Erstmals unternimmt es Heinrich August Winkler mit diesem Werk, eine - längst überfällige - Geschichte des Westens zu schreiben. Von den Anfängen in der Antike bis in das 20. Jahrhundert zieht er einen welthistorischen Bogen, der die politische Geschichte ebenso souverän umspannt wie die Geschichte der politischen Ideen. Der Westen - seit dem Zeitalter der Entdeckungen ist er gleichsam das welthistorische Maß aller Dinge. Er hat mit einer unvergleichlichen Dynamik fremde Reiche erobert und ganze Kontinente unterworfen, die Erde bis in ihre entlegensten Winkel erschlossen, die modernen Naturwissenschaften und das Zeitalter der Technik hervorgebracht, die Menschen- und Bürgerrechte, die Herrschaft des Rechts und die Demokratie erfunden. Aber er hat auch oft genug gegenüber den nichtwestlichen Teilen der Welt seine Werte verraten, Freiheit gepredigt und Habgier gemeint und mit dem Kapitalismus eine Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse entfesselt, die bis heute die Menschheit in Atem hält.
Mit seltener Meisterschaft verknüpft Heinrich August Winkler die lebendige historische Erzählung mit einem klaren Blick für die großen Entwicklungslinien der westlichen Welt. Sein Buch ist keine ermüdende Aufzählung von Haupt- und Staatsaktionen, sondern eine historische Selbstvergewisserung des Westens, seiner Werte und Ideale. Für sie darf, ja muss der Westen auch im 21. Jahrhundert werben. Glaubhaft kann er das aber nur tun, wenn er sich auch den dunklen Seiten seiner Geschichte stellt.
Mit seltener Meisterschaft verknüpft Heinrich August Winkler die lebendige historische Erzählung mit einem klaren Blick für die großen Entwicklungslinien der westlichen Welt. Sein Buch ist keine ermüdende Aufzählung von Haupt- und Staatsaktionen, sondern eine historische Selbstvergewisserung des Westens, seiner Werte und Ideale. Für sie darf, ja muss der Westen auch im 21. Jahrhundert werben. Glaubhaft kann er das aber nur tun, wenn er sich auch den dunklen Seiten seiner Geschichte stellt.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Nicht weniger als ein "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" ist Heinrich August Winklers weit gefasste Übersicht über die "politische Geschichte des Westens" in der Neuzeit nach Einschätzung des Rezensenten Wilhelm von Sternburg. Der Band ist in seinen Augen eine Fortführung und Erweiterung von Winklers vor neun Jahren veröffentlichter Geschichte der Deutschen und ihrem Weg nach Westen, diesmal geht es um die gesamte westliche Welt. Auch wenn er damit thematisch ein riesiges Feld beackert, bietet diese Form der Darstellung in Sternburgs Augen einen großen Vorteil. Diese Perspektive ermöglicht es dem Leser, die "Gesamtbewegung der Geschichte" zu erkennen. Winkler zeigt Vergangenes nach Meinung des Rezensenten "sehr realistisch als Chance und Untergang" und besitzt neben seinem historischen Sachverstand auch die Gabe des guten Erzählens.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Europas bedeutendster Historiker erzählt darin eine grosse Geschichte: Wie die Freiheit aus dem Widerstreit von geistlicher Gewalt und weltlicher Macht geboren wurde."
Blick, Frank A. Meyer
"a vivid, eminently readable account of high politics and political thought - is a performative act to anchor Germany firmly in the imagined community of the West. The rationale for producing such a work is as clear as its message: Germans should care about the West because they belong to it."
sehepunkte, Riccardo Bavaj
Blick, Frank A. Meyer
"a vivid, eminently readable account of high politics and political thought - is a performative act to anchor Germany firmly in the imagined community of the West. The rationale for producing such a work is as clear as its message: Germans should care about the West because they belong to it."
sehepunkte, Riccardo Bavaj
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2015Mauerfall und Irrweg
Finale Furioso: Heinrich August Winklers „Geschichte
des Westens“ hat die Gegenwart erreicht
VON GUSTAV SEIBT
Von Moses bis zum 20. November 2014: Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ ist nun mit dem vierten Band, nach 4500 Seiten, zum Abschluss gekommen und hat die Gegenwart erreicht. Bis in die letzten Tage vor der Drucklegung muss der unermüdliche Historiker nachgearbeitet haben, um ein weiter fortstürzendes Geschehen einzuarbeiten. Schon die letzten zweihundert Seiten, die „das Ende aller Sicherheit“ seit 2008 behandeln – Finanz- und Schuldenkrise, Arabischer Frühling, Ukraine-Konflikt, nahöstlicher und globalisierter Terror – lesen sich über weite Strecken wie eine auf Zeitungen basierte Chronik, eine unruhige Aktualität, die noch nicht zur „Geschichte“ werden konnte.
Wer im Nachrichtenstrom den Überblick zu verlieren droht, wird dankbar auch dafür sein, etwa für die minutiöse, schrittweise Darlegung jener Konflikte, die immer noch die Meinungen spalten, der um den Euro und der zwischen Russland und dem Westen. Um es vorwegzunehmen: Winkler teilt im Wesentlichen das politische „Narrativ“ der Euro-Krise, das sie weniger auf eine entfesselte Finanzindustrie als auf die fehlende wirtschaftspolitische Harmonisierung der neuen supranationalen Währung zurückführt. Die Börsen, die Banken, die Kreditblasen wirkten hier vor allem als Brandbeschleuniger. Wie die meisten Beobachter glaubt auch Winkler, dass „Austerität“ allein zwar nicht hilft, dass aber ohne strukturelle Anpassungen vor allem am Mittelmeer alle Großzügigkeit vergeblich bleiben wird.
Entschiedener ist Winkler bei Krim, Putin, Russland. Den ersten gewaltsamen Landgewinn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs versteht er als historische Zäsur, nicht nur für Europa, sondern für die internationalen Beziehungen überhaupt. Darin zeige sich, dass die nach 1991 erhoffte Verwestlichung Russlands – also die Übernahme grundlegender rechtlicher Standards – vorerst gescheitert sei. Dieses Verdikt ist vor allem deshalb glaubwürdig, weil Winkler in den Kapiteln davor den Verrat des Westens an seinen eigenen Werten mit unnachsichtiger Deutlichkeit zur Anschauung gebracht hat.
Dieser vierte Band der Geschichte des Westens behandelt die Zeit seit 1991, seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, das als Ende des kommunistischen Weltexperiments für einen Politik- und Ideenhistoriker noch wichtiger ist als der Fall der Berliner Mauer. Winklers Sinfonia Eroica hat einen langen Kopfsatz, der bis 1914 reicht, und danach drei ausführlich erzählte Epochenbände, die das zuvor exponierte Thema variieren und entwickeln. Diese drei Kapitel behandeln das Zeitalter der Weltkriege von 1914 bis 1945 (Band 2), den Kalten Krieg bis 1991 (Band 3) und nun also „Die Zeit der Gegenwart“. Man kann von einer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einem langen Vorlauf sprechen.
Dieser Vorlauf aber ist entscheidend, weil er die Gesichtspunkte freilegt, unter denen Winkler unser Zeitalter und die Zukunft betrachtet. Der „Westen“ ist dabei, das hat sich herumgesprochen, weder eine Region des Erdballs noch eine kontinuierliche Abfolge von Akteuren, sondern ein Ideenkonglomerat, ein „normatives Projekt“. Dieses besteht aus den universalen Menschenrechten, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung in den Staatsverfassungen sowie der daraus sich ergebenden Regierungsweise von Volkssouveränität und repräsentativer Demokratie.
Zur langen Vorgeschichte dieser Ideen zählt Winkler eher beiläufig die griechische Demokratie und den römischen Staat – aus der heidnisch-antiken Überlieferung behält er vor allem das Konzept gemischter Verfassungen im Gedächtnis, als Vorlauf zu den modernen Gewaltenteilungen. Für diese und für die Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten sind ihm viel wichtiger religiöse Voraussetzungen, und zwar große Trennungen: die Trennung von Gott und Welt durch den Monotheismus, die Trennung von irdischem und göttlichem Recht durch die christliche Zwei-Reiche-Lehre, aus der später die Trennung von Kirche und Staat, vor allem durch die Kämpfe um das Papsttum wurde. Dazu kamen die Trennung von Fürst und Staat in den ständischen Verfassungen, vor allem der Englands, die Freistellung des Individuums in der reformatorischen Gewissensfreiheit, schließlich jene allgültigen Menschenrechte, die aus der Gottesebenbildlichkeit und Gotteskindschaft des Christentums kommen.
Fertig war dieser Ideenkomplex eigentlich schon 1776 und 1789 durch die Revolutionen in Amerika und Frankreich, und zwar in der vorjakobinischen Phase der bürgerlichen Revolution, vorbereitet durch religiöse Toleranz und Aufklärung. Danach, und vor allem seit der Durchsetzung der Demokratie in den meisten Nationalstaaten, wird aus dem „normativen Projekt“ ein „normativer Prozess“, der nicht nur alle Kontinente erfasst, sondern die Herrschaft des Rechts idealerweise auch auf die internationalen Beziehungen ausdehnen sollte. Diese innere Dynamik einer im Kern seit fast 250 Jahren feststehenden Konstellation stellt für den Historiker dann den „ethischen Horizont“ seiner Darstellung bereit, das Kriterium für Fortschritt und Gelingen oder für Irrweg und Verbrechen.
Über dieses einfach-kühne Konstrukt wird seit dem ersten Band von Winklers Werk viel gestritten, für den letzten Band kann man erst einmal beruhigt feststellen: Wie immer man die Vorgeschichte konzipiert, für die Gegenwart stellt es eine klare Perspektive her. Denn es zwingt dazu, den „Westen“ an seinen eigenen Maßstäben zu messen. Er hat in Gestalt der Vereinigten Staaten und der Nato 1989 bis 1991 gesiegt, und zwar so vollständig und elegant wie selten ein welthistorischer Sieg errungen wurde: unblutig und mit unverzüglicher Übernahme vieler seiner grundlegenden Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftsformen beim bisherigen Hauptgegner, dem sowjetisch-kommunistischen Staatenverbund. Im Übermut des Sieges wurde seinerzeit entweder das Ende aller Alternativen verkündet oder ein Draußen nur noch in autochthonen fremden Weltkulturen erkannt.
Daher trägt Winklers erster Abschnitt, der bis zum „Krieg gegen den Terror“ von 2001 reicht, die Überschrift „Vom Triumph zur Tragödie“. Jeder, der die schönen Jahre um 1989 selbst erlebt hat, kann hier nur bitter werden. Hätte man 1991 vorausgesagt, dass die Vormacht des Westens schon zehn Jahre später wesentliche Teile ihres normativen Fundaments – rechtsstaatliche Grundsätze, Folterverbot, das Völkerrecht – binnen weniger Monate über Bord werfen würde, niemand hätte es geglaubt. Winkler beschreibt den Weg in den moralischen Abgrund mit einer beklemmenden, nüchternen Genauigkeit, die vor allem den liberalen Falken nach dem 11. September eine düstere Lektion erteilt. Der Satz der Geschichte, dass moralisch auf Dauer niemand auf der sicheren Seite ist, bewahrt hier seine Solidität. Diese Erfahrung sollte den Westen neu impfen.
Winklers Zuversicht ist hier wie anderswo: Das immer bedrohte westliche Projekt erweist seine Stärke in der Fähigkeit zur unablässigen Selbstkorrektur; sonst wäre es ja nicht „normativ“. Überhaupt ist dieses Werk, wie schon bei den Vorläuferbänden zu rühmen war, von nie nachlassender Gerechtigkeit, Umsicht und Genauigkeit. Die Faktenfülle wäre erdrückend, wäre Winkler nicht ein so klarer Stilist und präziser Kommentator. Die leitende Idee bewährt ihre ordnende Kraft bis in die Detailgeschichten etwa der baltischen Länder oder der jugoslawischen Nachfolgestaaten. Genauigkeit ist bei einem so umkämpften Thema wie dem Irakkrieg seit 2003 eine mehr als äußerliche Tugend, auch wenn hier die Abläufe noch nicht so offen liegen wie inzwischen schon bei der Neuordnung Europas in den Neunzigerjahren.
Trotzdem muss es ein Aber geben. Winklers Konzept des Westens ist im Kern ideengeschichtlich. Das ist leicht zu begreifen, weil sich sonst der Bogen von Moses bis zur Europäischen Union nicht schlagen ließe. Seine konkrete Darstellung aber ist vor allem politik- und staatengeschichtlich. Hans-Ulrich Wehler, der große sozialhistorische Kollege Winklers, nannte Politikgeschichte gern „blutleer“. Nun, das ist sie bei Winkler nicht, schon weil die Ökonomie in Gestalt der Wirtschaftspolitikgeschichte gebührende Aufmerksamkeit erhält. Aber es ist der Blick von oben auf die Wirtschaft, sein Inhalt sind die globalen Zahlenwerke, Haushalts- und Beschäftigungsziffern, Wachstums- und Inflationsraten, Strukturprobleme, Globalisierung, Wettstreit der Volkswirtschaften. Die Erfahrungen, die sich mit diesen „Strukturen und Prozessen“, wie Wehler es nannte, verbinden, kommen kaum zur Anschauung.
Wer hier die Gegenprobe machen will, sollte Winklers neuen Bandzusammen mit Philipp Thers Geschichte des neoliberalen Europa lesen, die kürzlich unter dem Titel „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ erschien (SZ vom 7. Oktober 2014). Auch Ther erzählt eine Geschichte der Verwestlichung, aber eine, die die Erfahrungen der betroffenen Gesellschaften aufgreift und auch den gar nicht so subkutanen Einfluss des abgewickelten Ostens auf den angeblich siegreichen Westen zeigt.
Die erfahrungs- und sozialhistorische Lücke bei Winkler ist allerdings kein Zufall. Sie folgt unmittelbar aus dem ideenpolitischen Design seines Begriffs vom Westen. Soziale Ideale, materielle Gerechtigkeit spielen darin nur eine nachrangige Rolle hinter den großen Themen von Menschenwürde, Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Aber gehört nicht die Trennung von Staat und Gesellschaft, also das Recht auf privates Eigentum, zu jenen großen anderen Trennungen, die Winkler zufolge das westliche Projekt formieren?
Wenn man das zugäbe, dann würde sich der das 20. Jahrhundert beherrschende Kampf um diese Trennung – also der Konflikt um die kommunistische Alternative – auch überzeugender aus der inneren Dynamik des Westens entwickeln lassen. Auch wäre die ungeheure Zumutung, die der westliche Individualismus – die Aufforderung, sich zum Herrn des eigenen Schicksals zu machen – eben auch bedeutet, im weltkulturellen Vergleich erst fühlbar.
Bei Winkler dagegen erscheint der europäische Sozialstaat vor allem als Erbe des paternalistisch-fürsorglichen Obrigkeitsstaates vor 1789, und die kommunistisch-totalitäre Versuchung im Osten Europas als Effekt der in der orthodoxen Ostkirche versäumten Trennung von Kirche und Staat. Und so gilt ihm auch der aktuelle islamische Fundamentalismus eher als kulturelles Erbe und religionsgeschichtliches Fatum denn als panische Reaktion auf eine Weltlage. So nüchtern, genau und faktisch Winklers bewundernswerte Leistung an ihrem Ende noch einmal wirkt – über ihren ideenpolitischen Grundriss wird man noch länger streiten müssen.
Der „Westen“ ist hier
ein Ideenkonglomerat,
ein „normatives Projekt“
Die Faktenfülle wäre
erdrückend, wäre der Autor
nicht ein so klarer Stilist
Der einbalsamierte Leichnam Lenins im November 1993, zwei Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion.
Foto: dpa
Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens. Band 4: Die Zeit der Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2015.
687 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Finale Furioso: Heinrich August Winklers „Geschichte
des Westens“ hat die Gegenwart erreicht
VON GUSTAV SEIBT
Von Moses bis zum 20. November 2014: Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ ist nun mit dem vierten Band, nach 4500 Seiten, zum Abschluss gekommen und hat die Gegenwart erreicht. Bis in die letzten Tage vor der Drucklegung muss der unermüdliche Historiker nachgearbeitet haben, um ein weiter fortstürzendes Geschehen einzuarbeiten. Schon die letzten zweihundert Seiten, die „das Ende aller Sicherheit“ seit 2008 behandeln – Finanz- und Schuldenkrise, Arabischer Frühling, Ukraine-Konflikt, nahöstlicher und globalisierter Terror – lesen sich über weite Strecken wie eine auf Zeitungen basierte Chronik, eine unruhige Aktualität, die noch nicht zur „Geschichte“ werden konnte.
Wer im Nachrichtenstrom den Überblick zu verlieren droht, wird dankbar auch dafür sein, etwa für die minutiöse, schrittweise Darlegung jener Konflikte, die immer noch die Meinungen spalten, der um den Euro und der zwischen Russland und dem Westen. Um es vorwegzunehmen: Winkler teilt im Wesentlichen das politische „Narrativ“ der Euro-Krise, das sie weniger auf eine entfesselte Finanzindustrie als auf die fehlende wirtschaftspolitische Harmonisierung der neuen supranationalen Währung zurückführt. Die Börsen, die Banken, die Kreditblasen wirkten hier vor allem als Brandbeschleuniger. Wie die meisten Beobachter glaubt auch Winkler, dass „Austerität“ allein zwar nicht hilft, dass aber ohne strukturelle Anpassungen vor allem am Mittelmeer alle Großzügigkeit vergeblich bleiben wird.
Entschiedener ist Winkler bei Krim, Putin, Russland. Den ersten gewaltsamen Landgewinn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs versteht er als historische Zäsur, nicht nur für Europa, sondern für die internationalen Beziehungen überhaupt. Darin zeige sich, dass die nach 1991 erhoffte Verwestlichung Russlands – also die Übernahme grundlegender rechtlicher Standards – vorerst gescheitert sei. Dieses Verdikt ist vor allem deshalb glaubwürdig, weil Winkler in den Kapiteln davor den Verrat des Westens an seinen eigenen Werten mit unnachsichtiger Deutlichkeit zur Anschauung gebracht hat.
Dieser vierte Band der Geschichte des Westens behandelt die Zeit seit 1991, seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, das als Ende des kommunistischen Weltexperiments für einen Politik- und Ideenhistoriker noch wichtiger ist als der Fall der Berliner Mauer. Winklers Sinfonia Eroica hat einen langen Kopfsatz, der bis 1914 reicht, und danach drei ausführlich erzählte Epochenbände, die das zuvor exponierte Thema variieren und entwickeln. Diese drei Kapitel behandeln das Zeitalter der Weltkriege von 1914 bis 1945 (Band 2), den Kalten Krieg bis 1991 (Band 3) und nun also „Die Zeit der Gegenwart“. Man kann von einer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einem langen Vorlauf sprechen.
Dieser Vorlauf aber ist entscheidend, weil er die Gesichtspunkte freilegt, unter denen Winkler unser Zeitalter und die Zukunft betrachtet. Der „Westen“ ist dabei, das hat sich herumgesprochen, weder eine Region des Erdballs noch eine kontinuierliche Abfolge von Akteuren, sondern ein Ideenkonglomerat, ein „normatives Projekt“. Dieses besteht aus den universalen Menschenrechten, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung in den Staatsverfassungen sowie der daraus sich ergebenden Regierungsweise von Volkssouveränität und repräsentativer Demokratie.
Zur langen Vorgeschichte dieser Ideen zählt Winkler eher beiläufig die griechische Demokratie und den römischen Staat – aus der heidnisch-antiken Überlieferung behält er vor allem das Konzept gemischter Verfassungen im Gedächtnis, als Vorlauf zu den modernen Gewaltenteilungen. Für diese und für die Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten sind ihm viel wichtiger religiöse Voraussetzungen, und zwar große Trennungen: die Trennung von Gott und Welt durch den Monotheismus, die Trennung von irdischem und göttlichem Recht durch die christliche Zwei-Reiche-Lehre, aus der später die Trennung von Kirche und Staat, vor allem durch die Kämpfe um das Papsttum wurde. Dazu kamen die Trennung von Fürst und Staat in den ständischen Verfassungen, vor allem der Englands, die Freistellung des Individuums in der reformatorischen Gewissensfreiheit, schließlich jene allgültigen Menschenrechte, die aus der Gottesebenbildlichkeit und Gotteskindschaft des Christentums kommen.
Fertig war dieser Ideenkomplex eigentlich schon 1776 und 1789 durch die Revolutionen in Amerika und Frankreich, und zwar in der vorjakobinischen Phase der bürgerlichen Revolution, vorbereitet durch religiöse Toleranz und Aufklärung. Danach, und vor allem seit der Durchsetzung der Demokratie in den meisten Nationalstaaten, wird aus dem „normativen Projekt“ ein „normativer Prozess“, der nicht nur alle Kontinente erfasst, sondern die Herrschaft des Rechts idealerweise auch auf die internationalen Beziehungen ausdehnen sollte. Diese innere Dynamik einer im Kern seit fast 250 Jahren feststehenden Konstellation stellt für den Historiker dann den „ethischen Horizont“ seiner Darstellung bereit, das Kriterium für Fortschritt und Gelingen oder für Irrweg und Verbrechen.
Über dieses einfach-kühne Konstrukt wird seit dem ersten Band von Winklers Werk viel gestritten, für den letzten Band kann man erst einmal beruhigt feststellen: Wie immer man die Vorgeschichte konzipiert, für die Gegenwart stellt es eine klare Perspektive her. Denn es zwingt dazu, den „Westen“ an seinen eigenen Maßstäben zu messen. Er hat in Gestalt der Vereinigten Staaten und der Nato 1989 bis 1991 gesiegt, und zwar so vollständig und elegant wie selten ein welthistorischer Sieg errungen wurde: unblutig und mit unverzüglicher Übernahme vieler seiner grundlegenden Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftsformen beim bisherigen Hauptgegner, dem sowjetisch-kommunistischen Staatenverbund. Im Übermut des Sieges wurde seinerzeit entweder das Ende aller Alternativen verkündet oder ein Draußen nur noch in autochthonen fremden Weltkulturen erkannt.
Daher trägt Winklers erster Abschnitt, der bis zum „Krieg gegen den Terror“ von 2001 reicht, die Überschrift „Vom Triumph zur Tragödie“. Jeder, der die schönen Jahre um 1989 selbst erlebt hat, kann hier nur bitter werden. Hätte man 1991 vorausgesagt, dass die Vormacht des Westens schon zehn Jahre später wesentliche Teile ihres normativen Fundaments – rechtsstaatliche Grundsätze, Folterverbot, das Völkerrecht – binnen weniger Monate über Bord werfen würde, niemand hätte es geglaubt. Winkler beschreibt den Weg in den moralischen Abgrund mit einer beklemmenden, nüchternen Genauigkeit, die vor allem den liberalen Falken nach dem 11. September eine düstere Lektion erteilt. Der Satz der Geschichte, dass moralisch auf Dauer niemand auf der sicheren Seite ist, bewahrt hier seine Solidität. Diese Erfahrung sollte den Westen neu impfen.
Winklers Zuversicht ist hier wie anderswo: Das immer bedrohte westliche Projekt erweist seine Stärke in der Fähigkeit zur unablässigen Selbstkorrektur; sonst wäre es ja nicht „normativ“. Überhaupt ist dieses Werk, wie schon bei den Vorläuferbänden zu rühmen war, von nie nachlassender Gerechtigkeit, Umsicht und Genauigkeit. Die Faktenfülle wäre erdrückend, wäre Winkler nicht ein so klarer Stilist und präziser Kommentator. Die leitende Idee bewährt ihre ordnende Kraft bis in die Detailgeschichten etwa der baltischen Länder oder der jugoslawischen Nachfolgestaaten. Genauigkeit ist bei einem so umkämpften Thema wie dem Irakkrieg seit 2003 eine mehr als äußerliche Tugend, auch wenn hier die Abläufe noch nicht so offen liegen wie inzwischen schon bei der Neuordnung Europas in den Neunzigerjahren.
Trotzdem muss es ein Aber geben. Winklers Konzept des Westens ist im Kern ideengeschichtlich. Das ist leicht zu begreifen, weil sich sonst der Bogen von Moses bis zur Europäischen Union nicht schlagen ließe. Seine konkrete Darstellung aber ist vor allem politik- und staatengeschichtlich. Hans-Ulrich Wehler, der große sozialhistorische Kollege Winklers, nannte Politikgeschichte gern „blutleer“. Nun, das ist sie bei Winkler nicht, schon weil die Ökonomie in Gestalt der Wirtschaftspolitikgeschichte gebührende Aufmerksamkeit erhält. Aber es ist der Blick von oben auf die Wirtschaft, sein Inhalt sind die globalen Zahlenwerke, Haushalts- und Beschäftigungsziffern, Wachstums- und Inflationsraten, Strukturprobleme, Globalisierung, Wettstreit der Volkswirtschaften. Die Erfahrungen, die sich mit diesen „Strukturen und Prozessen“, wie Wehler es nannte, verbinden, kommen kaum zur Anschauung.
Wer hier die Gegenprobe machen will, sollte Winklers neuen Bandzusammen mit Philipp Thers Geschichte des neoliberalen Europa lesen, die kürzlich unter dem Titel „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ erschien (SZ vom 7. Oktober 2014). Auch Ther erzählt eine Geschichte der Verwestlichung, aber eine, die die Erfahrungen der betroffenen Gesellschaften aufgreift und auch den gar nicht so subkutanen Einfluss des abgewickelten Ostens auf den angeblich siegreichen Westen zeigt.
Die erfahrungs- und sozialhistorische Lücke bei Winkler ist allerdings kein Zufall. Sie folgt unmittelbar aus dem ideenpolitischen Design seines Begriffs vom Westen. Soziale Ideale, materielle Gerechtigkeit spielen darin nur eine nachrangige Rolle hinter den großen Themen von Menschenwürde, Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Aber gehört nicht die Trennung von Staat und Gesellschaft, also das Recht auf privates Eigentum, zu jenen großen anderen Trennungen, die Winkler zufolge das westliche Projekt formieren?
Wenn man das zugäbe, dann würde sich der das 20. Jahrhundert beherrschende Kampf um diese Trennung – also der Konflikt um die kommunistische Alternative – auch überzeugender aus der inneren Dynamik des Westens entwickeln lassen. Auch wäre die ungeheure Zumutung, die der westliche Individualismus – die Aufforderung, sich zum Herrn des eigenen Schicksals zu machen – eben auch bedeutet, im weltkulturellen Vergleich erst fühlbar.
Bei Winkler dagegen erscheint der europäische Sozialstaat vor allem als Erbe des paternalistisch-fürsorglichen Obrigkeitsstaates vor 1789, und die kommunistisch-totalitäre Versuchung im Osten Europas als Effekt der in der orthodoxen Ostkirche versäumten Trennung von Kirche und Staat. Und so gilt ihm auch der aktuelle islamische Fundamentalismus eher als kulturelles Erbe und religionsgeschichtliches Fatum denn als panische Reaktion auf eine Weltlage. So nüchtern, genau und faktisch Winklers bewundernswerte Leistung an ihrem Ende noch einmal wirkt – über ihren ideenpolitischen Grundriss wird man noch länger streiten müssen.
Der „Westen“ ist hier
ein Ideenkonglomerat,
ein „normatives Projekt“
Die Faktenfülle wäre
erdrückend, wäre der Autor
nicht ein so klarer Stilist
Der einbalsamierte Leichnam Lenins im November 1993, zwei Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion.
Foto: dpa
Heinrich August Winkler: Die Geschichte des Westens. Band 4: Die Zeit der Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2015.
687 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Ende der weltumspannenden Hegemonie
Heinrich August Winklers fesselnde globale Politikgeschichte der allerjüngsten Zeit
"Das Ende aller Sicherheit": Der Krieg ist abermals nach Europa zurückgekehrt. Wie, wann und ob die Ukraine-Krise gelöst werden kann, ist trotz Verhandlungsmarathon und Minsker Abkommen noch nicht absehbar. Der islamische Terror ist mitten in Europa angekommen - der Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" markiert einen weiteren, schrecklichen Höhepunkt. Seuchen und Naturkatastrophen bedrohen auch Europa. Der NSA-Skandal schürt Misstrauen zwischen den Bündnispartnern jenseits und diesseits des Atlantiks. Die EU ist erschüttert durch Wirtschaftskrise und die Auseinandersetzungen zwischen "reicheren" und "ärmeren" Ländern - sie ist von einer politischen Union genauso weit entfernt wie vor über 20 Jahren. Die weltpolitischen Konstellationen und Koalitionen sind längst nicht mehr verlässlich und berechenbar. Eine ziemlich düstere Bilanz im 15. Jahr des 21. Jahrhunderts: Ausgang offen.
Mit "Das Ende aller Sicherheit" ist das letzte Kapitel in Heinrich August Winklers neuestem Buch überschrieben. Dieser vierte Band schließt seine "Geschichte des Westens" ab: "Die Zeit der Gegenwart" beginnt für ihn 1991 und endet ganz aktuell im Jahr 2014. Der Zeitraum, der hier beschrieben wird, ist Zeitgeschichte, die noch dampft, die noch nicht mit dem üblichen Abstand und den nötigen Quellen analysiert werden kann. Entwicklungen sind noch im Gang, deren Ausgang heute noch nicht abgesehen werden kann. Manches wird sich in 20 Jahren anders darstellen als heute. Insofern unterscheidet sich dieser Band grundsätzlich von den vorangegangenen. Besonders die letzten beiden Kapitel, die das 21. Jahrhundert behandeln, sind als politischer Essay zu lesen.
Als Chronist und politischer Analytiker lässt Winkler die vergangenen 25 Jahre noch einmal an uns vorüberziehen. Es ist beeindruckend, in welch dichter Beschreibung die weltweiten politischen Ereignisse und Prozesse präsentiert werden. Im Mittelpunkt stehen die Vereinigte Staaten, die Staaten der EU und Russland. Aber auch Afrika, Asien oder der Nahe und Mittlere Osten werden in den Blick genommen. Die dortigen Entwicklungen werden allerdings vor allem im Hinblick auf ihre Relevanz für den Westen präsentiert - eine westlich zentrierte Globalgeschichte. Das ist aber die auch normativ zu verstehende Grundentscheidung des Autors, die in sich stimmig ist.
Gleiches gilt für die Konzentration auf politikgeschichtliche Fragen, die schon bei den vorangegangenen Bänden bisweilen als Vernachlässigung gesellschafts- und kulturgeschichtlicher Phänomene kritisiert wurde. Die Fokussierung auf politische und ökonomische Entwicklungen ist im vorliegenden Band besonders ausgeprägt, was vielleicht auch durch die zeitliche Nähe zur Gegenwart und durch das Fehlen solider historischer Arbeiten zu gesellschaftlichen und kulturellen Themen begünstigt wird. Diese Beschränkung ist legitim, angesichts der Dimension der Betrachtung vielleicht sogar notwendig. Winkler gelingt es, auf hohem analytischen Niveau eine kenntnisreiche und fesselnde globale Politikgeschichte vorzulegen. Dass es sich dabei auch um ein ausgesprochenes Lesevergnügen handelt, soll nicht unerwähnt bleiben.
Winklers ideengeschichtliche Klammer für seine "Geschichte des Westens" ist das "normative Projekt der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 in Gestalt der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie". Bei aller Uneinigkeit und Differenzen halten diese gemeinsamen Werte den Westen zusammen und machen - heute mehr als zu manch anderen Zeiten - seine "globale Anziehungskraft" aus. Nach der Zeitenwende 1989/90, dem Zusammenbruch des Ostblocks sah es so aus - und so hofften viele Zeitgenossen -, dass sich mittelfristig "ein trikontinentaler Friedensraum" auf Grundlage der Demokratie entwickeln werde.
Winkler zeigt auf, wie weit sich die reale Welt mittlerweile von dieser Vision entfernt hat. Aus einer bipolaren Welt während der Zeit des Kalten Krieges, der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West hat sich langfristig keine unipolare Konstellation entwickelt, sondern eine multipolare, in der sich die politischen Koordinaten ständig verändern. Besonders deutlich wird dies an der sich wandelnden Rolle der Vereinigte Staaten in Weltpolitik und Weltökonomie. Die Vereinigten Staaten seien zwar auch heute noch immer die mächtigste Nation der Welt, aber von der "weltumspannenden Hegemonie", die sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 für sich beanspruchen konnten, sei sie inzwischen weit entfernt. Dazu haben sowohl die nachlassende Wirtschaftsleistung, Schuldenkrise und der Kampf gegen den Terror nach dem 11. September, die Kriege im Irak und in Afghanistan beigetragen als auch das Erstarken der Wirtschaften von ehemaligen Schwellenländern wie China, das sich anschickt, die Vereinigten Staaten ökonomisch zu überholen.
Und Europa? Winkler legt dar, dass Europas Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zwar einerseits durch Spannungen und Asymmetrien gekennzeichnet ist, man denke nur an die NSA-Affäre. Andererseits versuche man, in den aktuellen Krisen weiter an einem Strang zu ziehen. Europa sei es bisher nicht gelungen, ein innerwestliches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu schaffen. Dies liege nicht zuletzt an den Konstruktionsfehlern der Währungsunion, die in der aktuellen Krise besonders virulent sind und eine stärkere politische Union in weite Ferne rücken lassen. Dennoch sei es bei der Bekämpfung des globalen Terrors und in der Ukraine-Krise gelungen, geschlossen zu agieren.
Die Entwicklung Deutschlands und seiner Rolle in der Weltpolitik sieht Winkler positiv: Aus dem "kranken Mann Europas" sei das "mächtigste Land Europas" geworden, wie es der "Economist" plakativ zusammenfasste. Durch eine nachhaltige Wirtschaftspolitik, deren Grundlagen in der Regierungszeit von Gerhard Schröder unter anderem durch die "Agenda 2010" gelegt worden seien, sei Deutschland zur "Konjunkturlokomotive" in Europa geworden. Positiv bewertet er auch die diplomatischen Anstrengungen Deutschlands im Krisenjahr 2014.
Die westlichen Demokratien dürften nicht aufhören, mit eigenen "Abweichungen von den eigenen Werten in Geschichte und Gegenwart schonungslos ins Gericht zu gehen", so Winkler, denn nur dann können sie gegenüber nichtwestlichen Gesellschaften glaubwürdig für "ihre größte Errungenschaft", den universellen Charakter der unveräußerlichen Menschenrechte, eintreten: Nur wenn diese Rechte weltweit verwirklicht seien, werden die Ideen von 1776 und 1789 ein vollendetes Projekt sein. Nach vier Bänden über die Zeit von der Antike bis heute ist Winklers Fazit ambivalent: "Die Wühlarbeit des normativen Projekts des Westens, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie ist noch lange nicht zu Ende." Das muss jedoch nicht die Beschreibung eines Defizits sein, sondern kann als vorsichtig optimistischer Ausblick gelesen werden.
DANIELA MÜNKEL
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart. C. H. Beck Verlag, München 2015. 576 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinrich August Winklers fesselnde globale Politikgeschichte der allerjüngsten Zeit
"Das Ende aller Sicherheit": Der Krieg ist abermals nach Europa zurückgekehrt. Wie, wann und ob die Ukraine-Krise gelöst werden kann, ist trotz Verhandlungsmarathon und Minsker Abkommen noch nicht absehbar. Der islamische Terror ist mitten in Europa angekommen - der Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" markiert einen weiteren, schrecklichen Höhepunkt. Seuchen und Naturkatastrophen bedrohen auch Europa. Der NSA-Skandal schürt Misstrauen zwischen den Bündnispartnern jenseits und diesseits des Atlantiks. Die EU ist erschüttert durch Wirtschaftskrise und die Auseinandersetzungen zwischen "reicheren" und "ärmeren" Ländern - sie ist von einer politischen Union genauso weit entfernt wie vor über 20 Jahren. Die weltpolitischen Konstellationen und Koalitionen sind längst nicht mehr verlässlich und berechenbar. Eine ziemlich düstere Bilanz im 15. Jahr des 21. Jahrhunderts: Ausgang offen.
Mit "Das Ende aller Sicherheit" ist das letzte Kapitel in Heinrich August Winklers neuestem Buch überschrieben. Dieser vierte Band schließt seine "Geschichte des Westens" ab: "Die Zeit der Gegenwart" beginnt für ihn 1991 und endet ganz aktuell im Jahr 2014. Der Zeitraum, der hier beschrieben wird, ist Zeitgeschichte, die noch dampft, die noch nicht mit dem üblichen Abstand und den nötigen Quellen analysiert werden kann. Entwicklungen sind noch im Gang, deren Ausgang heute noch nicht abgesehen werden kann. Manches wird sich in 20 Jahren anders darstellen als heute. Insofern unterscheidet sich dieser Band grundsätzlich von den vorangegangenen. Besonders die letzten beiden Kapitel, die das 21. Jahrhundert behandeln, sind als politischer Essay zu lesen.
Als Chronist und politischer Analytiker lässt Winkler die vergangenen 25 Jahre noch einmal an uns vorüberziehen. Es ist beeindruckend, in welch dichter Beschreibung die weltweiten politischen Ereignisse und Prozesse präsentiert werden. Im Mittelpunkt stehen die Vereinigte Staaten, die Staaten der EU und Russland. Aber auch Afrika, Asien oder der Nahe und Mittlere Osten werden in den Blick genommen. Die dortigen Entwicklungen werden allerdings vor allem im Hinblick auf ihre Relevanz für den Westen präsentiert - eine westlich zentrierte Globalgeschichte. Das ist aber die auch normativ zu verstehende Grundentscheidung des Autors, die in sich stimmig ist.
Gleiches gilt für die Konzentration auf politikgeschichtliche Fragen, die schon bei den vorangegangenen Bänden bisweilen als Vernachlässigung gesellschafts- und kulturgeschichtlicher Phänomene kritisiert wurde. Die Fokussierung auf politische und ökonomische Entwicklungen ist im vorliegenden Band besonders ausgeprägt, was vielleicht auch durch die zeitliche Nähe zur Gegenwart und durch das Fehlen solider historischer Arbeiten zu gesellschaftlichen und kulturellen Themen begünstigt wird. Diese Beschränkung ist legitim, angesichts der Dimension der Betrachtung vielleicht sogar notwendig. Winkler gelingt es, auf hohem analytischen Niveau eine kenntnisreiche und fesselnde globale Politikgeschichte vorzulegen. Dass es sich dabei auch um ein ausgesprochenes Lesevergnügen handelt, soll nicht unerwähnt bleiben.
Winklers ideengeschichtliche Klammer für seine "Geschichte des Westens" ist das "normative Projekt der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 in Gestalt der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie". Bei aller Uneinigkeit und Differenzen halten diese gemeinsamen Werte den Westen zusammen und machen - heute mehr als zu manch anderen Zeiten - seine "globale Anziehungskraft" aus. Nach der Zeitenwende 1989/90, dem Zusammenbruch des Ostblocks sah es so aus - und so hofften viele Zeitgenossen -, dass sich mittelfristig "ein trikontinentaler Friedensraum" auf Grundlage der Demokratie entwickeln werde.
Winkler zeigt auf, wie weit sich die reale Welt mittlerweile von dieser Vision entfernt hat. Aus einer bipolaren Welt während der Zeit des Kalten Krieges, der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West hat sich langfristig keine unipolare Konstellation entwickelt, sondern eine multipolare, in der sich die politischen Koordinaten ständig verändern. Besonders deutlich wird dies an der sich wandelnden Rolle der Vereinigte Staaten in Weltpolitik und Weltökonomie. Die Vereinigten Staaten seien zwar auch heute noch immer die mächtigste Nation der Welt, aber von der "weltumspannenden Hegemonie", die sie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 für sich beanspruchen konnten, sei sie inzwischen weit entfernt. Dazu haben sowohl die nachlassende Wirtschaftsleistung, Schuldenkrise und der Kampf gegen den Terror nach dem 11. September, die Kriege im Irak und in Afghanistan beigetragen als auch das Erstarken der Wirtschaften von ehemaligen Schwellenländern wie China, das sich anschickt, die Vereinigten Staaten ökonomisch zu überholen.
Und Europa? Winkler legt dar, dass Europas Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zwar einerseits durch Spannungen und Asymmetrien gekennzeichnet ist, man denke nur an die NSA-Affäre. Andererseits versuche man, in den aktuellen Krisen weiter an einem Strang zu ziehen. Europa sei es bisher nicht gelungen, ein innerwestliches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu schaffen. Dies liege nicht zuletzt an den Konstruktionsfehlern der Währungsunion, die in der aktuellen Krise besonders virulent sind und eine stärkere politische Union in weite Ferne rücken lassen. Dennoch sei es bei der Bekämpfung des globalen Terrors und in der Ukraine-Krise gelungen, geschlossen zu agieren.
Die Entwicklung Deutschlands und seiner Rolle in der Weltpolitik sieht Winkler positiv: Aus dem "kranken Mann Europas" sei das "mächtigste Land Europas" geworden, wie es der "Economist" plakativ zusammenfasste. Durch eine nachhaltige Wirtschaftspolitik, deren Grundlagen in der Regierungszeit von Gerhard Schröder unter anderem durch die "Agenda 2010" gelegt worden seien, sei Deutschland zur "Konjunkturlokomotive" in Europa geworden. Positiv bewertet er auch die diplomatischen Anstrengungen Deutschlands im Krisenjahr 2014.
Die westlichen Demokratien dürften nicht aufhören, mit eigenen "Abweichungen von den eigenen Werten in Geschichte und Gegenwart schonungslos ins Gericht zu gehen", so Winkler, denn nur dann können sie gegenüber nichtwestlichen Gesellschaften glaubwürdig für "ihre größte Errungenschaft", den universellen Charakter der unveräußerlichen Menschenrechte, eintreten: Nur wenn diese Rechte weltweit verwirklicht seien, werden die Ideen von 1776 und 1789 ein vollendetes Projekt sein. Nach vier Bänden über die Zeit von der Antike bis heute ist Winklers Fazit ambivalent: "Die Wühlarbeit des normativen Projekts des Westens, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie ist noch lange nicht zu Ende." Das muss jedoch nicht die Beschreibung eines Defizits sein, sondern kann als vorsichtig optimistischer Ausblick gelesen werden.
DANIELA MÜNKEL
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart. C. H. Beck Verlag, München 2015. 576 S., 29,95 [Euro].
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