Unmittelbar nach Abschluß der "Theorie des Films" (1959) begann Siegfried Kracauer mit den Vorarbeiten zu einer Theorie der Geschichte und der Geschichtsschreibung. "Blitzartig" seien ihm die vielen Parallelen zwischen der Historiographie und den Medien Film bzw. Photographie, zwischen historischer Realität und Kamera-Realität klargeworden. Beiden gehe es um die Enthüllung der Realität, auch der unscheinbaren, bisher übersehenen. In seinem Buch über die Geschichte spiegeln sich Kracauers intensive Auseinandersetzungen mit den theoretischen Vorstellungen großer Historiker wie Leopold von Ranke, Jakob Burckhardt oder Marc Bloch) und die zahlreichen Gespräche mit zeitgenössischen Historikern.
History - The Last Things before the Last war bei aller Gelehrsamkeit zugleich ein persönliches Bekenntnis und Vermächtnis, das Kracauer bei seinem Tod 1966 unvollendet hinterließ. In der 1969 in New York erschienenen amerikanischen Ausgabe ersetzen ausführliche Entwürfe Kracauers die zwei fehlenden Kapitel. Gegenüber der deutschen Erstausgabe aus dem Jahr 1971 werden in der vorliegenden Ausgabe anhand des umfangreichen Nachlasses diese Einfügungen im einzelnen nachgewiesen. Die Übersetzung von Karsten Witte wurde neu bearbeitet. Annotationen, zusätzliche Dokumente im Anhang und ein ausführliches Nachwort ermöglichen nicht nur einen Einblick in den Arbeitsprozeß Siegfried Kracauers, sondern beleuchten darüber hinaus auch seinen Standpunkt innerhalb der damaligen Theoriediskussion.
History - The Last Things before the Last war bei aller Gelehrsamkeit zugleich ein persönliches Bekenntnis und Vermächtnis, das Kracauer bei seinem Tod 1966 unvollendet hinterließ. In der 1969 in New York erschienenen amerikanischen Ausgabe ersetzen ausführliche Entwürfe Kracauers die zwei fehlenden Kapitel. Gegenüber der deutschen Erstausgabe aus dem Jahr 1971 werden in der vorliegenden Ausgabe anhand des umfangreichen Nachlasses diese Einfügungen im einzelnen nachgewiesen. Die Übersetzung von Karsten Witte wurde neu bearbeitet. Annotationen, zusätzliche Dokumente im Anhang und ein ausführliches Nachwort ermöglichen nicht nur einen Einblick in den Arbeitsprozeß Siegfried Kracauers, sondern beleuchten darüber hinaus auch seinen Standpunkt innerhalb der damaligen Theoriediskussion.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2010Der Historiker als Fremder und Fotograf
„Durch die Dinge zu denken, anstatt über sie hinweg”: Siegfried Kracauers Geschichtsbuch aus dem Nachlass in kommentierter Neuausgabe
Als der Journalist, Soziologe, Film- und Kulturtheoretiker Siegfried Kracauer im November 1966 in New York unerwartet verstarb, blieb ein thematisch wie gattungsmäßig verzweigtes, scheinbar inkommensurables Lebenswerk sowie die Baustelle eines unvollendeten Buchs zurück, dem zwei von acht vorgesehenen Kapiteln noch fehlten. Kracauers schriftliche Hinterlassenschaft war allerdings schon zu Lebzeiten nach archivarischen Prinzipien geordnet, so dass jedes beschriebene Blatt und jeder Fetzen Papier nachvollziehbaren Platz und sinnvolle Zuordnung finden konnten. Den Freunden konnte die Sorge um das Schicksal des als Vermächtnis geplanten Buchs „History. The Last Things Before The Last” genommen werden, denn auch für die noch fehlenden Kapitel existierten detaillierte Entwürfe und Vorfassungen sowie eine – wie ein Reiseführer – von Kracauer „Guide to History” genannte Synopse. Von der „Reise des Historikers” sollte das Buch auch handeln.
Also bildeten Sheldon Meyer, der Cheflektor der Oxford University Press, Lili Kracauer, die Witwe und ehemalige Sekretärin des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, sowie ein eigens bestallter wissenschaftlicher Mitarbeiter eine Art Editorial Board, dem ein prominenter Gelehrter und editionserfahrener Findekünstler präsidierte: Paul Oskar Kristeller (1905-1999), Freund und Gesprächspartner Kracauers in dessen Altersjahren und wie dieser nach 1933 aus Deutschland geflohen, war einer der bedeutendsten Humanismusforscher des 20. Jahrhunderts und ein begnadeter Philologe obendrein: Sein Hauptwerk „Iter Italicum” ist ein sechsbändiges kommentiertes Verzeichnis aller über die Apenninen-Halbinsel verstreuten Manuskripte aus der Feder von Renaissancehumanisten. Beinahe unheimliche Bekanntschaft mit Kristellers Findekunst schloss auch der Verfasser dieser Rezension, als er dem greisen Gelehrten ein Exemplar seiner Edition des Briefwechsels zwischen Kracauer und dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky (Akademie Verlag, Berlin 1996) zueignete. Postwendend hielt er eine stattliche Errata-Liste in den Händen: Nicht nur war Kristeller kein einziger Flüchtigkeitsfehler entgangen, mit unglaublicher Sicherheit hatte er intuitiv auch einige Transkriptionsfehler in den abgedruckten Briefen aufgedeckt und korrigiert, freilich ohne die Originale überhaupt zu kennen. Aber er besaß intime Kenntnisse über die Briefeschreiber und ihre Denkwege.
Schon deshalb ist es eine überflüssige Frage, ob und inwiefern Kristeller, der Kracauers Buch bei seinem Erscheinen im Jahr 1969 ein großartiges Porträt des Autors voranstellte, es tatsächlich selbst „fertigstellte” – wie schon Karsten Witte (1944-1995), der allzu früh verstorbene Herausgeber von Kracauers im Suhrkamp Verlag seit 1971 erscheinenden „Schriften” im Nachwort zu seiner Übersetzung schrieb –, oder ob er die praktischen Fertigsteller lediglich beriet. Die broschierte Neuausgabe des Buchs, die 1995 im Princetoner Verlag von Markus Wiener erschien, trägt auf dem Titelblatt und im Impressum die Angabe „Completed after the Death of the Author by P. O. Kristeller”. Ingrid Belke hingegen, die Herausgeberin der in der nunmehr neunbändigen Werkausgabe erschienenen deutschsprachigen Neuausgabe, möchte Kristellers Anteil an dem postum erschienenen Werk allein auf das Vorwort reduziert wissen. Sie hat es jetzt unter „ferner liefen” in den Anhang verbannt, während ein zweites Vorwort, das Kristeller eigens für die amerikanische Neuausgabe von 1995 verfasst hatte, ganz unberücksichtigt bleibt. Auch ein bewegter Dankesbrief Lili Kracauers an Kristeller – abgedruckt im Anhang zum Briefwechsel mit Panofsky – bleibt unzitiert, soll aber angeblich beweisen, dass Kristellers Ansprüche, wie Belke schreibt, „nicht den Tatsachen” entsprechen.
Man möchte über diese Unfairness gegenüber einem großen Gelehrten, der sich seiner postumen Zurechtweisung nicht mehr erwehren kann, lediglich den Kopf schütteln, führte die darunter mehr verdeckte als offengelegte Streitfrage nicht ins neuralgische Zentrum dieses Werks, seiner Wirkungsgeschichte sowie der intellektuellen Biographie des Autors, die in just diesem Buch ihre autobiographische Spiegelung findet. Nur deshalb musste die etwas verwirrende Editionsgeschichte hier so ausführlich zur Sprache kommen. In seinem zweiten Vorwort rechnete Kristeller nämlich mit der maßgeblichen Rezeption Kracauers im Gefolge der Frankfurter Schule ab und behauptete, dass zwischen Kracauers frühen „soziologischen” Schriften und seinem „humanistischen” Spätwerk ein Bruch klaffe. Seltsamerweise vertrat und vertritt aber die von Kristeller attackierte Gegenseite, wenn auch mit umgekehrten Präferenzen, genau dieselbe Position und steht dem vermeintlichen Spätwerk noch immer – so an vielen Stellen auch der Kommentar der Herausgeberin – etwas konsterniert, wenn nicht ungläubig und verständnislos gegenüber. Nur Kracauer selbst war da aber ganz anderer Meinung und band sich in diesem Buch – auch im gerundeten Rückblick auf sein schriftstellerisches Lebenswerk – an einen konsequenten „Mittelweg”.
Und doch muss man Verlag, Herausgeberin und ihrem Team für die jetzt erschienene Neuausgabe dankbar sein, ist doch ein Buch, das in Deutschland bislang eher eingesargt als wirklich präsent war, jetzt wieder zugänglich geworden, und zwar in einer an vielen Stellen revidierten, eindeutig präziseren Übersetzung, als es die deutsche Erstausgabe von 1971 war. Und jetzt, beinahe vierzig Jahre nach seiner ersten, weitgehend verfehlten Rezeption, wird deutlich, wie weit dieses Werk seiner Zeit voraus war: Vor allem in Deutschland, das damals – der Frankfurter Schule und ihrer Erfolgsgeschichte, der seminarmarxistischen Politökonomie, der „Vernarrtheit in die Sozialgeschichte” (Kracauer) und auch der bald danach einsetzenden Benjamin-Evangelistik zum Trotz – noch erhebliche geistige Defizite einzuholen hatte.
Dies ist allein schon an der Bedeutung der von Kracauer verhandelten oder zitierten Autoren ablesbar: Denn wer, außer wenigen eingeweihten Spezialisten, kannte im Jahr 1971 die Namen von aus Deutschland stammenden jüdischen Exilanten wie Fritz Stern, Gisèle Freund, Erwin Panofsky, Edgar Wind, Alfred Schütz, Leo Strauss, Hans Jonas, Adolph Lowe, Paul Oskar Kristeller, Erich Auerbach oder Karl Löwith? Oder von international einflussreichen französischen Gelehrten und Intellektuellen wie Claude Lévi-Strauss, Marc Bloch, Pierre Vidal-Naquet, Henri Focillon, Roger Caillois, Henri Pirenne und Jean Piaget? Und wem in Deutschland waren damals die Ideen und Schriften von Isaiah Berlin, Johan Huizinga, Aby Warburg, Robert Merton, Hayden White oder George Kubler geläufig? Andererseits stand Kracauer selbst bereits vor 1966 auf vertrautem Fuße mit den innovativen Lehren einer ganzen Reihe kreativer deutscher Gelehrter und bewegte sich wie selbstverständlich durch die Publikationen von Hans Blumenberg, Hans-Georg Gadamer, Reinhart Koselleck, Hans-Robert Jauß und Alfred Schmidt.
Das imposante Namensregister steht jedoch nicht nur für Kracauers einsame Studien und Lektüren, sondern, sofern es sich um Lebende handelte, auch für den persönlichen, schriftlichen wie mündlichen Gedankenaustausch mit prominenten Vertretern der gelehrten und geistigen Welt seiner Zeit. Dies relativiert die Einschätzung, die Inka Mülder-Bach, die heutige Gesamtherausgeberin von Kracauers „Werken”, noch 1991 formulierte, derzufolge Kracauers Geschichtsbuch in „äußerster kultureller und gelehrter Isolation” verfasst worden sei.
Dieses Urteil entsprach dem Common Sense der um ihr einsames Idol versammelten Gemeinde und auch einem verbreiteten Klischee, das sich die Nachgeborenen von der Geschichte des Exils nach 1933 machen. Die Forschung musste dieses Urteil jedoch revidieren, denn die Dokumente in Kracauers Nachlass, der im Marbacher Literaturarchiv verwahrt wird, zeugen vom Gegenteil einer „äußersten kulturellen und gelehrten Isolation”. So warf beispielsweise die Rekonstruktion des Gedankenaustauschs mit dem Kunsthistoriker Panofsky und, davon ausgehend, dessen Erweiterung im Rahmen eines größeren transatlantischen Umfelds, darin Kracauer sich in der Nachkriegszeit als hauptamtlicher Gutachter und Berater einer amerikanischen Wissenschaftsstiftung bewegte, ein neues Licht auch auf das nachgelassene Geschichtsbuch.
Kracauer selbst wollte sein Buch, das in klarer und entspannter angelsächsischer Prosa verfasst ist, als „Meditationen” verstanden wissen. Damit rückte er es in eine bestimmte Tradition philosophischer Autobiographien, zugleich in ein „mittleres”, der Briefgattung ebenso wie dem Essay benachbartes Genus. Dem Leser, der auf die dialogische Anlage des Geschichtsbuchs achtet, erschließt es sich als das geistige Vermächtnis des Autors, das neben und in Durchdringung mit dessen intellektueller Autobiographie die Essenz und zuweilen sogar die Wortlaute seiner – im zweifachen Wortsinne – „Korrespondenzen” mit anderen Gelehrten enthält: mit namentlich Genannten wie mit Ungenannten, mit Lebenden und mit Toten, mit denen Kracauer – wie im Falle Walter Benjamins, an dessen „Thesen über den Begriff der Geschichte” er kritisch anknüpft – in postume Exil- und Geistergespräche trat.
Sie handeln vom prekären Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen in der Geschichtsschreibung, von – Kracauers Lieblingsthema – der Blamage der abstrakten Ideenwelt vor der konkreten Lebenswelt und kontingenten materialen Wirklichkeit, von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen; kategorisch wird allen teleologischen Geschichtsauffassungen widersprochen, Einspruch gegen die geschichtsphilosophische Fortschrittsidee und gegen die Vorstellung von historischen Gesetzmäßigkeiten erhoben; und nicht zuletzt handelt das Buch vom Historiker selbst, den sich Kracauer als einfühlsam teilnehmenden, aber detachierten Beobachter und Berichterstatter vorstellt: Und da entwickelt Kracauer wieder sein eigenes Selbstbild, das den Zeitungskorrespondenten der Frankfurter und Berliner Jahre ebenso umschließt wie den neuamerikanischen Handlungsreisenden in Sachen „humanities”, der die Geisteswissenschaften gegen die szientistischen Ansprüche der nach dem Modell der Naturwissenschaften zu Behavioral Sciences umfunktionierten Sozialwissenschaften verteidigt.
Nur wenige Interpreten – darunter der Historiker Carlo Ginzburg und in Andeutungen auch Peter Burke – haben den originellen Kern von Kracauers Argumentation gebührend gewürdigt: Es ist die Affinität von Photographie und Historiographie, und zwar nicht in den handwerklichen Techniken, sondern in der Haltung, der „habitué mentale”, man könnte auch sagen in der mit ihrem äußeren – hier bildlichen, dort schriftlichen – Ausdruck korrespondierenden inneren „Einstellung” des Photographen hier und des Historikers dort. Im doppelten Rekurs auf seinen zwar ungenannten philosophischen Lehrer Georg Simmel – der über die sozialwissenschaftliche Phänomenologie von Alfred Schütz und die Sozialanthropologie in Gefolge von Robert Park längst amerikanische Eingemeindung erfahren hatte – und auf den Ich-Erzähler von Marcel Prousts epischer Recherche entwirft Kracauer das Bild des Historikers als eines Fremden nach dem Modell des Exilanten. Oder mit Proust gesprochen, der, wenn man die von Kracauer geteilten Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts unterlegt, hier bereits Samuel Beckett antizipiert: „Von meiner Person war (. . .) nur der Zeuge, der Beobachter in Hut und Reisemantel, der Fremde da, der nicht zum Hause gehört, der Photograph der eine Aufnahme von Stätten machen soll, die man nicht wiedersehen wird.”
Und diese Summa auch seiner vielen Metiers und Steckenpferde in Tristram Shandys Manier zog Kracauer lange vor dem großen, erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhundert einsetzenden Geschichtsboom, zu seiner Zeit, als die „illegitime Kunst” (Bourdieu) der Photographie noch kein annähernd so hohes ästhetisches Ansehen genoss wie heute. Eigentlich ist alles wunderbar klar beschrieben und geschrieben in diesem Buch. Man muss sich nur darauf einlassen und zumindest bereit sein, Kracauers Gedanken – wie es die Herausgeberin tut, die ihrem Protagonisten beständig Schelte dafür erteilt, dass er sich dem Standpunkt der Bielefelder Sozialgeschichte verweigert – wenigstens misszuverstehen.
In jedem Fall aber ist die Schönheit dieser Gedanken zu würdigen: Der Rekurs auf Jacob Burckhardts „leichtes Aufhorchen” und die melancholische „Sehnsucht nach dem Untergegangen”; die an einen Gedanken Goethes erinnernde Vorstellung von „Ich-Auslöschung” als „Ich-Erweiterung” zu einem historisch erkennenden „Sehen”; die Konzeption „aktiver Passivität”, mit der sich der Historiker tief in sein Material und seine Quellen hineinversenkt, um – wie Erwin Panofsky es einmal ausdrückte – „zu beleben, was andernfalls tot bliebe”. Oder mit einem weiteren Credo Siegfried Kracauers gesagt, das auch jedem Editor zur Ehre gereichen würde: mehr „durch die Dinge zu denken, anstatt über sie hinweg”. Und wie schon für Tristram Shandy, so ist auch für Kracauers Historiker kein Ende seiner vorläufigen Erzählungen und kein Ziel jenseits der Vorhallen, Wandelgänge und Wartesäle der philosophischen Ideen in Sicht. VOLKER BREIDECKER
SIEGFRIED KRACAUER: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Herausgegeben von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Aus dem Englischen von Karsten Witte und Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 645 Seiten, 54 Euro.
Erst jetzt wird deutlich, wie weit Kracauers Werk seiner Zeit voraus war
Mit Walter Benjamin und anderen führte er postume Exil- und Geistergespräche
Das nebenstehende Foto zeigt Siegfried Kracauer 1964 in den Ruinen von Rom. Als er zwei Jahre später in New York verstarb, hinterließ der berühmte Feuilletonist und Theoretiker des Films und der Massenkultur, der vor der Emigration in Frankfurt und Berlin gewirkt hatte, ein unvollendetes Buch, das von der „Reise des Historikers” handeln sollte. In der Kracauer-Werkausgabe ist es jetzt mit Erläuterungen und in einer präziseren Übersetzung neu erschienen. Foto: DLA Marbach
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
„Durch die Dinge zu denken, anstatt über sie hinweg”: Siegfried Kracauers Geschichtsbuch aus dem Nachlass in kommentierter Neuausgabe
Als der Journalist, Soziologe, Film- und Kulturtheoretiker Siegfried Kracauer im November 1966 in New York unerwartet verstarb, blieb ein thematisch wie gattungsmäßig verzweigtes, scheinbar inkommensurables Lebenswerk sowie die Baustelle eines unvollendeten Buchs zurück, dem zwei von acht vorgesehenen Kapiteln noch fehlten. Kracauers schriftliche Hinterlassenschaft war allerdings schon zu Lebzeiten nach archivarischen Prinzipien geordnet, so dass jedes beschriebene Blatt und jeder Fetzen Papier nachvollziehbaren Platz und sinnvolle Zuordnung finden konnten. Den Freunden konnte die Sorge um das Schicksal des als Vermächtnis geplanten Buchs „History. The Last Things Before The Last” genommen werden, denn auch für die noch fehlenden Kapitel existierten detaillierte Entwürfe und Vorfassungen sowie eine – wie ein Reiseführer – von Kracauer „Guide to History” genannte Synopse. Von der „Reise des Historikers” sollte das Buch auch handeln.
Also bildeten Sheldon Meyer, der Cheflektor der Oxford University Press, Lili Kracauer, die Witwe und ehemalige Sekretärin des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, sowie ein eigens bestallter wissenschaftlicher Mitarbeiter eine Art Editorial Board, dem ein prominenter Gelehrter und editionserfahrener Findekünstler präsidierte: Paul Oskar Kristeller (1905-1999), Freund und Gesprächspartner Kracauers in dessen Altersjahren und wie dieser nach 1933 aus Deutschland geflohen, war einer der bedeutendsten Humanismusforscher des 20. Jahrhunderts und ein begnadeter Philologe obendrein: Sein Hauptwerk „Iter Italicum” ist ein sechsbändiges kommentiertes Verzeichnis aller über die Apenninen-Halbinsel verstreuten Manuskripte aus der Feder von Renaissancehumanisten. Beinahe unheimliche Bekanntschaft mit Kristellers Findekunst schloss auch der Verfasser dieser Rezension, als er dem greisen Gelehrten ein Exemplar seiner Edition des Briefwechsels zwischen Kracauer und dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky (Akademie Verlag, Berlin 1996) zueignete. Postwendend hielt er eine stattliche Errata-Liste in den Händen: Nicht nur war Kristeller kein einziger Flüchtigkeitsfehler entgangen, mit unglaublicher Sicherheit hatte er intuitiv auch einige Transkriptionsfehler in den abgedruckten Briefen aufgedeckt und korrigiert, freilich ohne die Originale überhaupt zu kennen. Aber er besaß intime Kenntnisse über die Briefeschreiber und ihre Denkwege.
Schon deshalb ist es eine überflüssige Frage, ob und inwiefern Kristeller, der Kracauers Buch bei seinem Erscheinen im Jahr 1969 ein großartiges Porträt des Autors voranstellte, es tatsächlich selbst „fertigstellte” – wie schon Karsten Witte (1944-1995), der allzu früh verstorbene Herausgeber von Kracauers im Suhrkamp Verlag seit 1971 erscheinenden „Schriften” im Nachwort zu seiner Übersetzung schrieb –, oder ob er die praktischen Fertigsteller lediglich beriet. Die broschierte Neuausgabe des Buchs, die 1995 im Princetoner Verlag von Markus Wiener erschien, trägt auf dem Titelblatt und im Impressum die Angabe „Completed after the Death of the Author by P. O. Kristeller”. Ingrid Belke hingegen, die Herausgeberin der in der nunmehr neunbändigen Werkausgabe erschienenen deutschsprachigen Neuausgabe, möchte Kristellers Anteil an dem postum erschienenen Werk allein auf das Vorwort reduziert wissen. Sie hat es jetzt unter „ferner liefen” in den Anhang verbannt, während ein zweites Vorwort, das Kristeller eigens für die amerikanische Neuausgabe von 1995 verfasst hatte, ganz unberücksichtigt bleibt. Auch ein bewegter Dankesbrief Lili Kracauers an Kristeller – abgedruckt im Anhang zum Briefwechsel mit Panofsky – bleibt unzitiert, soll aber angeblich beweisen, dass Kristellers Ansprüche, wie Belke schreibt, „nicht den Tatsachen” entsprechen.
Man möchte über diese Unfairness gegenüber einem großen Gelehrten, der sich seiner postumen Zurechtweisung nicht mehr erwehren kann, lediglich den Kopf schütteln, führte die darunter mehr verdeckte als offengelegte Streitfrage nicht ins neuralgische Zentrum dieses Werks, seiner Wirkungsgeschichte sowie der intellektuellen Biographie des Autors, die in just diesem Buch ihre autobiographische Spiegelung findet. Nur deshalb musste die etwas verwirrende Editionsgeschichte hier so ausführlich zur Sprache kommen. In seinem zweiten Vorwort rechnete Kristeller nämlich mit der maßgeblichen Rezeption Kracauers im Gefolge der Frankfurter Schule ab und behauptete, dass zwischen Kracauers frühen „soziologischen” Schriften und seinem „humanistischen” Spätwerk ein Bruch klaffe. Seltsamerweise vertrat und vertritt aber die von Kristeller attackierte Gegenseite, wenn auch mit umgekehrten Präferenzen, genau dieselbe Position und steht dem vermeintlichen Spätwerk noch immer – so an vielen Stellen auch der Kommentar der Herausgeberin – etwas konsterniert, wenn nicht ungläubig und verständnislos gegenüber. Nur Kracauer selbst war da aber ganz anderer Meinung und band sich in diesem Buch – auch im gerundeten Rückblick auf sein schriftstellerisches Lebenswerk – an einen konsequenten „Mittelweg”.
Und doch muss man Verlag, Herausgeberin und ihrem Team für die jetzt erschienene Neuausgabe dankbar sein, ist doch ein Buch, das in Deutschland bislang eher eingesargt als wirklich präsent war, jetzt wieder zugänglich geworden, und zwar in einer an vielen Stellen revidierten, eindeutig präziseren Übersetzung, als es die deutsche Erstausgabe von 1971 war. Und jetzt, beinahe vierzig Jahre nach seiner ersten, weitgehend verfehlten Rezeption, wird deutlich, wie weit dieses Werk seiner Zeit voraus war: Vor allem in Deutschland, das damals – der Frankfurter Schule und ihrer Erfolgsgeschichte, der seminarmarxistischen Politökonomie, der „Vernarrtheit in die Sozialgeschichte” (Kracauer) und auch der bald danach einsetzenden Benjamin-Evangelistik zum Trotz – noch erhebliche geistige Defizite einzuholen hatte.
Dies ist allein schon an der Bedeutung der von Kracauer verhandelten oder zitierten Autoren ablesbar: Denn wer, außer wenigen eingeweihten Spezialisten, kannte im Jahr 1971 die Namen von aus Deutschland stammenden jüdischen Exilanten wie Fritz Stern, Gisèle Freund, Erwin Panofsky, Edgar Wind, Alfred Schütz, Leo Strauss, Hans Jonas, Adolph Lowe, Paul Oskar Kristeller, Erich Auerbach oder Karl Löwith? Oder von international einflussreichen französischen Gelehrten und Intellektuellen wie Claude Lévi-Strauss, Marc Bloch, Pierre Vidal-Naquet, Henri Focillon, Roger Caillois, Henri Pirenne und Jean Piaget? Und wem in Deutschland waren damals die Ideen und Schriften von Isaiah Berlin, Johan Huizinga, Aby Warburg, Robert Merton, Hayden White oder George Kubler geläufig? Andererseits stand Kracauer selbst bereits vor 1966 auf vertrautem Fuße mit den innovativen Lehren einer ganzen Reihe kreativer deutscher Gelehrter und bewegte sich wie selbstverständlich durch die Publikationen von Hans Blumenberg, Hans-Georg Gadamer, Reinhart Koselleck, Hans-Robert Jauß und Alfred Schmidt.
Das imposante Namensregister steht jedoch nicht nur für Kracauers einsame Studien und Lektüren, sondern, sofern es sich um Lebende handelte, auch für den persönlichen, schriftlichen wie mündlichen Gedankenaustausch mit prominenten Vertretern der gelehrten und geistigen Welt seiner Zeit. Dies relativiert die Einschätzung, die Inka Mülder-Bach, die heutige Gesamtherausgeberin von Kracauers „Werken”, noch 1991 formulierte, derzufolge Kracauers Geschichtsbuch in „äußerster kultureller und gelehrter Isolation” verfasst worden sei.
Dieses Urteil entsprach dem Common Sense der um ihr einsames Idol versammelten Gemeinde und auch einem verbreiteten Klischee, das sich die Nachgeborenen von der Geschichte des Exils nach 1933 machen. Die Forschung musste dieses Urteil jedoch revidieren, denn die Dokumente in Kracauers Nachlass, der im Marbacher Literaturarchiv verwahrt wird, zeugen vom Gegenteil einer „äußersten kulturellen und gelehrten Isolation”. So warf beispielsweise die Rekonstruktion des Gedankenaustauschs mit dem Kunsthistoriker Panofsky und, davon ausgehend, dessen Erweiterung im Rahmen eines größeren transatlantischen Umfelds, darin Kracauer sich in der Nachkriegszeit als hauptamtlicher Gutachter und Berater einer amerikanischen Wissenschaftsstiftung bewegte, ein neues Licht auch auf das nachgelassene Geschichtsbuch.
Kracauer selbst wollte sein Buch, das in klarer und entspannter angelsächsischer Prosa verfasst ist, als „Meditationen” verstanden wissen. Damit rückte er es in eine bestimmte Tradition philosophischer Autobiographien, zugleich in ein „mittleres”, der Briefgattung ebenso wie dem Essay benachbartes Genus. Dem Leser, der auf die dialogische Anlage des Geschichtsbuchs achtet, erschließt es sich als das geistige Vermächtnis des Autors, das neben und in Durchdringung mit dessen intellektueller Autobiographie die Essenz und zuweilen sogar die Wortlaute seiner – im zweifachen Wortsinne – „Korrespondenzen” mit anderen Gelehrten enthält: mit namentlich Genannten wie mit Ungenannten, mit Lebenden und mit Toten, mit denen Kracauer – wie im Falle Walter Benjamins, an dessen „Thesen über den Begriff der Geschichte” er kritisch anknüpft – in postume Exil- und Geistergespräche trat.
Sie handeln vom prekären Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen in der Geschichtsschreibung, von – Kracauers Lieblingsthema – der Blamage der abstrakten Ideenwelt vor der konkreten Lebenswelt und kontingenten materialen Wirklichkeit, von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen; kategorisch wird allen teleologischen Geschichtsauffassungen widersprochen, Einspruch gegen die geschichtsphilosophische Fortschrittsidee und gegen die Vorstellung von historischen Gesetzmäßigkeiten erhoben; und nicht zuletzt handelt das Buch vom Historiker selbst, den sich Kracauer als einfühlsam teilnehmenden, aber detachierten Beobachter und Berichterstatter vorstellt: Und da entwickelt Kracauer wieder sein eigenes Selbstbild, das den Zeitungskorrespondenten der Frankfurter und Berliner Jahre ebenso umschließt wie den neuamerikanischen Handlungsreisenden in Sachen „humanities”, der die Geisteswissenschaften gegen die szientistischen Ansprüche der nach dem Modell der Naturwissenschaften zu Behavioral Sciences umfunktionierten Sozialwissenschaften verteidigt.
Nur wenige Interpreten – darunter der Historiker Carlo Ginzburg und in Andeutungen auch Peter Burke – haben den originellen Kern von Kracauers Argumentation gebührend gewürdigt: Es ist die Affinität von Photographie und Historiographie, und zwar nicht in den handwerklichen Techniken, sondern in der Haltung, der „habitué mentale”, man könnte auch sagen in der mit ihrem äußeren – hier bildlichen, dort schriftlichen – Ausdruck korrespondierenden inneren „Einstellung” des Photographen hier und des Historikers dort. Im doppelten Rekurs auf seinen zwar ungenannten philosophischen Lehrer Georg Simmel – der über die sozialwissenschaftliche Phänomenologie von Alfred Schütz und die Sozialanthropologie in Gefolge von Robert Park längst amerikanische Eingemeindung erfahren hatte – und auf den Ich-Erzähler von Marcel Prousts epischer Recherche entwirft Kracauer das Bild des Historikers als eines Fremden nach dem Modell des Exilanten. Oder mit Proust gesprochen, der, wenn man die von Kracauer geteilten Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts unterlegt, hier bereits Samuel Beckett antizipiert: „Von meiner Person war (. . .) nur der Zeuge, der Beobachter in Hut und Reisemantel, der Fremde da, der nicht zum Hause gehört, der Photograph der eine Aufnahme von Stätten machen soll, die man nicht wiedersehen wird.”
Und diese Summa auch seiner vielen Metiers und Steckenpferde in Tristram Shandys Manier zog Kracauer lange vor dem großen, erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhundert einsetzenden Geschichtsboom, zu seiner Zeit, als die „illegitime Kunst” (Bourdieu) der Photographie noch kein annähernd so hohes ästhetisches Ansehen genoss wie heute. Eigentlich ist alles wunderbar klar beschrieben und geschrieben in diesem Buch. Man muss sich nur darauf einlassen und zumindest bereit sein, Kracauers Gedanken – wie es die Herausgeberin tut, die ihrem Protagonisten beständig Schelte dafür erteilt, dass er sich dem Standpunkt der Bielefelder Sozialgeschichte verweigert – wenigstens misszuverstehen.
In jedem Fall aber ist die Schönheit dieser Gedanken zu würdigen: Der Rekurs auf Jacob Burckhardts „leichtes Aufhorchen” und die melancholische „Sehnsucht nach dem Untergegangen”; die an einen Gedanken Goethes erinnernde Vorstellung von „Ich-Auslöschung” als „Ich-Erweiterung” zu einem historisch erkennenden „Sehen”; die Konzeption „aktiver Passivität”, mit der sich der Historiker tief in sein Material und seine Quellen hineinversenkt, um – wie Erwin Panofsky es einmal ausdrückte – „zu beleben, was andernfalls tot bliebe”. Oder mit einem weiteren Credo Siegfried Kracauers gesagt, das auch jedem Editor zur Ehre gereichen würde: mehr „durch die Dinge zu denken, anstatt über sie hinweg”. Und wie schon für Tristram Shandy, so ist auch für Kracauers Historiker kein Ende seiner vorläufigen Erzählungen und kein Ziel jenseits der Vorhallen, Wandelgänge und Wartesäle der philosophischen Ideen in Sicht. VOLKER BREIDECKER
SIEGFRIED KRACAUER: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Herausgegeben von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Aus dem Englischen von Karsten Witte und Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 645 Seiten, 54 Euro.
Erst jetzt wird deutlich, wie weit Kracauers Werk seiner Zeit voraus war
Mit Walter Benjamin und anderen führte er postume Exil- und Geistergespräche
Das nebenstehende Foto zeigt Siegfried Kracauer 1964 in den Ruinen von Rom. Als er zwei Jahre später in New York verstarb, hinterließ der berühmte Feuilletonist und Theoretiker des Films und der Massenkultur, der vor der Emigration in Frankfurt und Berlin gewirkt hatte, ein unvollendetes Buch, das von der „Reise des Historikers” handeln sollte. In der Kracauer-Werkausgabe ist es jetzt mit Erläuterungen und in einer präziseren Übersetzung neu erschienen. Foto: DLA Marbach
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2010Nachdenken über das vergangene Leben
Ein Außenseiter von Anfang an, mit dem die akademische Welt ihre Schwierigkeiten hat: Siegfried Kracauers unvollendet gebliebenes Buch über die Geschichte in einer neuen kommentierten Ausgabe.
Ein Außenseiter macht sich bemerkbar", so lautete der Titel jener Rezension, mit der Walter Benjamin 1930 "Die Angestellten" präsentierte, das Buch seines Kollegen und guten Bekannten Siegfried Kracauer. Seither wird Kracauer im Umkreis der zur "Frankfurter Schule" geadelten "Kritischen Theorie" gesehen, zu Nutz und Schaden gleichermaßen. Nach Krieg und Emigration war es Adorno, der die Schriften des Emigranten Kracauer zurück nach Deutschland brachte, doch zugleich prägte er eine - von Benjamin begonnene - Lesart, die dem eigentümlichen Denken und Schreiben seines Jugendfreundes in Teilen sehr kritisch gegenüberstand, in anderen sie im Sinne eigener Intentionen interpretierte.
Gerecht wurde die Frankfurter Lesart dem ganzen Kracauer nie. Benjamin nannte Kracauer einen "Lumpensammler, frühe - im Morgengrauen des Revolutionstages", und es ist so bezeichnend wie eigentümlich, dass die erste große Monographie, die der französische Germanist Olivier Agard unter dem Titel "Kracauer, le chiffonnier mélancolique" jetzt vorlegt, die Benjaminsche Formel, wenn auch unter Verlust der zeittypischen Revolutionsromantik, umstandslos wiederaufnimmt. Agards ansonsten ausgezeichnete Studie stellt Kracauer damit im Sinne des modernen Mythos als den "melancholischen Lumpensammler" dar, als den vielleicht Benjamin sich selbst sah, der aber gewiss nicht Kracauers Selbstverständnis entsprach.
Das seltsamste Schicksal war Kracauers letztem Buch beschieden, der unvollendeten, englisch geschriebenen Untersuchung "Geschichte - Vor den letzten Dingen", die 1969 im Original und 1971 auf Deutsch erschien, postum und nahezu ohne Wirkung. Wohl kaum kann man sich auch einen schlechteren Zeitpunkt vorstellen. In den späten sechziger und siebziger Jahren feierte das geschichtsphilosophische Denken seine größten post-hegelianischen Triumphe, wofür die intensiven Debatten über Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte" nur ein Beispiel sind. Das Vertrauen in die analytischen und politischen Kräfte der Geschichtsphilosophie war gerade in jenem Milieu noch fast ungebrochen, in dem nun der "frankfurterisch" gelesene Kracauer mit seiner ersten, ungeheuer verdienstvollen Werkausgabe im Suhrkamp Verlag erschien - in unmittelbarer Nachbarschaft von Adorno, Benjamin, Bloch und ihren Freunden.
Aber welches Buch hätte konträrer zu diesen Nachbarn stehen können als Kracauers skeptische Befragung von Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie? In einer Zeit, da die politisch verstandene Geschichtlichkeit als utopische Zukunftskraft zu gelten hatte, konnte die Frage, ob und wie Geschichte überhaupt beschreibbar, erzählbar, verstehbar sei, nur als antiquierte Scholastik gelten. So ist bis heute nicht klar geworden, was Kracauers Buch eigentlich ist: eine überaus geistreiche und intellektuell vollkommen unabhängige Reflexion zum geschichtlichen Bewusstsein.
Kracauer wendet sich sowohl gegen die Naivität des Historiographen, der glaubt, umstandslos erzählen zu können, "wie es denn gewesen sei", wie auch gegen die nicht kleinere des Philosophen, der die "Gesetze" des Weltlaufs herauspräparieren will. Dagegen versucht Kracauer, Geschichte - und das heißt: vergangene Welt, vergangene Zeit, vergangenes Leben, vergangenes Geschehen - als einen jener Bereiche zu fassen, "die noch eines Namens ermangeln und folglich übersehen und falsch beurteilt werden". Geschichte ist ein "Zwischenbereich", denn schon was ihr Gegenstand eigentlich sei, all das Vergangene, entzieht sich vollkommen einer wissenschaftlich präzisen Definition. Es passt zu Kracauers unorthodoxem Denken, dass er - neben Klassikern wie Hegel, Burckhardt, Croce, aber auch bereits Blumenberg und Koselleck - vor allem literarische Autoren zu Rate zieht, die sich dem Phänomen und Problem des Zeitvergehens gewidmet haben: Proust und Joyce und vielen anderen. Und gewiss ist Kracauer einer der ganz wenigen Historiker, denen die Reflexionen des Historikers Tolstoi in seinem Epos "Krieg und Frieden" eine ernsthafte Überlegung wert sind.
Kracauers Geschichtsbuch liegt jetzt endlich in der zweiten, kommentierten Werkausgabe vor; Karsten Wittes sehr haltbare Übersetzung von 1971 wurde noch einmal durchgesehen und hier und da präzisiert; das überaus umfangreiche Nachwort enthält fast alles (und auch einiges mehr), was man zu Entstehungsgeschichte und Hintergründen des Werkes wissen muss. Ein heiteres Gegengewicht bieten dazu die Stellenkommentare der Herausgeberinnen, da sie offenbar unter der neuzeitlichen Arbeitshypothese eines Lesers verfasst wurden, der zwar eine hochgelehrte Studie zur Historiographie erwirbt, aber ansonsten mit seinen Kenntnissen kaum Volkshochschulniveau erreicht.
Es ist hübsch, wenn in einem solchen Buch Begriffe wie "Historismus" oder "Marx' Basis-Überbau-Theorie" oder "Pariser Commune" als erklärungsbedürftig gelten; ins Surreale führen dann aber Schnellsteinführungen à la "Pascal trug in seinem Leben und in seinen Schriften den Konflikt zwischen Politik und Wissenschaft einerseits und religiöser Hingabe und Weltflucht andererseits aus". Oder weltliterarische Kurse in Pillenform. Sterne: "Vorläufer des modernen epischen Romans (J. Joyce, V. Woolfe)"; Joyce: "wendet die Technik des sogenannten ,inneren Monologs' an"; Woolfe: "arbeitete ähnlich wie Joyce mit der Technik des ,inneren Monologs'"; Proust: "entwickelt die zukunftweisende Technik des inneren Monologs". Nun, wenn's der akademischen Wahrheitsfindung dient . . .
Schwierigkeiten hatte die akademische Welt mit Kracauer allemal. Es ist hochinteressant, noch einmal das im Anhang abgedruckte Protokoll einer der legendären Sitzungen der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" nachzulesen, auf der Kracauer 1966 das Kapitel "Time and History" vorstellte. Nicht nur rechtfertigt mancher Diskussionsbeitrag das Adjektiv "legendär" in durchaus doppeldeutigem Sinne; vor allem zeigen auch die hochklassigen Stellungnahmen deutlich, in welch seltsame Konstellation Kracauer im Deutschland der sechziger Jahre geraten war: Er stieß wohl auf große Sympathie, auf wirkliches Verständnis aber nicht und blieb auch bei seiner Wiederentdeckung nach dem Krieg der wissenschaftliche und intellektuelle Außenseiter, der er bereits in der Weimarer Republik gewesen war.
Man könnte hoffen, dass nach dem Ende des posthegelianischen und postmarxistischen Geschichtsglaubens Kracauers skeptische, nüchterne, aber eben auch so realistische Reflexionen über Geschichte in der Neuausgabe nun endlich zum richtigen Zeitpunkt kommen. Dann hätte sich der Außenseiter im dritten Anlauf endlich doch bemerkbar gemacht. Aber wahrscheinlich ist auch das schon wieder allzu viel an Geschichtsoptimismus.
WOLFGANG MATZ
Siegfried Kracauer: "Geschichte - Vor den letzten Dingen". Werke in neun Bänden, Bd. 4. Hrsg. von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2009. 654 S., geb., 78,- [Euro].
Olivier Agard: "Kracauer, le chiffonnier mélancolique". CNRS Éditions, Paris 2010. 391 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Außenseiter von Anfang an, mit dem die akademische Welt ihre Schwierigkeiten hat: Siegfried Kracauers unvollendet gebliebenes Buch über die Geschichte in einer neuen kommentierten Ausgabe.
Ein Außenseiter macht sich bemerkbar", so lautete der Titel jener Rezension, mit der Walter Benjamin 1930 "Die Angestellten" präsentierte, das Buch seines Kollegen und guten Bekannten Siegfried Kracauer. Seither wird Kracauer im Umkreis der zur "Frankfurter Schule" geadelten "Kritischen Theorie" gesehen, zu Nutz und Schaden gleichermaßen. Nach Krieg und Emigration war es Adorno, der die Schriften des Emigranten Kracauer zurück nach Deutschland brachte, doch zugleich prägte er eine - von Benjamin begonnene - Lesart, die dem eigentümlichen Denken und Schreiben seines Jugendfreundes in Teilen sehr kritisch gegenüberstand, in anderen sie im Sinne eigener Intentionen interpretierte.
Gerecht wurde die Frankfurter Lesart dem ganzen Kracauer nie. Benjamin nannte Kracauer einen "Lumpensammler, frühe - im Morgengrauen des Revolutionstages", und es ist so bezeichnend wie eigentümlich, dass die erste große Monographie, die der französische Germanist Olivier Agard unter dem Titel "Kracauer, le chiffonnier mélancolique" jetzt vorlegt, die Benjaminsche Formel, wenn auch unter Verlust der zeittypischen Revolutionsromantik, umstandslos wiederaufnimmt. Agards ansonsten ausgezeichnete Studie stellt Kracauer damit im Sinne des modernen Mythos als den "melancholischen Lumpensammler" dar, als den vielleicht Benjamin sich selbst sah, der aber gewiss nicht Kracauers Selbstverständnis entsprach.
Das seltsamste Schicksal war Kracauers letztem Buch beschieden, der unvollendeten, englisch geschriebenen Untersuchung "Geschichte - Vor den letzten Dingen", die 1969 im Original und 1971 auf Deutsch erschien, postum und nahezu ohne Wirkung. Wohl kaum kann man sich auch einen schlechteren Zeitpunkt vorstellen. In den späten sechziger und siebziger Jahren feierte das geschichtsphilosophische Denken seine größten post-hegelianischen Triumphe, wofür die intensiven Debatten über Benjamins Thesen "Über den Begriff der Geschichte" nur ein Beispiel sind. Das Vertrauen in die analytischen und politischen Kräfte der Geschichtsphilosophie war gerade in jenem Milieu noch fast ungebrochen, in dem nun der "frankfurterisch" gelesene Kracauer mit seiner ersten, ungeheuer verdienstvollen Werkausgabe im Suhrkamp Verlag erschien - in unmittelbarer Nachbarschaft von Adorno, Benjamin, Bloch und ihren Freunden.
Aber welches Buch hätte konträrer zu diesen Nachbarn stehen können als Kracauers skeptische Befragung von Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie? In einer Zeit, da die politisch verstandene Geschichtlichkeit als utopische Zukunftskraft zu gelten hatte, konnte die Frage, ob und wie Geschichte überhaupt beschreibbar, erzählbar, verstehbar sei, nur als antiquierte Scholastik gelten. So ist bis heute nicht klar geworden, was Kracauers Buch eigentlich ist: eine überaus geistreiche und intellektuell vollkommen unabhängige Reflexion zum geschichtlichen Bewusstsein.
Kracauer wendet sich sowohl gegen die Naivität des Historiographen, der glaubt, umstandslos erzählen zu können, "wie es denn gewesen sei", wie auch gegen die nicht kleinere des Philosophen, der die "Gesetze" des Weltlaufs herauspräparieren will. Dagegen versucht Kracauer, Geschichte - und das heißt: vergangene Welt, vergangene Zeit, vergangenes Leben, vergangenes Geschehen - als einen jener Bereiche zu fassen, "die noch eines Namens ermangeln und folglich übersehen und falsch beurteilt werden". Geschichte ist ein "Zwischenbereich", denn schon was ihr Gegenstand eigentlich sei, all das Vergangene, entzieht sich vollkommen einer wissenschaftlich präzisen Definition. Es passt zu Kracauers unorthodoxem Denken, dass er - neben Klassikern wie Hegel, Burckhardt, Croce, aber auch bereits Blumenberg und Koselleck - vor allem literarische Autoren zu Rate zieht, die sich dem Phänomen und Problem des Zeitvergehens gewidmet haben: Proust und Joyce und vielen anderen. Und gewiss ist Kracauer einer der ganz wenigen Historiker, denen die Reflexionen des Historikers Tolstoi in seinem Epos "Krieg und Frieden" eine ernsthafte Überlegung wert sind.
Kracauers Geschichtsbuch liegt jetzt endlich in der zweiten, kommentierten Werkausgabe vor; Karsten Wittes sehr haltbare Übersetzung von 1971 wurde noch einmal durchgesehen und hier und da präzisiert; das überaus umfangreiche Nachwort enthält fast alles (und auch einiges mehr), was man zu Entstehungsgeschichte und Hintergründen des Werkes wissen muss. Ein heiteres Gegengewicht bieten dazu die Stellenkommentare der Herausgeberinnen, da sie offenbar unter der neuzeitlichen Arbeitshypothese eines Lesers verfasst wurden, der zwar eine hochgelehrte Studie zur Historiographie erwirbt, aber ansonsten mit seinen Kenntnissen kaum Volkshochschulniveau erreicht.
Es ist hübsch, wenn in einem solchen Buch Begriffe wie "Historismus" oder "Marx' Basis-Überbau-Theorie" oder "Pariser Commune" als erklärungsbedürftig gelten; ins Surreale führen dann aber Schnellsteinführungen à la "Pascal trug in seinem Leben und in seinen Schriften den Konflikt zwischen Politik und Wissenschaft einerseits und religiöser Hingabe und Weltflucht andererseits aus". Oder weltliterarische Kurse in Pillenform. Sterne: "Vorläufer des modernen epischen Romans (J. Joyce, V. Woolfe)"; Joyce: "wendet die Technik des sogenannten ,inneren Monologs' an"; Woolfe: "arbeitete ähnlich wie Joyce mit der Technik des ,inneren Monologs'"; Proust: "entwickelt die zukunftweisende Technik des inneren Monologs". Nun, wenn's der akademischen Wahrheitsfindung dient . . .
Schwierigkeiten hatte die akademische Welt mit Kracauer allemal. Es ist hochinteressant, noch einmal das im Anhang abgedruckte Protokoll einer der legendären Sitzungen der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" nachzulesen, auf der Kracauer 1966 das Kapitel "Time and History" vorstellte. Nicht nur rechtfertigt mancher Diskussionsbeitrag das Adjektiv "legendär" in durchaus doppeldeutigem Sinne; vor allem zeigen auch die hochklassigen Stellungnahmen deutlich, in welch seltsame Konstellation Kracauer im Deutschland der sechziger Jahre geraten war: Er stieß wohl auf große Sympathie, auf wirkliches Verständnis aber nicht und blieb auch bei seiner Wiederentdeckung nach dem Krieg der wissenschaftliche und intellektuelle Außenseiter, der er bereits in der Weimarer Republik gewesen war.
Man könnte hoffen, dass nach dem Ende des posthegelianischen und postmarxistischen Geschichtsglaubens Kracauers skeptische, nüchterne, aber eben auch so realistische Reflexionen über Geschichte in der Neuausgabe nun endlich zum richtigen Zeitpunkt kommen. Dann hätte sich der Außenseiter im dritten Anlauf endlich doch bemerkbar gemacht. Aber wahrscheinlich ist auch das schon wieder allzu viel an Geschichtsoptimismus.
WOLFGANG MATZ
Siegfried Kracauer: "Geschichte - Vor den letzten Dingen". Werke in neun Bänden, Bd. 4. Hrsg. von Ingrid Belke unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2009. 654 S., geb., 78,- [Euro].
Olivier Agard: "Kracauer, le chiffonnier mélancolique". CNRS Éditions, Paris 2010. 391 S., geb., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Volker Breidecker erzählt von der verwirrenden Editionsgeschichte dieses innerhalb der Kracauer-Werkausgabe vorliegenden Bandes, um uns die kontroverse Rezeption der hier autobiografisch gespiegelten intellektuellen Biografie Kracauers vor Augen zu führen. In diesem Zusammenhang verweist er auf die fragwürdige Streichung eines Vorworts des Kracauer-Freundes Paul Oskar Kristeller durch die Herausgeberin Ingrid Belke. Ein Vorgang, der laut Breidecker ins neuralgische Zentrum des Buches führt, zu seinen avantgardistischen Qualitäten. Dankbar zeigt sich der Rezensent allerdings für eine "revidierte, eindeutigere" Neuübertragung von Kracauers klarer angelsächsischer Prosa, für die Chance, Kracauers in Korrespondenz mit Leo Strauss, Aby Warburg oder etwa Hans Blumenberg entwickelte Auseinandersetzung mit dem prekären Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen oder mit dem Bild des Historikers als eines Fremden zu verfolgen. So schwierig das klingt, eigentlich, so Breidecker, sei alles "wunderbar klar beschrieben und geschrieben" in diesem Buch. "Man muss sich nur darauf einlassen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Geschichte - Von den letzten Dingen vollzieht in erster Linie meta-historiografische und geschichtsphilosophische Denkbewegungen. Nachdrücklich sucht Kracauer den Dialog mit von ihm bewunderten Historikern wie Jacob Burckhardt oder Philosophen wie Hans Blumenberg. An vielen Stellen scheint das Geschichtsbuch modern und unmittelbar anschlussfähig an die geschichtstheoretischen Debatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.« Simon Rothöhler Cargo