker" und Autor von hervorragend geschriebenen Bestsellern über seine tägliche Arbeit und die Notwendigkeit, seine Leistung als Arzt und die medizinische Praxis insgesamt zu perfektionieren. "Better: A Surgeon's Notes on Performance" hieß sein Bestseller von 2007.
Und jetzt das Gegenteil: ein Plädoyer für die Anerkennung des Todes und die Integration des Todesbewusstseins in die medizinische Praxis. Denn, so Gawandes Fazit in "Being Mortal", abringen kann man dem Tod fast nichts. Aber man kann ihm etwas von der bitteren Brutalität nehmen, die jene erfahren, die sich ihm zu lange und zu verzweifelt widersetzen. Damit kommt Gawande bei jener alten Kunst des Sterbens, der Ars Moriendi, an, die er als eine hohe Kunst der Selbstbestimmung preist und die mit dem technologischen Fortschritt seit etwa 1950 überflüssig geworden zu sein schien.
Wahn der Lebensverlängerung
Was ihn dorthin führte, war die Entscheidung seines Vaters Atmaran Gawande, selbst ein bedeutender und leidenschaftlicher Chirurg, nichts gegen einen Tumor zu unternehmen, der langsam in seinem Rückenmark wuchs und der ihn erst lähmen und dann töten würde. Eine Operation würde sehr wahrscheinlich lebensverlängernd sein, aber wohl nur um den Preis einer sofortigen Komplettlähmung. Atul Gawande sah sich nun in die Lage versetzt, als Sohn mit seinem Vater "das schwierige Gespräch" führen zu müssen, das er als Arzt schon tausendmal vermieden hatte: das Gespräch über das Lebensende und was einem Patienten, einem Vater, einer Tochter im tiefsten Innern wirklich wichtig ist.
Angesichts des Leidens der Patienten, die am Ende der medizinischen Möglichkeiten angekommen sind, ist jeder Arzt versucht, auch noch das leiseste Fünkchen Hoffnung zu aktivieren. An den Lehrkrankenhäusern der Harvard Medical School, die sich im Zentrum der medizinischen Spitzenforschung befinden, ist die Versuchung besonders groß, auf Medikamente und Eingriffe hinzuweisen, die noch im Versuchsstadium sind. Denn nichts ist ja unmöglich. Jeder Patient kann durch unerhörtes Glück zu dem einen Prozent gehören, das auf dieses oder jenes neue Medikament anspricht. Denn der Durchschnitt, so schrieb Stephen Jay Gould 1982 über seinen eigenen Umgang mit der Nachricht, dass er an einem seltenen und schnell tödlichen Tumor erkrankt war, muss nicht auf einen selbst zutreffen. Er behielt für sich selbst recht und lebte noch zwanzig Jahre.
Doch aus seiner Praxis kennt Gawande die unermesslichen Leiden, die Patienten am Lebensende auf sich nehmen, weil sie nicht aufgeben wollen oder können, weil keiner mit ihnen "das schwierige Gespräch" führt, weil Ärzte, die dieses Gespräch nicht führen wollen, immer wieder ein neues Hoffnungsfünklein hervorzaubern. Eine Woche, einen Monat leben - und sei es unter Qualen, die ein Patient selbst nur schlecht abschätzen kann - wird zum Ziel des Gesprächs mit dem Arzt.
Das Resultat ist eine Vertagung der Entscheidungen. Die Folgen sind Einbezug in den gesetzlich abgesicherten Lebensverlängerungswahn der modernen Medizin und Verlust der Autonomie. Menschen an Schläuchen und Beatmungsmaschinen können nichts mehr entscheiden. Gawande erfuhr das in seiner Praxis und schrieb ein Buch, in dessen Zentrum "das schwierige Gespräch" steht. Es muss geführt werden, solange man noch im Vollbesitz aller Kräfte ist. Denn ein Mensch in Lebensangst ist schon dabei, seine Autonomie zu verlieren. Die Journalistin Ellen Goodman gründete darum in Boston das "Conversation Project", und in Seattle entstand "Death over Dinner", dessen Website den Gastgebern eines Dinners, dessen Gegenstand "das schwierige Gespräch" sein soll, genaue Anweisung zur Vorbereitung gibt.
Altern ist eine harte Aufgabe
In einer Gesellschaft, in der noch religiös gelebt würde, wäre das natürlich nicht nötig. Philippe Ariès' Klassiker "Geschichte des Todes" (1980) dokumentierte die Erosion der Ars Moriendi im Zuge der Säkularisation. Dass wir uns alle in dieser Kunst üben sollten, bringt Gawande seinen Lesern unter die Haut gehend nahe, indem er sein Augenmerk nicht auf das exotische Kranksein, sondern auf alltägliches Altern richtet, gegen das kein Kraut gewachsen ist. "Wir haben zwei Probleme, die wir nicht lösen können", sagt Gawande: "Altern und Tod".
Leben ist eine Krankheit zum Tode. Das muss nicht deprimieren, denn man kann lernen, nicht nur das Leben sondern auch das Ende besser, bewusster und autonomer zu erleben. In neun stetig drastischer werdenden Kapiteln beschreibt Gawande mit Hilfe vieler Lebensgeschichten aus seinem medizinischen Alltag unseren Weg in die Hinfälligkeit, der schlimmstenfalls in einem Zimmerchen, all unserer persönlichsten Dinge beraubt, an Schläuchen und Maschinen endet. Er beschreibt aber auch die sozialen Gegenbewegungen, die Revolution des unabhängigen, aber betreuten Wohnens etwa und die Wichtigkeit von Gesprächen, Bezugspersonen und verantwortungsvollen Aufgaben für ältere Menschen. Altern ist eine ebenso harte Aufgabe wie Erziehung; die letzten Jahre brauchen so viel Aufmerksamkeit, Kreativität und Teamwork wie die ersten Jahre.
Wenn wir es geschafft haben, unsere körperliche Grenze zu erreichen, müssen wir noch den Mut haben, zu sagen: Ich habe gelebt, so gut ich es vermocht habe, und jetzt ist das Leben zu Ende. Das ist die größte Herausforderung überhaupt. "Mut" ist Gawandes letztes Kapitel überschrieben. Es ist der Mut, medizinisch nichts Heroisches zu tun. Gawandes Vater entschied sich für beste mögliche Lebensqualität um den Preis kürzerer Lebenszeit.
Im Jahr 2010 starben 45 Prozent der Amerikaner in einem Hospiz. Wer mit seinem Arzt "das schwierige Gespräch" führt, wird sich eher gegen heroische Maßnahmen entscheiden. Doch weniger als zehn Prozent aller Patienten führen ein solches Gespräch mit ihrem Arzt. Beide Seiten vermeiden es. Das hat auch damit zu tun, dass man Ärzte kaum noch auf dieses Gespräch vorbereitet. Kaum ein Medizinstudent hat dafür noch eine Sprache.
In Januar, drei Monate nach dem Erscheinen von Gawandes Buch, war der Kurs über den Tod zum ersten Mal seit Jahren richtig voll. Was am 20. Januar niemand sagen musste, war, dass zu den wichtigsten Aufgaben der Ärzte der Zukunft die Bereitschaft gehören wird, mit Patienten ein Gespräch zu führen, das in Widerspruch zu allem zu stehen scheint, das sie motivierte, sich in Harvard und am MIT ausbilden zu lassen: die unerschütterliche Überzeugung dieser Institutionen nämlich, dass alle Probleme durch Genie gelöst werden können. Die Anerkennung der menschlichen Grenzen ist für diese Studenten die schwierigste Aufgabe überhaupt. Die Schüsse auf Dr. Davidson machten klar, dass es sich hier nicht um eine philosophische Übung handelt.
SUSANNE KLINGENSTEIN
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