Mit keinem anderen Land in Europa ist die deutsche Geschichte so stark verflochten wie mit Frankreich. Der in Nizza lehrende deutsche Historiker Matthias Waechter erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Sicht unseres engsten Nachbarn - ein Unterfangen, das in deutscher Sprache seit Jahrzehnten niemand mehr unternommen hat.
Ausgehend von der dritten französischen Republik, die sich als Avantgarde in einem Europa der Monarchien verstand, einem Land, das demographisch stagnierte und kolonial expandierte, schildert das Buch Frankreichs 20. Jahrhundert: den Ersten Weltkrieg mit dem anschließend "verlorenen" Frieden und der turbulenten Zwischenkriegszeit; den "seltsamen Krieg" von 1939/40 gegen NS-Deutschland, gefolgt von der Besatzung des Landes sowie Kollaboration und Widerstand unter dem Vichy-Regime; das Drama der Dekolonisierung mit Kriegen in Vietnam und Algerien und dem Schlüsseljahr 1958, aus dem die bis heute gültige politische Verfassung Frankreichs hervorging, die selbst die Erschütterungen des Mai 1968 überstand; die Machtübernahme der Sozialisten unter Mitterrand 1981, der die Zeitenwende von 1989/90 mitgestaltete, und der Weg zur verunsicherten Nation der Gegenwart.
Ausgehend von der dritten französischen Republik, die sich als Avantgarde in einem Europa der Monarchien verstand, einem Land, das demographisch stagnierte und kolonial expandierte, schildert das Buch Frankreichs 20. Jahrhundert: den Ersten Weltkrieg mit dem anschließend "verlorenen" Frieden und der turbulenten Zwischenkriegszeit; den "seltsamen Krieg" von 1939/40 gegen NS-Deutschland, gefolgt von der Besatzung des Landes sowie Kollaboration und Widerstand unter dem Vichy-Regime; das Drama der Dekolonisierung mit Kriegen in Vietnam und Algerien und dem Schlüsseljahr 1958, aus dem die bis heute gültige politische Verfassung Frankreichs hervorging, die selbst die Erschütterungen des Mai 1968 überstand; die Machtübernahme der Sozialisten unter Mitterrand 1981, der die Zeitenwende von 1989/90 mitgestaltete, und der Weg zur verunsicherten Nation der Gegenwart.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2019Die lädierte
Republik
Matthias Waechter erzählt die spannungsreiche
„Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert“
VON CLEMENS KLÜNEMANN
Französische Geschichtsschreibung ist für Frankreich und für die Franzosen sicherlich viel mehr als in Deutschland ein identitätsstiftender Faktor. Sie entfacht große intellektuelle Debatten über Frankreichs Ausnahmestellung in der Welt und über die besondere Rolle eines Landes, das französische Historiker und Intellektuelle gerne als Heimat der Menschenrechte charakterisieren. Nach deren Proklamierung in den ersten Tagen der Revolution von 1789 war die Idee geboren, die zivilisierende Sendung Frankreichs zu preisen und französische Geschichte als einen roman national zu schreiben – wie es sich der Historiker Jules Michelet vornahm.
Als dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ernest Renan Frankreich als die Nation schlechthin charakterisierte und das „tägliche Plebiszit“ als Prinzip dieser idealtypischen Nation bezeichnete, waren damit gleichzeitig die Eckpunkte dessen abgesteckt, was heute als Erinnerungspolitik bezeichnet wird. Seitdem ist Geschichtsschreibung in Frankreich quasi ein täglicher Historikerstreit, wird doch bei jeder Veröffentlichung mit „la France“ im Titel nichts Geringeres als die Identität des Landes verhandelt. Das musste zuletzt Patrick Boucheron erfahren, als er eine „Histoire Mondiale de la France“ veröffentlichte und sich Vorwürfe sowohl linker wie rechter Historiker und Intellektueller anhören musste: Während letztere Ruhm und Größe vermissten, warfen ihm die ersteren vor, die von ihm gewählten Daten und Ereignisse relativierten Frankreichs zivilisatorische Sendung.
Eine nüchterne, faktenreiche und gleichzeitig spannend erzählte Geschichte Frankreichs im „langen 20. Jahrhundert“, die, statt zu polarisieren, die Vielfalt der Denkströmungen und -schulen dieses Landes zeigt und die den Finger in die Wunde innerer Widersprüche seiner Politik legt, ist wohl nur möglich, wenn der Blick von außen auf dieses Land gerichtet wird, dessen Geschichtsschreibung lange – viel zu lange – ein Instrument von Erinnerungspolitik war; und gleichzeitig bedarf es enger Vertrautheit mit französischer Selbst- und Fremdwahrnehmung. Beides – die Außenperspektive und die intime Kenntnis – zeichnen den Autor der vorliegenden Studie aus, der seit fast zwei Jahrzehnten als deutscher Historiker in Frankreich lebt und – dies sei vorweggenommen – mit seinem Buch deutschen Lesern einen profunden und erhellenden Blick auf das Nachbarland ermöglicht. Der Titel „Republik der Widersprüche“, der über dem ersten der fünf Teile des Buches steht, in denen Matthias Waechter das französische 20. Jahrhundert erzählt, ist gleichsam das Programm seiner Analyse; die Darstellung der Ambivalenz innerhalb der französischen Selbstwahrnehmung prägt auch die folgenden Oberkapitel, die überschrieben sind mit „Gewonnener Krieg, Verlorener Frieden 1914 – 1940“ (Teil 2), „Vom Zusammenbruch zur Dekolonialisierung 1940 – 1962“ (Teil 3), „Vom Boom zur Krise 1962 – 1981“ (Teil 4) sowie „Die verunsicherte Nation 1981 – 2002“ (Teil 5).
Dabei ist die Ambivalenz keinesfalls ein willkürlich gewähltes Kriterium: Gleich zu Beginn macht Matthias Waechter auf ein, ja das Charakteristikum des französischen 20. Jahrhunderts aufmerksam, nämlich „das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Europas politische Avantgarde zu bilden, und der Wahrnehmung einer unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft“. Konkret wurde dieses Spannungsverhältnis darin, dass die Kolonialmacht Frankreich – dieses, wie Waechter es nennt, „republikanische Imperium“ – rücksichtslos wie alle Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts in (Nord-)Afrika herrschte, gleichzeitig sich aber selbst damit beruhigte, dass es die Afrikaner ja vor allem „zivilisiere“. Noch viel irritierender als dieser innere Widerspruch ist die Tatsache, dass die Kolonialpolitik mit dem Pseudo-Argument der „überlegenen Rasse“ der Franzosen gerechtfertigt wurde und dass diese Argumentation aus dem Mund derer kam, die bis heute als die Verkörperung der Dritten Republik verehrt werden, nämlich Jules Ferry und Léon Gambetta.
Akribisch zeichnet Waechter im zweiten Teil das Geflecht der Bündnisse und Verträge nach, welche die Gemengelage am Vorabend des Ersten Weltkriegs kennzeichneten; dabei minimiert er womöglich zu sehr die Rolle, welche die Elsass-Lothringen-Frage in Frankreich und für Staatspräsident Raymond Poincaré spielten. Indem deutlich wird, „dass über Frankreichs Position eher in St. Petersburg als in Paris entschieden wurde“, macht er indes unmissverständlich deutlich, wie eng die Spielräume der Politiker tatsächlich waren.
Etwas zu kurz kommt auch der Aspekt der „unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft“ in den frühen 1940er-Jahren, war es doch gerade dieses ausgeprägte französische Autostereotyp, das die Dritte Republik zu Fall gebracht hatte, noch bevor die deutschen Besatzer im Juni 1940 in Paris ankamen. Umso klarer wird durch Waechters Darstellung des Zusammenhangs von Kollaboration und Résistance, wie sehr sich dieser Antagonismus der 1940er-Jahre zur Mythenbildung eignete, welche bis ins 21. Jahrhundert die französische (Erinnerungs-)Politik prägt.
Zu Letzterer zählt beispielsweise die Tatsache, dass der Feiertag des 8. Mai an Frankreichs gemeinsam mit den Alliierten errungenen Sieg über Nazideutschland erinnert, nicht aber daran, dass an eben diesem 8. Mai 1945 Tausende Algerier von französischen Soldaten erschossen wurden, weil sie das forderten, was in Frankreich gefeiert wurde – nämlich die Befreiung von der Besatzung. Matthias Waechter zitiert den Schriftsteller Albert Camus mit der Feststellung, dass es „gesellschaftliche Situationen (gibt), wo der Irrtum möglich ist. Es gibt andere, wo er nichts anderes als ein Verbrechen ist“; Camus äußerte dies im Kontext der Kollaborationsprozesse des Sommers 1945, aber es ist in der Tat ein Kriterium, das Verhalten der Menschen auch in anderen historischen Kontexten zu beurteilen.
Dass mit dem Amtsantritt des ersten sozialistischen Präsidenten der Fünften Republik eine Phase der Verunsicherung begann, ist sicherlich aus dem Nachhinein zutreffend – angesichts eines Präsidenten François Mitterrand, der vor allem „sehr um seinen Platz in der Geschichte besorgt“ war. Die Verunsicherung rührte indes vor allem aus dem tiefen Graben her, der sich zwischen den von Mitterrand geschürten Hoffnungen und der ernüchternden Bilanz nach zwei Amtszeiten aufgetan hatte; dabei hatte Mitterrand die „heißen Eisen“ der französischen Politik – Laizismus, wirtschaftliche Reformen und das Verhältnis Frankreichs zu Europa – zunächst mutig angepackt.
Vielleicht fällt Waechters Resümee der Ära Mitterrand ein wenig zu positiv aus, bedenkt man, wie hartnäckig dieser sich einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – mit derjenigen Frankreichs wie mit seiner persönlichen – entzog. Und womöglich ist die gegen Ende dieses überaus interessanten und facettenreichen Buches getroffene Feststellung zu optimistisch, dass „Vichy heute längst kein Tabu mehr“ sei und dass „die französische Gesellschaft weit davon entfernt“ sei, „die Rolle der Résistance überzubewerten“. Dessen ungeachtet ist Matthias Waechter unbedingt zuzustimmen, dass die Hauptaufgabe heutiger französischer Politik darin besteht, die Gesellschaft zu vereinen – seine „Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert“ zeigt auf souveräne und anschauliche Weise, warum dieses Land, das in seinem ersten Verfassungsartikel die Einheit beschwört, so tief gespalten ist.
Clemens Klünemann ist Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und lehrt über die Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert.
Am 8. Mai feiert Paris den Sieg
über Nazideutschland, ein
anderes Ereignis bleibt unerwähnt
Matthias Waechter:
Geschichte Frankreichs
im 20. Jahrhundert.
Verlag C. H. Beck,
München 2019.
608 Seiten, 34 Euro.
E-Book: 28,99 Euro.
Gewalt auf den Straßen von Paris ist kein neues Phänomen. Im Dezember 2018 erreichte sie einen Höhepunkt, als Gelbwesten-Protestler den Arc de Triomphe attackierten und eine Figur der Marianne kaputt schlugen.
Foto: Bruno ARBESU / REA/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Republik
Matthias Waechter erzählt die spannungsreiche
„Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert“
VON CLEMENS KLÜNEMANN
Französische Geschichtsschreibung ist für Frankreich und für die Franzosen sicherlich viel mehr als in Deutschland ein identitätsstiftender Faktor. Sie entfacht große intellektuelle Debatten über Frankreichs Ausnahmestellung in der Welt und über die besondere Rolle eines Landes, das französische Historiker und Intellektuelle gerne als Heimat der Menschenrechte charakterisieren. Nach deren Proklamierung in den ersten Tagen der Revolution von 1789 war die Idee geboren, die zivilisierende Sendung Frankreichs zu preisen und französische Geschichte als einen roman national zu schreiben – wie es sich der Historiker Jules Michelet vornahm.
Als dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ernest Renan Frankreich als die Nation schlechthin charakterisierte und das „tägliche Plebiszit“ als Prinzip dieser idealtypischen Nation bezeichnete, waren damit gleichzeitig die Eckpunkte dessen abgesteckt, was heute als Erinnerungspolitik bezeichnet wird. Seitdem ist Geschichtsschreibung in Frankreich quasi ein täglicher Historikerstreit, wird doch bei jeder Veröffentlichung mit „la France“ im Titel nichts Geringeres als die Identität des Landes verhandelt. Das musste zuletzt Patrick Boucheron erfahren, als er eine „Histoire Mondiale de la France“ veröffentlichte und sich Vorwürfe sowohl linker wie rechter Historiker und Intellektueller anhören musste: Während letztere Ruhm und Größe vermissten, warfen ihm die ersteren vor, die von ihm gewählten Daten und Ereignisse relativierten Frankreichs zivilisatorische Sendung.
Eine nüchterne, faktenreiche und gleichzeitig spannend erzählte Geschichte Frankreichs im „langen 20. Jahrhundert“, die, statt zu polarisieren, die Vielfalt der Denkströmungen und -schulen dieses Landes zeigt und die den Finger in die Wunde innerer Widersprüche seiner Politik legt, ist wohl nur möglich, wenn der Blick von außen auf dieses Land gerichtet wird, dessen Geschichtsschreibung lange – viel zu lange – ein Instrument von Erinnerungspolitik war; und gleichzeitig bedarf es enger Vertrautheit mit französischer Selbst- und Fremdwahrnehmung. Beides – die Außenperspektive und die intime Kenntnis – zeichnen den Autor der vorliegenden Studie aus, der seit fast zwei Jahrzehnten als deutscher Historiker in Frankreich lebt und – dies sei vorweggenommen – mit seinem Buch deutschen Lesern einen profunden und erhellenden Blick auf das Nachbarland ermöglicht. Der Titel „Republik der Widersprüche“, der über dem ersten der fünf Teile des Buches steht, in denen Matthias Waechter das französische 20. Jahrhundert erzählt, ist gleichsam das Programm seiner Analyse; die Darstellung der Ambivalenz innerhalb der französischen Selbstwahrnehmung prägt auch die folgenden Oberkapitel, die überschrieben sind mit „Gewonnener Krieg, Verlorener Frieden 1914 – 1940“ (Teil 2), „Vom Zusammenbruch zur Dekolonialisierung 1940 – 1962“ (Teil 3), „Vom Boom zur Krise 1962 – 1981“ (Teil 4) sowie „Die verunsicherte Nation 1981 – 2002“ (Teil 5).
Dabei ist die Ambivalenz keinesfalls ein willkürlich gewähltes Kriterium: Gleich zu Beginn macht Matthias Waechter auf ein, ja das Charakteristikum des französischen 20. Jahrhunderts aufmerksam, nämlich „das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Europas politische Avantgarde zu bilden, und der Wahrnehmung einer unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft“. Konkret wurde dieses Spannungsverhältnis darin, dass die Kolonialmacht Frankreich – dieses, wie Waechter es nennt, „republikanische Imperium“ – rücksichtslos wie alle Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts in (Nord-)Afrika herrschte, gleichzeitig sich aber selbst damit beruhigte, dass es die Afrikaner ja vor allem „zivilisiere“. Noch viel irritierender als dieser innere Widerspruch ist die Tatsache, dass die Kolonialpolitik mit dem Pseudo-Argument der „überlegenen Rasse“ der Franzosen gerechtfertigt wurde und dass diese Argumentation aus dem Mund derer kam, die bis heute als die Verkörperung der Dritten Republik verehrt werden, nämlich Jules Ferry und Léon Gambetta.
Akribisch zeichnet Waechter im zweiten Teil das Geflecht der Bündnisse und Verträge nach, welche die Gemengelage am Vorabend des Ersten Weltkriegs kennzeichneten; dabei minimiert er womöglich zu sehr die Rolle, welche die Elsass-Lothringen-Frage in Frankreich und für Staatspräsident Raymond Poincaré spielten. Indem deutlich wird, „dass über Frankreichs Position eher in St. Petersburg als in Paris entschieden wurde“, macht er indes unmissverständlich deutlich, wie eng die Spielräume der Politiker tatsächlich waren.
Etwas zu kurz kommt auch der Aspekt der „unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft“ in den frühen 1940er-Jahren, war es doch gerade dieses ausgeprägte französische Autostereotyp, das die Dritte Republik zu Fall gebracht hatte, noch bevor die deutschen Besatzer im Juni 1940 in Paris ankamen. Umso klarer wird durch Waechters Darstellung des Zusammenhangs von Kollaboration und Résistance, wie sehr sich dieser Antagonismus der 1940er-Jahre zur Mythenbildung eignete, welche bis ins 21. Jahrhundert die französische (Erinnerungs-)Politik prägt.
Zu Letzterer zählt beispielsweise die Tatsache, dass der Feiertag des 8. Mai an Frankreichs gemeinsam mit den Alliierten errungenen Sieg über Nazideutschland erinnert, nicht aber daran, dass an eben diesem 8. Mai 1945 Tausende Algerier von französischen Soldaten erschossen wurden, weil sie das forderten, was in Frankreich gefeiert wurde – nämlich die Befreiung von der Besatzung. Matthias Waechter zitiert den Schriftsteller Albert Camus mit der Feststellung, dass es „gesellschaftliche Situationen (gibt), wo der Irrtum möglich ist. Es gibt andere, wo er nichts anderes als ein Verbrechen ist“; Camus äußerte dies im Kontext der Kollaborationsprozesse des Sommers 1945, aber es ist in der Tat ein Kriterium, das Verhalten der Menschen auch in anderen historischen Kontexten zu beurteilen.
Dass mit dem Amtsantritt des ersten sozialistischen Präsidenten der Fünften Republik eine Phase der Verunsicherung begann, ist sicherlich aus dem Nachhinein zutreffend – angesichts eines Präsidenten François Mitterrand, der vor allem „sehr um seinen Platz in der Geschichte besorgt“ war. Die Verunsicherung rührte indes vor allem aus dem tiefen Graben her, der sich zwischen den von Mitterrand geschürten Hoffnungen und der ernüchternden Bilanz nach zwei Amtszeiten aufgetan hatte; dabei hatte Mitterrand die „heißen Eisen“ der französischen Politik – Laizismus, wirtschaftliche Reformen und das Verhältnis Frankreichs zu Europa – zunächst mutig angepackt.
Vielleicht fällt Waechters Resümee der Ära Mitterrand ein wenig zu positiv aus, bedenkt man, wie hartnäckig dieser sich einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – mit derjenigen Frankreichs wie mit seiner persönlichen – entzog. Und womöglich ist die gegen Ende dieses überaus interessanten und facettenreichen Buches getroffene Feststellung zu optimistisch, dass „Vichy heute längst kein Tabu mehr“ sei und dass „die französische Gesellschaft weit davon entfernt“ sei, „die Rolle der Résistance überzubewerten“. Dessen ungeachtet ist Matthias Waechter unbedingt zuzustimmen, dass die Hauptaufgabe heutiger französischer Politik darin besteht, die Gesellschaft zu vereinen – seine „Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert“ zeigt auf souveräne und anschauliche Weise, warum dieses Land, das in seinem ersten Verfassungsartikel die Einheit beschwört, so tief gespalten ist.
Clemens Klünemann ist Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und lehrt über die Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert.
Am 8. Mai feiert Paris den Sieg
über Nazideutschland, ein
anderes Ereignis bleibt unerwähnt
Matthias Waechter:
Geschichte Frankreichs
im 20. Jahrhundert.
Verlag C. H. Beck,
München 2019.
608 Seiten, 34 Euro.
E-Book: 28,99 Euro.
Gewalt auf den Straßen von Paris ist kein neues Phänomen. Im Dezember 2018 erreichte sie einen Höhepunkt, als Gelbwesten-Protestler den Arc de Triomphe attackierten und eine Figur der Marianne kaputt schlugen.
Foto: Bruno ARBESU / REA/laif
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2019In der republikanischen Monarchie haben Revolten Tradition
Zum Verständnis einer nicht gerade leicht regierbaren Nation: Matthias Waechters Geschichte Frankreichs im zwanzigsten Jahrhundert darf als Standardwerk gelten
Die Wahl Emmanuel Macrons im Mai 2017 und die Wahlen zur Nationalversammlung, die dem neuen Präsidenten eine satte Mehrheit bescherten, haben das Parteiensystem der Fünften französischen Republik von Grund auf verändert. Die etablierten Regierungsparteien links wie bürgerlich rechts sind auf einstellige Prozentzahlen abgestürzt. Die einzige "Altpartei", die mithalten konnte - nach Prozentpunkten wegen des Mehrheitswahlrechts, aber nicht nach Mandaten -, ist Marine Le Pens Rassemblement National (ehemals Front National). Die Europawahlen haben dieses Ergebnis mehr oder weniger bestätigt.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Institutionen und das Verfassungsgefüge der Republik von dieser umstürzenden Entwicklung kaum tangiert wurden. Im Gegenteil: Am Ende seiner "Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert" konstatiert Matthias Waechter in einem "Ausblick" auf die jüngste Geschichte eine Rückkehr zum altgaullistischem Stil. Wie Charles de Gaulle führe Macron den "Dialog eines charismatischen Einzelnen mit dem Volk über Parteigrenzen hinweg, so wie es der Gründer der Fünften Republik getan hatte". Ebenso treffend stellt Waechter fest, dass Macrons Regierungsapparat im Grunde als technokratische Expertenherrschaft konzipiert ist. Die Schwächen dieses Regierungsstils haben die "Gelbwesten" offengelegt.
Waechters Ausblick auf das 21. Jahrhundert handelt das Ende der Ära Chirac und die Amtszeit der Präsidenten Sarkozy und Hollande vergleichsweise kurz ab. Dagegen beginnt er seine Geschichte klugerweise mit einem ausführlichen Rückblick auf das letzte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, in dem Strömungen und Traditionen entstanden, die Frankreich bis in die Mitte des nächsten Jahrhunderts prägten und die bis heute bedeutsam sind.
Zwischen die Teilen, welche die Ereignisgeschichte verfolgen, stellt Waechter Querschnittsanalysen ("Frankreich um 1900" beziehungsweise 1926, 1942, 1965 und 1990), die sich mit ökonomischen, sozialen, kulturellen und demographischen Faktoren befassen. Das ist, trotz der manchmal sperrigen Materie, erzählerisch gelungen, wirkt nie von den Ereignissen abgesetzt, sondern klärt die Zeitumstände. So ist es bemerkenswert, dass staatliche Interventionen in die Wirtschaft, die bis heute umstandslos der Traditionslinie des Absolutismus zugeordnet werden, im Grunde erst in den Kriegszeiten des zwanzigsten Jahrhunderts wiederauflebten, vor allem im Ersten Weltkrieg, in dem der "als liberal zu bezeichnende französische Staat in einen Interventionsstaat umgestaltet wurde". Einen bewusst sozialpolitisch motivierten Umbau gab es letztlich erst unter der Volksfront-Regierung von Léon Blum Mitte der dreißiger Jahre, womit, wie Waechter schreibt, "die Grundwerte des französischen Republikanismus neu definiert" wurden, mit Folgen bis in die Gegenwart.
Naturgemäß änderte sich auch das politische System in Kriegszeiten. Während in der Dritten Republik Regierungen letztlich exekutive Ausschüsse des Parlaments waren und häufig wechselten, schaltete Georges Clemenceau während des Ersten Weltkriegs das Parlament weitgehend aus und dominierte auch die militärische Führung - eine aus den Umständen geborene Halbdiktatur. Nach dem Krieg begann dann wieder die für die Dritte und danach die Vierte Republik typische Abfolge instabiler Regierungen.
Der Zusammenbruch dieses Systems kam mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Mit der Vichy-Periode geht Waechter, gestützt auf eine reichhaltige historische Forschung, hart ins Gericht. Das gilt nicht nur für die Regierungen unter dem greisen Marschall Pétain und seinem Ministerpräsidenten Laval, sondern auch für das Verhalten eines großen Teils der französischen Bevölkerung während der deutschen Besetzung. Die Behörden des "Etat français" waren willige Helfer der nationalsozialistischen Judenpolitik, Kollaboration war eher die Regel als die Ausnahme.
Ausführlich würdigt Waechter die Rolle de Gaulles als zentraler Gestalt der französischen Politik im vorigen Jahrhundert: zunächst als Chef der "France libre", nach dem Krieg als Ministerpräsident einer Übergangsregierung, der nach zwei Monaten abdankte, dann als erbitterter Gegner der Vierten Republik, die der General wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Dritten strikt ablehnte. Schließlich ließ sich de Gaulle die Verfassung der Fünften Republik gewissermaßen auf den Leib schneidern. Seinen Wiederaufstieg verdankte er dem konfliktreichen Prozess der Entkolonialisierung, den Waechter ausführlich schildert - von Schwarzafrika über Indochina bis zum Algerienkrieg.
De Gaulle bewältigte die Entkolonialisierung allerdings anders, als es viele seiner Anhänger erwartet hatten: Er beendete den Algerienkrieg schließlich mit den Verträgen von Evian, die in einem Referendum 1962 mit überwältigender Mehrheit gebilligt wurden. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Regierung öffentlich eingestand, dass in Algerien nicht "Unruhen" oder "Ereignisse" stattgefunden hatten, sondern ein grausamer Krieg geführt worden war.
Waechter beurteilt de Gaulles Außenpolitik im Ergebnis kritisch. Seine Politik, Europa unter der Führung Frankreichs als dritte Kraft im Ost-West-Konflikt zu etablieren, sei gescheitert. Das übersieht ein wenig, dass der General nie Zweifel daran ließ, auf welcher Seite er im Ernstfall stehen würde, nämlich auf der westlichen. Allerdings versuchte de Gaulle, Frankreich, so weit es ging, aus seiner Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu befreien und in die Lage zu versetzen, eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Natürlich wusste er, dass seine nationale nukleare Abschreckung kein wirkliches Gegengewicht zum sowjetischen Atomwaffenarsenal sein konnte. Aber angesichts des für Europa riskanten Wandels der amerikanischen Strategie von der Vorneverteidigung über die massive (nukleare) Vergeltung zur "flexible response", die auch Adenauer beunruhigte, sah de Gaulle die "force de frappe" als "Finger am amerikanischen Abzug", als ersten Schritt einer danach automatisch einsetzenden nuklearen Eskalation, an deren Verhinderung auch Moskau interessiert sein musste.
Innen- und wirtschaftspolitisch profitierten de Gaulles Regierungen von den "trente glorieuses", drei Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums und des steigenden Wohlstandes nach dem Krieg, die erst mit den beiden Ölkrisen der siebziger Jahre zu Ende gingen. Dieser Einbruch trug zusammen mit Querelen innerhalb der Rechtsparteien dazu bei, dass Giscard d'Estaing, der 1974 auf den im Amt verstorbenen Nachfolger de Gaulles, Pompidou, gefolgt war, nicht wiedergewählt wurde, sondern dem sozialistischen Kandidaten Mitterrand unterlag. Nach einigen Monaten des "Sozialismus in den Farben Frankreichs" musste dieser seine wirtschaftspolitischen Experimente - unter anderem die Verstaatlichung der Stahlindustrie und die Nationalisierung von 39 Banken, Reduzierungen der Arbeitszeit ohne Lohnverlust, Rente mit 60, Erhöhung des Mindestlohnes - abbrechen und sich dem Kurs der europäischen Nachbarn wieder annähern. Ein Erbe, das die französischen Staatsfinanzen immer noch belastet, war die Aufblähung des öffentlichen Sektors, der damals von 11 auf fast 25 Prozent der Beschäftigten anstieg.
Waechter konstatiert, dass die Ära Mitterrand (1981 bis 1995) eine Versöhnung der Linken mit der lange bekämpften Fünften Republik war. Das Amtsverständnis des sozialistischen Präsidenten unterstrich die Etikettierung der Verfassung als "republikanische Monarchie" (Maurice Duverger) sogar noch. In der umstrittenen Frage, wie Mitterrand zur deutschen Wiedervereinigung stand, schlägt sich Waechter auf die Seite derjenigen, die meinen, er habe sie nicht verzögern oder gar verhindern wollen, sondern nur versucht, die Rahmenbedingungen festzuzurren, unter denen sie schließlich stattfand (Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze, Vertiefung der europäischen Integration).
Es gibt nur wenige kritische Anmerkungen zu diesem Standardwerk zu machen: Waechter geht kaum auf den Charakter der Parteien ein, die Frankreichs politisches Leben lange bestimmt haben. Sie sind nicht aus gesellschaftlichen Bewegungen (mit Ausnahme von Macrons "La République en Marche"), sondern fast alle aus parlamentarischen Gruppierungen hervorgegangen. Im Unterschied zu den deutschen "Organisationsparteien" sind sie "Strömungsparteien" geblieben: zusammengewürfelt aus Formationen und Clubs, die mehr von persönlichen Querelen bestimmt sind als von einer verbindenden Ideologie geprägt. Die Rechte hat nach de Gaulles Rücktritt immer wieder Bruderkämpfe ausgefochten, auf der Linken war es nicht anders: Der sozialistische Präsident Hollande (2012 bis 2017) wurde während seiner Amtszeit von der eigenen Partei demontiert.
Erwähnenswert wäre auch gewesen, dass die Legitimität von Politik in Frankreich verschiedene Wurzeln hat. Da gibt es die ("orleanistische") Legitimation durch die repräsentative Demokratie, aber auch eine ("bonapartistische") Tendenz zur direkten Demokratie qua Referendum, die als verfassungsmäßig etablierter Ausdruck der Volkssouveränität gelten kann. Und schließlich stammt aus revolutionärer Tradition eine "Legitimität der Straße" (Samuel Hayat), die immer wieder zu Eruptionen führen kann, wie zuletzt bei der Revolte der "Gelbwesten". Sie stößt bei vielen Franzosen auf Sympathie und macht das Regieren schwierig. Aber das sind eher politologische Themen, deren Fehlen die Meriten dieses Buches keineswegs schmälert.
Waechter ist es aufgrund seiner stupenden Kenntnis der Sekundärliteratur gelungen, ein wissenschaftliches Standardwerk vorzulegen (ein Wermutstropfen ist das Fehlen eines Sachregisters), das wegen seiner klaren, eleganten Sprache auch für interessierte Laien gut lesbar ist. Es gehört in die Hände all jener, die sich aus zeitgeschichtlichem Interesse oder wegen ihres wirtschaftlichen oder politischen Engagements mit unserem Nachbarland beschäftigen.
GÜNTHER NONNENMACHER
Matthias Waechter:
"Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert".
Verlag C.H.Beck, München 2019. 608 S.,geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Verständnis einer nicht gerade leicht regierbaren Nation: Matthias Waechters Geschichte Frankreichs im zwanzigsten Jahrhundert darf als Standardwerk gelten
Die Wahl Emmanuel Macrons im Mai 2017 und die Wahlen zur Nationalversammlung, die dem neuen Präsidenten eine satte Mehrheit bescherten, haben das Parteiensystem der Fünften französischen Republik von Grund auf verändert. Die etablierten Regierungsparteien links wie bürgerlich rechts sind auf einstellige Prozentzahlen abgestürzt. Die einzige "Altpartei", die mithalten konnte - nach Prozentpunkten wegen des Mehrheitswahlrechts, aber nicht nach Mandaten -, ist Marine Le Pens Rassemblement National (ehemals Front National). Die Europawahlen haben dieses Ergebnis mehr oder weniger bestätigt.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Institutionen und das Verfassungsgefüge der Republik von dieser umstürzenden Entwicklung kaum tangiert wurden. Im Gegenteil: Am Ende seiner "Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert" konstatiert Matthias Waechter in einem "Ausblick" auf die jüngste Geschichte eine Rückkehr zum altgaullistischem Stil. Wie Charles de Gaulle führe Macron den "Dialog eines charismatischen Einzelnen mit dem Volk über Parteigrenzen hinweg, so wie es der Gründer der Fünften Republik getan hatte". Ebenso treffend stellt Waechter fest, dass Macrons Regierungsapparat im Grunde als technokratische Expertenherrschaft konzipiert ist. Die Schwächen dieses Regierungsstils haben die "Gelbwesten" offengelegt.
Waechters Ausblick auf das 21. Jahrhundert handelt das Ende der Ära Chirac und die Amtszeit der Präsidenten Sarkozy und Hollande vergleichsweise kurz ab. Dagegen beginnt er seine Geschichte klugerweise mit einem ausführlichen Rückblick auf das letzte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, in dem Strömungen und Traditionen entstanden, die Frankreich bis in die Mitte des nächsten Jahrhunderts prägten und die bis heute bedeutsam sind.
Zwischen die Teilen, welche die Ereignisgeschichte verfolgen, stellt Waechter Querschnittsanalysen ("Frankreich um 1900" beziehungsweise 1926, 1942, 1965 und 1990), die sich mit ökonomischen, sozialen, kulturellen und demographischen Faktoren befassen. Das ist, trotz der manchmal sperrigen Materie, erzählerisch gelungen, wirkt nie von den Ereignissen abgesetzt, sondern klärt die Zeitumstände. So ist es bemerkenswert, dass staatliche Interventionen in die Wirtschaft, die bis heute umstandslos der Traditionslinie des Absolutismus zugeordnet werden, im Grunde erst in den Kriegszeiten des zwanzigsten Jahrhunderts wiederauflebten, vor allem im Ersten Weltkrieg, in dem der "als liberal zu bezeichnende französische Staat in einen Interventionsstaat umgestaltet wurde". Einen bewusst sozialpolitisch motivierten Umbau gab es letztlich erst unter der Volksfront-Regierung von Léon Blum Mitte der dreißiger Jahre, womit, wie Waechter schreibt, "die Grundwerte des französischen Republikanismus neu definiert" wurden, mit Folgen bis in die Gegenwart.
Naturgemäß änderte sich auch das politische System in Kriegszeiten. Während in der Dritten Republik Regierungen letztlich exekutive Ausschüsse des Parlaments waren und häufig wechselten, schaltete Georges Clemenceau während des Ersten Weltkriegs das Parlament weitgehend aus und dominierte auch die militärische Führung - eine aus den Umständen geborene Halbdiktatur. Nach dem Krieg begann dann wieder die für die Dritte und danach die Vierte Republik typische Abfolge instabiler Regierungen.
Der Zusammenbruch dieses Systems kam mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Mit der Vichy-Periode geht Waechter, gestützt auf eine reichhaltige historische Forschung, hart ins Gericht. Das gilt nicht nur für die Regierungen unter dem greisen Marschall Pétain und seinem Ministerpräsidenten Laval, sondern auch für das Verhalten eines großen Teils der französischen Bevölkerung während der deutschen Besetzung. Die Behörden des "Etat français" waren willige Helfer der nationalsozialistischen Judenpolitik, Kollaboration war eher die Regel als die Ausnahme.
Ausführlich würdigt Waechter die Rolle de Gaulles als zentraler Gestalt der französischen Politik im vorigen Jahrhundert: zunächst als Chef der "France libre", nach dem Krieg als Ministerpräsident einer Übergangsregierung, der nach zwei Monaten abdankte, dann als erbitterter Gegner der Vierten Republik, die der General wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Dritten strikt ablehnte. Schließlich ließ sich de Gaulle die Verfassung der Fünften Republik gewissermaßen auf den Leib schneidern. Seinen Wiederaufstieg verdankte er dem konfliktreichen Prozess der Entkolonialisierung, den Waechter ausführlich schildert - von Schwarzafrika über Indochina bis zum Algerienkrieg.
De Gaulle bewältigte die Entkolonialisierung allerdings anders, als es viele seiner Anhänger erwartet hatten: Er beendete den Algerienkrieg schließlich mit den Verträgen von Evian, die in einem Referendum 1962 mit überwältigender Mehrheit gebilligt wurden. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Regierung öffentlich eingestand, dass in Algerien nicht "Unruhen" oder "Ereignisse" stattgefunden hatten, sondern ein grausamer Krieg geführt worden war.
Waechter beurteilt de Gaulles Außenpolitik im Ergebnis kritisch. Seine Politik, Europa unter der Führung Frankreichs als dritte Kraft im Ost-West-Konflikt zu etablieren, sei gescheitert. Das übersieht ein wenig, dass der General nie Zweifel daran ließ, auf welcher Seite er im Ernstfall stehen würde, nämlich auf der westlichen. Allerdings versuchte de Gaulle, Frankreich, so weit es ging, aus seiner Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu befreien und in die Lage zu versetzen, eigenständige Entscheidungen treffen zu können. Natürlich wusste er, dass seine nationale nukleare Abschreckung kein wirkliches Gegengewicht zum sowjetischen Atomwaffenarsenal sein konnte. Aber angesichts des für Europa riskanten Wandels der amerikanischen Strategie von der Vorneverteidigung über die massive (nukleare) Vergeltung zur "flexible response", die auch Adenauer beunruhigte, sah de Gaulle die "force de frappe" als "Finger am amerikanischen Abzug", als ersten Schritt einer danach automatisch einsetzenden nuklearen Eskalation, an deren Verhinderung auch Moskau interessiert sein musste.
Innen- und wirtschaftspolitisch profitierten de Gaulles Regierungen von den "trente glorieuses", drei Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums und des steigenden Wohlstandes nach dem Krieg, die erst mit den beiden Ölkrisen der siebziger Jahre zu Ende gingen. Dieser Einbruch trug zusammen mit Querelen innerhalb der Rechtsparteien dazu bei, dass Giscard d'Estaing, der 1974 auf den im Amt verstorbenen Nachfolger de Gaulles, Pompidou, gefolgt war, nicht wiedergewählt wurde, sondern dem sozialistischen Kandidaten Mitterrand unterlag. Nach einigen Monaten des "Sozialismus in den Farben Frankreichs" musste dieser seine wirtschaftspolitischen Experimente - unter anderem die Verstaatlichung der Stahlindustrie und die Nationalisierung von 39 Banken, Reduzierungen der Arbeitszeit ohne Lohnverlust, Rente mit 60, Erhöhung des Mindestlohnes - abbrechen und sich dem Kurs der europäischen Nachbarn wieder annähern. Ein Erbe, das die französischen Staatsfinanzen immer noch belastet, war die Aufblähung des öffentlichen Sektors, der damals von 11 auf fast 25 Prozent der Beschäftigten anstieg.
Waechter konstatiert, dass die Ära Mitterrand (1981 bis 1995) eine Versöhnung der Linken mit der lange bekämpften Fünften Republik war. Das Amtsverständnis des sozialistischen Präsidenten unterstrich die Etikettierung der Verfassung als "republikanische Monarchie" (Maurice Duverger) sogar noch. In der umstrittenen Frage, wie Mitterrand zur deutschen Wiedervereinigung stand, schlägt sich Waechter auf die Seite derjenigen, die meinen, er habe sie nicht verzögern oder gar verhindern wollen, sondern nur versucht, die Rahmenbedingungen festzuzurren, unter denen sie schließlich stattfand (Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze, Vertiefung der europäischen Integration).
Es gibt nur wenige kritische Anmerkungen zu diesem Standardwerk zu machen: Waechter geht kaum auf den Charakter der Parteien ein, die Frankreichs politisches Leben lange bestimmt haben. Sie sind nicht aus gesellschaftlichen Bewegungen (mit Ausnahme von Macrons "La République en Marche"), sondern fast alle aus parlamentarischen Gruppierungen hervorgegangen. Im Unterschied zu den deutschen "Organisationsparteien" sind sie "Strömungsparteien" geblieben: zusammengewürfelt aus Formationen und Clubs, die mehr von persönlichen Querelen bestimmt sind als von einer verbindenden Ideologie geprägt. Die Rechte hat nach de Gaulles Rücktritt immer wieder Bruderkämpfe ausgefochten, auf der Linken war es nicht anders: Der sozialistische Präsident Hollande (2012 bis 2017) wurde während seiner Amtszeit von der eigenen Partei demontiert.
Erwähnenswert wäre auch gewesen, dass die Legitimität von Politik in Frankreich verschiedene Wurzeln hat. Da gibt es die ("orleanistische") Legitimation durch die repräsentative Demokratie, aber auch eine ("bonapartistische") Tendenz zur direkten Demokratie qua Referendum, die als verfassungsmäßig etablierter Ausdruck der Volkssouveränität gelten kann. Und schließlich stammt aus revolutionärer Tradition eine "Legitimität der Straße" (Samuel Hayat), die immer wieder zu Eruptionen führen kann, wie zuletzt bei der Revolte der "Gelbwesten". Sie stößt bei vielen Franzosen auf Sympathie und macht das Regieren schwierig. Aber das sind eher politologische Themen, deren Fehlen die Meriten dieses Buches keineswegs schmälert.
Waechter ist es aufgrund seiner stupenden Kenntnis der Sekundärliteratur gelungen, ein wissenschaftliches Standardwerk vorzulegen (ein Wermutstropfen ist das Fehlen eines Sachregisters), das wegen seiner klaren, eleganten Sprache auch für interessierte Laien gut lesbar ist. Es gehört in die Hände all jener, die sich aus zeitgeschichtlichem Interesse oder wegen ihres wirtschaftlichen oder politischen Engagements mit unserem Nachbarland beschäftigen.
GÜNTHER NONNENMACHER
Matthias Waechter:
"Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert".
Verlag C.H.Beck, München 2019. 608 S.,geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nicht nur höchst lesenswert, sondern auch außerordentlich gut lesbar."
Historische Zeitschrift, Wilfried Loth
"Waechters Buch ist eine vorzüglich geschriebene und gut lesbare Darstellung der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren sehr unterschiedliche Akteure."
Militärgeschichtliche Zeitschrift, Michael Ph. Vollert
"Wer sich aber mit Matthias Waechter in Frankreichs 20. Jahrhundert begibt, gewinnt nicht nur einen Sinn für Komplexität und Kontingenz, sondern auch für eine Vergangenheit, die in mancher Hinsicht noch Gegenwart ist."
Neue Zürcher Zeitung, Victor Mauer
"(...) wegen dieser analytischen Qualitäten bietet Waechters sehr anregend geschriebenes Buch über die gut gegliederte Geschichtsdarstellung hinaus viel Stoff, über die Gegenwart Frankreichs nachzudenken."
Badische Zeitung, Wulf Rüskamp
"Eine fulminante Geschichte Frankreichs."
Neue Zürcher Zeitung
"Ein wissenschaftliches Standardwerk (...), das wegen seiner klaren, eleganten Sprache auch für interessierte Laien gut lesbar ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Günther Nonnenmacher
"Wer in Deutschland die ganze Widersprüchlichkeit Frankreichs verstehen möchte, ist mit Matthias Waechters 'Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert" hervorragend bedient."
Tagesspiegel, Albrecht Meier
"(Matthias Waechter) überrascht mit Nuancen, die in Deutschland kaum bekannt sind."
SWR2, Konstantin Sakkas
"Mit seinem Buch (ermöglicht Waechter) deutschen Lesern einen profunden und erhellenden Blick auf das Nachbarland."
Süddeutsche Zeitung, Clemens Klünemann
Historische Zeitschrift, Wilfried Loth
"Waechters Buch ist eine vorzüglich geschriebene und gut lesbare Darstellung der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren sehr unterschiedliche Akteure."
Militärgeschichtliche Zeitschrift, Michael Ph. Vollert
"Wer sich aber mit Matthias Waechter in Frankreichs 20. Jahrhundert begibt, gewinnt nicht nur einen Sinn für Komplexität und Kontingenz, sondern auch für eine Vergangenheit, die in mancher Hinsicht noch Gegenwart ist."
Neue Zürcher Zeitung, Victor Mauer
"(...) wegen dieser analytischen Qualitäten bietet Waechters sehr anregend geschriebenes Buch über die gut gegliederte Geschichtsdarstellung hinaus viel Stoff, über die Gegenwart Frankreichs nachzudenken."
Badische Zeitung, Wulf Rüskamp
"Eine fulminante Geschichte Frankreichs."
Neue Zürcher Zeitung
"Ein wissenschaftliches Standardwerk (...), das wegen seiner klaren, eleganten Sprache auch für interessierte Laien gut lesbar ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Günther Nonnenmacher
"Wer in Deutschland die ganze Widersprüchlichkeit Frankreichs verstehen möchte, ist mit Matthias Waechters 'Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert" hervorragend bedient."
Tagesspiegel, Albrecht Meier
"(Matthias Waechter) überrascht mit Nuancen, die in Deutschland kaum bekannt sind."
SWR2, Konstantin Sakkas
"Mit seinem Buch (ermöglicht Waechter) deutschen Lesern einen profunden und erhellenden Blick auf das Nachbarland."
Süddeutsche Zeitung, Clemens Klünemann